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Beten in der Pause – Schulen im Stresstest

Debattenstück erschienen in der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (06.07.2017) und – in aktualisierter Form – bei FAZ.NET (13.07.2017)

Von Martin Benninghoff

Erst der Streit um Kruzifixe in Klassenräumen, jetzt der Zwist um islamische Gebete in der Schule – wie im Falle eines Wuppertaler Gymnasiums. Überfordern solche Konflikte Lehrer, Eltern und Schüler? Wie religiös darf Schule sein?

Als die paar Zeilen, die eigentlich nur für das Lehrerkollegium gedacht waren, den Weg in die sozialen Netzwerke fanden, brach ein Sturm der Entrüstung über die Wuppertaler Schulleiterin Christiane Genschel los. Fernsehsender standen vor der Tür des Gymnasiums Johannes Rau, Reporter versuchten, Schüler auf dem Schulhof zu interviewen, und es hagelte Zuschriften. Was war geschehen? Die Schulleitung hatte „zunehmend beobachtet, dass muslimische Schülerinnen und Schüler im Schulgebäude für andere deutlich sichtbar beten, signalisiert durch rituelle Waschungen in den Toiletten, das Ausrollen von Gebetsteppichen, das Einnehmen von entsprechenden Körperhaltungen“.

In einem Schreiben an die Lehrer schrieb sie: „Das ist nicht gestattet.“ Es endet mit der Aufforderung, betende Schüler freundlich auf das Verbot hinzuweisen, die Namen festzustellen und der Schulleitung zu melden. Für Empörung war gesorgt: Der proislamische Aktivist Martin Lejeune verbreitete die Nachricht im Netz („Lehrer sollen ihre Schüler bespitzeln“), ebenso die regierungsnahe türkische Zeitung „Daily Sabah“ („Deutsches Gymnasium bespitzelt betende Schüler“), der deutsche islamfeindliche Internetblog „Politically Incorrect“ feierte dagegen die Schulleitung mit den Worten: „Wuppertal: Schule verbietet Islam-Kampfbeten.“

Die Schulleiterin stand unter immensem Druck. „Im Moment wünschen wir uns in erster Linie Ruhe für unsere Schule, um schulintern nachhaltige Klärung zu ermöglichen“, schrieb Genschel damals in einer E-Mail. Seitdem sind Monate vergangen, Gespräche hat es gegeben, aber bislang noch kein Ausweg. Genschel hofft, „dass es im Laufe des Schuljahres 2017/18 eine einvernehmliche Lösung geben wird“, teilte sie am Mittwoch mit. Geklärt werden muss die Frage, ob religiöse Neutralität und der Wunsch, in der Schule zu beten, zusammenpassen. Doch gibt es Lösungen, die alle Beteiligten zufriedenstellen? Und sind die Schulen überhaupt in der Lage, diesen Stresstest zu bestehen, der sich im Falle Wuppertals schon über Monate zieht?

„Die Schulleitungen sind zunehmend überfordert“

„Die Schulleitungen sind zunehmend überfordert“, sagt Margret Rössler, Lehrerin im Ruhestand. Sie arbeitete 18 Jahre als Schulleiterin an einer Düsseldorfer Gesamtschule, an der rund ein Drittel der Schüler muslimisch waren. Mit Sorge sieht sie eine „Überfrachtung“ der Schulen mit Herausforderungen, die eine gestiegene religiöse Vielfalt in der Schülerschaft zwangsläufig mit sich bringt. „Mir liegt vor allem die religiöse Neutralität der Schule am Herzen“, sagt sie, eine Neutralität, die durch offensichtlich betende Schüler in Frage gestellt werde.

Heißt neutral aber, dass die Schule ein religionsfreier Raum ist? Eine Ansicht, die der Rechts- und Islamwissenschaftler Mathias Rohe von der Universität Erlangen-Nürnberg so nicht stehenlassen möchte: „Die Sichtbarkeit von Religion entspricht durchaus unserer religionsoffenen Säkularität.“ Das gelte auch für Schulen. Ein Betverbot sei „grundsätzlich nur bei konkreter Gefährdung des Schulfriedens zulässig. Eine solche Gefährdung kann in einer demonstrativen Inanspruchnahme öffentlichen Raumes (in der Schule) zu Lasten des freien Umgangs liegen“.

Das zu beurteilen bleibt an der Schulleitung hängen. Denn ob und wann der Schulfrieden gestört ist, müssen die Rektoren, die das Hausrecht haben, beurteilen. Die Ermessensentscheidung bietet reichlich Raum für Ärger – mit Schülern, Eltern, Behörden und gelegentlich sogar vor Gericht: Welches Gebet ist erlaubt, welches verboten? Ist das Sich-Bekreuzigen erlaubt? Und der Gebetsteppich verboten? Was ist, wenn fromme Muslime ihre rituellen Fußwaschungen auf der Schultoilette vornehmen?

Bedrängt durch Gebetsteppiche

Im Wuppertaler Fall fühlte sich Schulleiterin Genschel durch das deutlich sichtbare Beten und die ausgerollten Gebetsteppiche bedrängt. Eine Haltung, die Josef Kraus, langjähriger Rektor eines Landshuter Gymnasiums und Vorsitzender des Deutschen Lehrerverbandes, gut versteht: „Die Grenze ist dort, wo andere Schüler die rituellen Akte wahrnehmen. Ich hätte ebenso entschieden wie die Schulleiterin in Wuppertal.“

Den Einwurf des Rechtswissenschaftlers Rohe, dass es einen Unterschied mache, ob die Gebetsteppiche tatsächlich störten oder etwa am Ende eines Flures lägen, lassen Lehrer nicht gelten. „Das ist völlig realitätsfern“, sagt die ehemalige Schulleiterin Rössler. Viele Schulen hätten ohnehin schon zu wenig Platz. Wo „Schüler in Pausen eng an eng in jeder Ecke stehen, ist das öffentliche Zurschaustellen von Religion unangebracht.“ Im Wuppertaler Fall ist kaum zu rekonstruieren, wie stark sichtbar und möglicherweise provokativ die Schüler gebetet hatten. Der Zentralrat der Muslime in NRW sieht bei den betroffenen Schülern keine Absicht, zu provozieren. Und auch Mohamed Abodahab, Sprecher eines Verbandes von 20 Wuppertaler Moscheen, weiß nichts von „Provokationen“. „Demonstratives Beten“ lehne er ab, das sei „überhaupt nicht hilfreich“. Was aber ist „demonstrativ“, was nicht?

Gefährdeter Schulfrieden

Konflikte wie diese gehen auf Yunus M. zurück, einen Berliner Schüler, der auf dem Flur des Diesterweg-Gymnasiums gebetet hatte – dem Wuppertaler Fall also ganz ähnlich. Die Schulleiterin verbot ihm das. Daraufhin zog M. vor Gericht, verschiedene Instanzen kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen, bis das Bundesverwaltungsgericht 2011 urteilte: Die Glaubensfreiheit des Schülers berechtige ihn zwar grundsätzlich, während des Besuchs der Schule außerhalb der Unterrichtszeit ein Gebet zu verrichten. Diese Berechtigung finde allerdings ihre Schranke in der Wahrung des Schulfriedens.

Bereits in den neunziger Jahren hatte das Bundesverfassungsgericht die Rolle der Schulleitungen gestärkt, zunächst eher unabsichtlich: Die Richter erklärten die generelle bayerische Vorschrift für verfassungswidrig, wonach in jedem Klassenzimmer ein Kruzifix hängen sollte. Auf diese Entscheidungen berufen sich noch immer die Anhänger eines strikten Neutralitätsgebotes in Schulen. De facto allerdings wurde daraus die Regelung, dass bayerische Schulen nur dann das Kruzifix abhängen, wenn es Elternprotest gibt. Dann entscheidet die Schulleitung. Seitdem gab es keine Konfliktfälle mehr.

Das Bundesverfassungsgericht ging 2015 aber noch einen Schritt weiter: Es hob das pauschale Verbot des Kopftuches (und anderer „religiöser Bekundungen“) für Lehrerinnen an öffentlichen Schulen in Nordrhein-Westfalen auf. Neu daran war, dass Verbote künftig begründet sein mussten, es reicht nicht mehr aus, sie pauschal auszusprechen. Wer also ein Kopftuch verbieten will, muss nachweisen, dass es den Schulfrieden konkret gefährdet. Auch dieser Nachweis – ähnlich wie beim Beten – ist Sache der Schulleitungen.

Keine einfache Aufgabe für die Rektoren, zumal die Interpretation des Kopftuches so bunt ist wie die Stoffe selbst: Die ehemalige Düsseldorfer Schulleiterin Rössler sieht das Kopftuch skeptisch. Es könne ein abwertendes Frauenbild dahinterstecken. Andere Erfahrungen hat die Schulleiterin der Refek-Veseli-Schule in Berlin, Ulrike Becker, gemacht: „Es gibt so viele verschiedene Motive. Ich kenne Mütter im Mini-Rock, deren Töchter tragen Kopftuch und langen Mantel. Andere tragen es vor allem aus Mode.“ Sie fordert, mit den Schülern zu reden. Der Schulfrieden sei vor allem dann gestört, „wenn es keinen Dialog gibt“. Die Sekundarschule im Berliner Multi-Kulti-Kiez Kreuzberg besuchen 350 Schüler – davon haben rund 85 Prozent eine Migrationsgeschichte in der Familie. Einen Gebetsraum hat die Schule nicht.

„Womit kann man besser provozieren als mit Religion?“

Der Wuppertaler Integrationsexperte Hans-Jürgen Lemmer, Leiter des Ressorts Zuwanderung und Integration bei der Wuppertaler Stadtverwaltung, sieht in der Pubertät ein wichtiges Motiv fürs Kopftuch oder das rituelle Gebet in der Schule: „Womit kann man besser provozieren als mit Religion heute? Das geht jedenfalls besser als mit langen Haaren.“

Reicht also Gelassenheit, wächst sich solche Frömmigkeit aus wie pubertäres Gebaren? Ganz so einfach scheint es nicht zu sein. Zu tief ist der Riss, der sich bei dieser Frage sogar durch die Lehrerkollegien zieht: Während ein Teil der Pädagogen die Schulen am liebsten völlig von Religion „befreien“ würde, halten religionsfreundlichere Lehrer, Politiker und Wissenschaftler dagegen.

Wie lassen sich solche Konflikte lösen? Islamverbände wie der Zentralrat der Muslime schlagen neutrale Andachtsräume vor, wie es sie zum Beispiel an Flughäfen und vereinzelt an Universitäten gibt. Und auch im Wuppertaler Fall hat die dortige Schülervertretung den Antrag gestellt, einen Rückzugs- oder Ruheraum einzurichten. Auf Wunsch der Eltern sei dieser Antrag jedoch vertagt worden, teilte Dagmar Groß, Pressesprecherin der Bezirksregierung Düsseldorf, am Mittwoch auf Anfrage von FAZ.NET mit. Es gebe unter den Eltern und Lehrern „deutlichen Diskussionsbedarf“. Soll heißen: Auf einen Andachts- oder Ruheraum können sich die Beteiligten bisher nicht einigen.

Das Beispiel Dortmund zeigt, dass so etwas schiefgehen kann: An der Technischen Universität gab es massiven Streit, weil Muslime den „Raum der Stille“ angeblich für ihre Zwecke umfunktioniert hatten. Der Raum wurde geschlossen. Lehrer wie Josef Kraus halten einen solchen Raum zwar auch in Schulen für denkbar, „allerdings habe ich Sorge, ob es den muslimischen Schülern beziehungsweise deren Eltern vermittelbar ist, dass es dort auch christliche und jüdische Symbole gibt“.

„Das Bedürfnis muslimischer Schüler besser verstehen“

Ein positives Beispiel in dieser Sache ist die Universität Bremen: 2012 wurde hier ein „Raum der Stille“ eingerichtet, in dem es keine religiösen Symbole gibt. Der Islamische Hochschulbund, die Katholische Hochschulgemeinde und die Evangelische Studierenden-Gemeinde buchen den Raum regelmäßig. Alle religiösen Gegenstände wie Gebetsteppiche und Rosenkränze müssen beim Verlassen wieder in dafür vorgesehene Schubladen gesteckt werden. Konflikte gab es nach Auskunft der Uni bislang keine.

Die Konrektorin der Uni, Yasemin Karakasoglu, hält das auch in Schulen für machbar: Was das Beten angehe, müsse es doch möglich sein, dem gläubigen Schüler eine „Möglichkeit aufzuzeigen, dies an einem sauberen, ruhigen Ort zu verrichten“. Voraussetzung sei jedoch, „sein Bedürfnis zu verstehen“. Dazu gehöre, „die religiöse Praxis des Islams nicht nach Maßstäben zu bewerten, die sich an christlichen Kulthandlungen orientieren“. Das sieht Josef Kraus anders: „Millionen von christlichen Schülern kommen seit Jahrzehnten gut damit klar, dass es kein individuelles, öffentliches Beten in der Schule gibt.“

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