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Nicht ohne mein Kopftuch

Teil 1 der Mini-Serie zu muslimischen Schülern in Deutschland (erschienen am 25.04.2018 bei FAZ.NET)

Von Martin Benninghoff und Martin Franke, Wuppertal

Die Debatte um ein Kopftuchverbot ist zurück: Sollten Schülerinnen unter 14 Jahren eine islamische Kopfbedeckung tragen dürfen? Politiker sind sich uneins – was sagen die Betroffenen dazu? Teil 1 der Mini-Serie.

Das Thema Kopftuchverbot für Schülerinnen unter 14 Jahren spaltet Politik und Öffentlichkeit in Deutschland. Die Integrationsstaatssekretärin von Nordrhein-Westfalen, Serap Güler (CDU), spricht sich für ein Verbot aus, weil sie die „freie Entfaltung des Kindes“ durch ein Kopftuch gefährdet sieht. Der deutsch-israelische Psychologe Ahmad Mansour sagt, dass Kinder mit Kopftuch sexualisiert würden. Und auch FDP-Chef Christian Lindner ist dafür, dass sich heranwachsende Teenager vor der Pubertät nicht das Haar verdecken dürfen, da dies in die Persönlichkeitsentwicklung eingreife.

Anderer Meinung ist dagegen die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung Annette Widmann-Mauz (CDU). Sie sagt, dass ein Verbot nicht das „Problem, das dahintersteht“, löse. Der Zeitung „Welt“ sagte sie dazu: „Wichtig ist doch, dass wir uns fragen, wie wir an diese schwierigen Fälle rankommen.“ Die aktuelle Debatte, die vor wenigen Wochen in Österreich entbrannt ist, wird nun stellvertretend im bevölkerungsreichsten Bundesland Deutschlands geführt. Nordrhein-Westfalens Integrationsminister Joachim Stamp von der FDP will ein Kopftuchverbot prüfen, Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) unterstützt diesen Kurs. Aus der Sicht des Islamwissenschaftlers Mouhanad Khorchide mit gutem Grund: „In den meisten Fällen beeinflusst der Vater das Mädchen subtil dazu, Kopftuch zu tragen“, sagt der Leiter des Zentrums für islamische Theologie der Universität Münster.

Doch was sagen eigentlich die Schülerinnen und Schüler selbst dazu? Bisher wurden sie von Seiten der Politik kaum gefragt. Auch nicht, welche Motive es für das Tragen des Kopftuches gibt und ob dies freiwillig geschieht. Zahlen, wie viele Mädchen überhaupt von einem Verbot betroffen wären, sind nicht vorhanden. Sicher ist: Es gibt eine Vielzahl von Schülerinnen mit Kopftuch schon in der fünften Klasse, wie am Städtischen Gymnasium in Wuppertal zu sehen ist. Von den 795 Schülern ist rund jeder vierte muslimisch, etwas mehr als die Hälfte davon sind Mädchen. Aus den Aussagen (insbesondere) der Schülerinnen zum Kopftuch lassen sich verschiedene Faktoren ablesen, aber auch ein Junge hat seine Meinung dazu.

Kopftuch – freiwillig oder erzwungen?

Die 12 Jahre alte Mara (alle Namen der Schülerinnen und Schüler geändert) hat von der Debatte um das Kopftuch gehört, sie ist schon in jungen Jahren damit vertraut, dass das Thema in Deutschland und nicht nur dort die Gemüter erhitzt und kontrovers diskutiert wird. Sie selbst ist seit der fünften Klasse verschleiert, jetzt geht sie in die siebte Klasse. Sie sagt: „Viele denken, dass wir das aus Zwang machen. Wir tun es freiwillig zum Dienst an Gott.“ Wenn eine muslimische Frau möchte, könne sie das Kopftuch jederzeit wieder abnehmen, so Mara. Spätestens nach der Hochzeit aber sollte sie sich bedecken, „weil man ja schon einen Mann hat“.

„Spätestens“, wirft ihr Klassenkamerad Ali ein, der alleine unter lauter Mädchen den Reportern Rede und Antwort steht. Für muslimische Frauen gebe es keine richtige Zeit, um mit dem Kopftuchtragen zu beginnen, sagt er. Aber auch er bemüht ein ähnliches Argument wie Mara: „Wenn man einen Mann hat als Frau, dann können ja andere Männer die Haare sehen, und das ist wegen der Religion nicht gut.“

Der Junge aus der siebten Klasse meint die Regeln des Koran zu kennen. Gefragt, ob es auch für Männer im Islam Kleidungsvorschriften gibt, sagt er: „Die Männer dürfen sich fast überall so kleiden, wie sie wollen. Beim Beten sollte man längere Hosen tragen, das Knie muss bedeckt sein. Männer dürfen die Haare zeigen.“ Ist das nicht ungerecht? Die Mädchen lachen, ja, ein wenig unfair sei das schon, aber nach genauerem Nachdenken auch in Ordnung. Weil Männer und Frauen verschiedene Rollen im Leben bekleideten und, wie ein anderes Mädchen aus der siebten Klasse sagt, „eigene Prüfungen“ zu bestehen hätten. Das regele so der Koran.

So klar Sahra zum Beispiel der Meinung ist, dass ein Kopftuch laut Koran Pflicht ist, so locker nehmen Mädchen wie sie die Regel – noch zumindest: „Manche Leute in Deutschland denken ja, dass muslimische Eltern total streng sind. Aber das ist nicht so. Die sind genauso wie deutsche Eltern“, sagt sie. „Meine Eltern wünschen sich das schon, aber ich habe immer gesagt, erst später. Weil ich will studieren. Eine Freundin von mir hat das Kopftuch auch wieder ausgezogen in der Schule, weil die Lehrer sie so komisch angesehen haben. Viele Leute denken halt, nur weil man ein Kopftuch hat, ist man ein Terrorist. Das ist nicht okay.“

Erstes Motiv: Mama trägt Kopftuch

Ist die Wahl zwischen Freiwilligkeit und Zwang überhaupt die richtige, um den Motiven auf den Grund zu kommen? Oder ist es nicht vielmehr der Alltag in den Familien, der das Kopftuchtragen irgendwann attraktiv macht, ohne dass die Kinder dies in reiner Freiwilligkeit tun oder andersherum gewaltsam gezwungen werden? Auch der Islamwissenschaftler Khorchide sagt: „Wir befinden uns in einer grauen Zone, in der weder von Freiwilligkeit noch von Unfreiwilligkeit gesprochen werden kann.“

Ein Vorbild in Sachen Kopftuch sind zweifellos die Mütter und Schwestern. aus der fünften Klasse wird oft gefragt, warum sie schon mit zehn Jahren ihr gesamtes Haar verdecke. „Ich wollte Kopftuch tragen, weil meine Mutter das auch tut. Ich habe gewartet, bis ich in die fünfte Klasse gekommen bin.“ Ein Kopftuchverbot fände Sara daher schade, sie sagt: „Ich darf nicht gezwungen werden, das auszuziehen.“ Ein anderes Mädchen aus der neunten Klasse beschreibt, wie gerne sie es schon in der sechsten Klasse, also mit elf Jahren, getragen hätte. Ihr Vater habe es ihr damals jedoch ausgeredet, weil es zu früh sei. Auch das eine Argumentation, die immer wieder zu hören ist: Das Kopftuch ist demnach eine Sache, die fürs Erwachsenwerden steht, so wie im Auto-vorne-sitzen oder die bedingte Geschäftsfähigkeit. Zumindest in den Erzählungen ihrer Kinder achten manche Eltern darauf, dass ihr Nachwuchs nicht zu früh zum Kopftuch greift, um den Müttern und großen Schwestern nachzueifern.

Die 14 Jahre alte Amira aus der neunten Klasse wollte das Kopftuch gerne tragen, auch wenn ihre Mutter auf den richtigen Zeitpunkt hinwies. „Alle meine Geschwister tragen das, und irgendwie war ich auch dafür bereit. Das gefällt mir einfach.“ Zuhause und in ihrem direkten Umfeld stärke sie das Kopftuch, sie fühlt sich zugehörig. Außerhalb dieser kleinen Welt fühle sie sich manchmal aber auch ausgegrenzt, sagt sie. Für ein Schulpraktikum in einer Arztpraxis hätte sie das Kopftuch ausziehen müssen, das wollte die Chefin der Praxis, das Praktikum musste Laila woanders machen. Junis, die in die siebte Klasse geht, will mit dem Kopftuch noch bis zum Ende des Studiums warten, damit es einfacher für sie wird. Sie erzählt von einer Freundin an einer anderen Schule, die das Kopftuch wieder ausgezogen habe, weil sie sich von den Lehrern nicht akzeptiert fühlte.

Zweites Motiv: Einfluss von Imamen und Vätern

Am Wochenende gehen einige der Schüler in nahegelegene türkische und arabische Moscheen. Die Mädchen beten mit ihren Müttern, die Jungen mit ihren Vätern oder Brüdern. Samstags und oder sonntags besuchen die meisten von ihnen zusätzlich zur regulären Schule den Arabischunterricht oder eine Koranschule. Dort lesen sie das heilige Buch des Islam, lernen Suren auswendig und übersetzen sie ins Deutsche. Ihr Wissen über die Religion beziehen sie aus solchen Stunden, von Religionsgelehrten und ihren Eltern. Islamischen Religionsunterricht gibt es am Städtischen Gymnasium Wuppertal-Vohwinkel bisher nicht, die muslimischen Kinder gehen in einen Philosophiekurs, in dem sie auch über das Christen- und Judentum, Buddhismus und Hinduismus informiert werden. Allerdings nur wenig über alternative Interpretationen des Islam in Sachen Kopftuch erfahren.

Dementsprechend gefestigt sind die Auffassungen der Mädchen und jungen Frauen, auch wenn sie sich viele Gedanken machen: „Der Koran beschreibt eindeutig, dass eine Frau ein Kopftuch tragen muss“, sagt die 15 Jahre alte Yara, die verschleiert ist. Ihre Freundin Mayla, die ihr schwarzes Haar offen zeigt, fügt hinzu, dass sie eine deutsche Übersetzung des Koran in der türkischen Moschee in Wuppertal gelesen habe. Sie wisse, dass es verschiedene Übersetzungen und damit Interpretationen des Buches gebe. Bei Uneindeutigkeiten frage sie deshalb den Imam oder ihre Eltern. Die Deutsche Islamkonferenz schreibt in einem Beitrag zum Schwerpunkt Kopftuch, dass keine der drei Suren, die hauptsächlich zur Begründung der Kopfverschleierung angeführt werden, eine explizite Vorschrift für ein Kopftuch gebe. Die befragten Schülerinnen erreichen solche Botschaften offenbar nur ungenügend. „Wir richten uns eher nach unserer Umgebung, deswegen würde ich nach meinen Eltern gehen“, sagt Mayla, deren Eltern aus Jerusalem stammen. Viele meinen, der Beginn der Pubertät sei der richtige Startpunkt fürs Kopftuchtragen.

Auch im Arabischunterricht außerhalb der Schule wird über das Kopftuch gesprochen, erzählt ein Mädchen aus der neunten Klasse: „Wir haben öfter darüber geredet, was das eigentlich für Wirkungen hat und was man da macht. Im Koran steht: Wir sollen unsere Schönheit bedecken, das soll nur unser Mann sehen.“ Mit anderen Worten: Damit andere Männer sich nicht angezogen fühlen, ist ein Kopftuch notwendig, so das Argument. Sie sagt auch: „Wenn wir gleich wären, dann wäre die Vergewaltigungsrate an Frauen nicht so viel höher als bei Männern. Daran merkt man, dass die Frauen sich nicht so leicht wehren können.“

Allerdings zeigt sich auch hierbei, in welchem Konfliktstress die Mädchen stehen. So sehr sie solche patriarchalen Rollenbilder wiedergeben und sogar verteidigen, so wenig wollen sie sie in jeder Alltagssituation befolgen. „Frauen sollten aber die gleichen Berufe ergreifen können“, sagt Mayla. Und Yunis aus der siebten Klasse sagt glasklar: „Aber ich würde meinem Mann schon sagen, dass er nicht das Sagen hat, und würde ihm keinen Kaffee bringen, weil Gleichberechtigung ist mir wichtig, mein Mann kann sich selbst einen Kaffee nehmen.“ Da muss auch Ali lachen.

Die Mädchen leben mit Widersprüchen, ihr Grundtenor: Das Kopftuch sei einerseits religiöse Pflicht, anderseits sei es auch völlig in Ordnung, sich dagegen zu entscheiden. Keines der befragten Mädchen verbindet negative Gefühle mit dem Kopftuch, mit Ausnahme eines Mädchens aus der neunten Klasse, das eines Tages nach der Hochzeit ebenfalls das Kopftuch tragen möchte oder soll. Aber erst, nachdem sie „ihr Leben gelebt“ habe, wie sie sagt. Bis dahin wolle sie eben „Shoppen gehen“ und sich nicht einengen lassen. Wobei ihr ihre verschleierten Freundinnen widersprechen, für sie sei das Kopftuch Teil des Lebens, das sie nicht einschränke.

Drittes Motiv: Halt und Struktur im Leben

Das Kopftuch ist zudem ein Zeichen der Gruppenzugehörigkeit. Die Identifikation kann sich sowohl an der nationalen Identität der Eltern orientieren, als auch an einer bestimmten Religionsgemeinschaft. Die befragten Kinder denken und sprechen auf Nachfrage in Kategorien wie „die Deutschen“ und sagen auch „wir Marokkaner“, obwohl sie in den allermeisten Fällen in Deutschland geboren sind. Die Kinder sind durch ihre Eltern mit deren Herkunftsländern stark verbunden und fahren jedes Jahr in die Türkei, den Libanon, die Palästinensergebiete oder nach Marokko in den Urlaub. Darüber hinaus fühlen sie sich aber auch als Wuppertaler oder Deutsche, wobei die lokale Identifikation wichtiger scheint als die nationale. Aischa aus der fünften Klasse empfindet die Debatte über ein Kopftuchverbot offenbar sogar als so ausgrenzend, dass sie sich motiviert fühlt, zu sagen, wie gerne sie doch in Deutschland bleiben möchte, weil es „hier so schön“ sei.

Wenn eine Mutter nur mit Kopftuch auf die Straße geht, wie eine Siebtklässlerin erzählt, ist das ein Vorbild für sie. Für sie ist das Stück Stoff aber auch ein identitätsstiftendes Merkmal: „Ich habe mich in meiner Personalität gestärkt und wertgeschätzt gefühlt. In dem Moment habe ich zu einer Gruppe gehört“, sagt sie. Für ein anderes Mädchen bedeutet das Kopftuch vor allem Halt und Bewährtes: „Das bringt mein Leben in ein bisschen Struktur, wenn ich etwas habe, woran ich mich halten kann.“ Feste Regeln im Alltag, einen ungefähren Leitfaden im Leben, auch die Verschleierung der Haare als Teil der islamischen Gebote gehören für sie dazu.

Die gemeinsamen Gebete in den Moscheen werden als identitätsstiftend und gruppenstärkend erlebt, ein Mädchen erzählt von einer kleinen Feier in der Familie, als sie begonnen habe, das Kopftuch zu tragen. In solchen Fällen hat die Verhüllung sogar etwas von einem Initiationsritus, von einer Art Tor in die Erwachsenenwelt, das das Kind mit einigem Stolz erfüllt. Wie groß müssen die Nöte sein, wenn ein solches Mädchen vielleicht in wenigen Jahren mit den strikten und konservativen Regeln in Konflikt gerät? Eine Lehrerin am Städtischen Gymnasium erzählt von früheren Schülerinnen, die zwar Kopftuch trugen, aber auch Sex hatten oder sogar abtrieben – zuhause mussten sie dann weiterhin den Schein von Keuschheit wahren.

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