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Was „Multikulti“ eigentlich bedeutet

Der Politologe Claus Leggewie hat in der heutigen Süddeutschen Zeitung einen lesenswerten Beitrag geschrieben, der die Fronten zwischen Multikulturalisten und Leitkulturalisten aufbricht. Wer den Beitrag liest, muss sich aber schon die Mühe machen, sich nicht von den alten Kampfbegriffen wie „Multikulti“ beeindrucken zu lassen. Multikulti meint demnach nicht Beliebigkeit im Umgang mit teilweise antiquierten Traditionen im Namen von Religion oder was auch immer; Multikulti meint vielmehr eine „republikanische Integration von Verschiedenheit“. Und wenn man diesen Begriff von Multikulti zugrunde legt, wird schnell klar, dass es keine Alternative gibt. Ich bin sicher, es wird nur noch ein paar Jahre dauern, bis sich auch der Mainstream der Gesellschaft in Deutschland daran nicht mehr stört (wie anderswo schon heute). Richtig ist auch die Aufassung, dass die Feststellung, der Islam sei für alle Zeiten ein Fremdkörper in Europa, in Wahrheit den Islamisten in die Hände spielt, die genau das gleiche behaupten.

Aber bitteschön, erst einmal Leggewie lesen:

Von Claus Leggewie

Dass Multikulti gescheitert sei, hören wir seit Jahren, zuletzt von der Bundeskanzlerin, die das übrigens nur werden konnte, weil ’68 und ’89 geklappt haben. Gleichberechtigung der Frau gelungen, Integration der Einwanderer gescheitert? Auch wenn derzeit aus allen Rohren geschossen wird: Multikulti lebt und wird auch noch gewinnen.

Der Importeur des Begriffs (ich habe den Namen der Band des Trompeters Don Cherry 1990 als Titel eines Buches verwendet) darf vielleicht klarstellen, was Cohn-Bendit, aber auch Heiner Geißler und andere seinerzeit unter Multikulturalismus verstanden haben. Nämlich nicht, wie Angela Merkel vor der jauchzenden JU zu formulieren beliebte: „Jetzt machen wir hier mal Multikulti und leben so neben’ander her und freuen uns über’nander“ (so der Original-Ton). Wer die frühen Plädoyers und viele nachfolgende Studien gelesen hat, weiß, dass niemand Beliebigkeit oder die Scharia gefördert, sondern die republikanische Integration der Verschiedenheit gefordert hat.

Dazu zählten unter anderem die Abkehr von einem völlig antiquierten Staatsangehörigkeitsrecht, eine zukunftsfeste Arbeits- und Sozialpolitik, die Gewährung der im Grundgesetz garantierten Religionsfreiheit und natürlich Bildungsanstrengungen aller Art. Die Probleme, die heute unter den Stichwörtern Parallelgesellschaft und Schulversagen notiert werden, wurden von den Befürwortern von Multikulti ziemlich genau vorhergesagt. Sie waren die wirklichen Realisten.

Adressaten ihrer Kritiken und Vorschläge waren die Partei Helmut Kohls und Teile der ebenso einwanderungsfeindlichen SPD, die genau das praktiziert haben, wofür die Kohl-Nachfolgerin Merkel heute „Multikulti“ verantwortlich macht: nämlich mit muttersprachlichem Unterricht, mit aus der Türkei eingeflogenen Hodschas, mit prekären Arbeitsverhältnissen und verweigerten Bürgerrechten „so neben’ander herzuleben“ – weil man sich eingebildet hatte, die Gastarbeiter würden alsbald nach Hause fahren und nach erfolgtem Anwerbestopp ihre Familien nicht nach Deutschland holen. Phantasterei war das.

Jetzt regt sich die Kanzlerin auf, um abzulenken von mindestens zwanzig Jahren Versäumnissen der Einwanderungs- und Integrationspolitik, die ihre Partei verschuldet hat. Die Union gleicht Eltern, die über ihre pubertierenden Kinder meckern und vergessen, dass sie selbst die Erziehungsberechtigten waren. Und da sie (nicht irgendeine Multikulti-Partei) jahrelang die Zügel schleifen ließ, schlägt sie jetzt autoritäre Maßnahmen gegen „Integrationsverweigerer“ vor, an deren Praktikabilität ernsthaft niemand glaubt.

Es gibt in der CDU Menschen wie Armin Laschet, den früheren Integrationsminister von Nordrhein-Westfalen, und Maria Böhmer, die für das Thema zuständige Staatsministerin im Kanzleramt. Aber es ist eine Schande, dass diese beiden, die es ja besser wissen, auch vor dem Sarrazinismus einknicken und es Industrievertretern überlassen, den populistischen Blödsinn von Horst Seehofers Forderung nach einem Einwanderungsstopp aus anderen Kulturkreisen als solchen zu kennzeichnen.

Die Bundesrepublik Deutschland, die es in den 1990er Jahren mit ungeregelter Einwanderung geschafft hat, selbst die Vereinigten Staaten zu übertreffen, ist netto längst zum Auswanderungsland geworden. Nicht zuletzt, weil Menschen, die hier ihre Bildung erworben haben, nun mit guten Qualifikationen quasi „zurück“ gehen.

Das ist auch nur konsequent, wenn man die Stimmung eines Landes ermisst, das sich mit einem Panik-Titel wie „Deutschland schafft sich ab“ präsentiert, das seine schlechte Laune ausstellt und neue Einwanderer regelrecht abschreckt.

Nur: Wer füllt dann Hunderttausende freie Ingenieurs- und Facharbeiter-Stellen aus, wer pflegt eines Tages die geifernden Blogger, die jetzt zur Hatz auf die Multikulti-Phantasten blasen?

„Die gestörte Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft lähmt die schöpferischen Potenzen unserer Gesellschaft und behindert die Lösung der anstehenden lokalen und globalen Aufgaben. Wir verzetteln uns in übelgelaunter Passivität und hätten doch Wichtigeres zu tun für unser Leben, unser Land und die Menschheit.“ Dieser Text dürfte Angela Merkel bekannt vorkommen: Es ist der Gründungsaufruf des Neuen Forums von 1989. Aber er passt auf das Sarrazin-Land von heute.

Abkehr von Schlagworten

Das Bürgertum mobbt heute Einwanderer und vermeintliche Multikulti-Phantasten; das ist das Ergebnis der Sarrazin-Debatte. Nach der verweigerten Integration der Juden in den Alltag der deutschen Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert versagt es damit – ausgerechnet von der „christlich-jüdischen Leitkultur“ schwadronierend – womöglich ein zweites Mal, nun bei der Anerkennung des säkularen Islams als Teil Deutschlands.

Wer den Islam im Westen pauschal zum Fremdkörper erklärt, betreibt das Geschäft der Islamisten, die genau dasselbe behaupten.

Die Union Helmut Kohls war die Europa-Partei, heute sind dies die Grünen. Deutsche Leitkultur statt Multikulti: Das wäre ein Verfassungsbruch. Die Normen westlicher Demokratien mögen bestimmten Traditionen entstammen, zum Beispiel christlich-jüdischen Wurzeln. Sie dürfen damit aber nicht verschmelzen und für den Kulturkampf gegen andere Traditionen präpariert werden.

Die Christen-Partei mag noch so viel Abendland in ihr Grundsatzprogramm hineinphantasieren, der multikulturelle Alltag wird sich – einschließlich seiner von niemandem bestrittenen unerfreulichen Kehrseiten – weiterentwickeln. Und mit seinen besseren Seiten wird er hoffentlich die Talente ins Land locken, die eine vergreisende Mehrheitsgesellschaft derzeit mit Fleiß vergrault.

Multikulti-Schelte – wie langweilig! Es wird Zeit, Schluss mit der Angst vor Fremden zu machen und eine Politik zu verfolgen, die nicht mit Statistiken und Schlagworten um sich wirft, sondern kühl, menschenfreundlich und zukunftsoffen zugleich ist.

(Claus Leggewie, 60, ist Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen, Professor für Politikwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Mitherausgeber der Blätter für deutsche und internationale Politik)



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