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Angst vor der Ungewissheit

Erschienen im „Kölner Stadt-Anzeiger“ (ersch. 30.06.2011)

Von Martin Benninghoff

Die Lage in Syrien einzuschätzen, gleicht einem Puzzle, bei dem wichtige Teile fehlen. Ausländische Journalisten erhalten keinen Zugang zum Land, und die Echtheit der Bilder und Videos von Protesten ist in vielen Fällen nicht belegt. Über drei Monate dauert der Kampf zwischen Diktator Baschar al-Assad und Teilen seines Volks, mehr als 1300 Menschen sollen bereits gestorben sein. Letztlich bleiben nur Momentaufnahmen von Augenzeugen und Berichte von Exil-Syrern, die Kontakt zur Heimat halten.

Fuat und Samer (Namen  sind der Redaktion bekannt), beide um die 40, leben in den USA, nachdem sie in Österreich und Deutschland Islam- und Politikwissenschaften studiert haben. Sie wollen unerkannt bleiben, um ihre Familien nicht zu gefährden, die in Damaskus, der zweitgrößten Stadt Aleppo und in Homs leben. „Die Berichterstattung tut so, als würde in ganz Syrien protestiert“, sagt Fuat, der erst kürzlich mit seiner Familie in Homs telefoniert hat. „Die Proteste beschränken sich aber vor allem auf die sunnitischen Stadtteile.“ Ansonsten sei der Alltag recht normal, der Verkehr liefe und die Geschäfte seien offen. Nur die Militärpräsenz sei spürbar erhöht. Und das Internet werde meist von Donnerstagabend bis Sonntag blockiert. Auch in den beiden größten Städten Damaskus und Aleppo sei es ruhig, erzählt Samer. In den Provinzstädten allerdings gingen die Leute auf die Straße. „Und hier ist das Regime sehr brutal, nach allem, was ich bislang gehört habe.“

„Meine syrischen Freunde umtreibt vor allem die Angst vor dem Danach. Sie fürchten das Chaos im Land nach einem Sturz Assads. Sie fürchten eine Irakisierung – eine Zentralregierung, die nicht in der Lage sein wird, für Stabilität zu sorgen“, sagt Samer. In einem solchen Chaos könnten religiöse Konflikte ausbrechen, wie etwa im Libanon, ergänzt Fuat. „Dann beginnt der Tag der Abrechnung, mit unvorhersehbaren Folgen für die Menschen.“

Ein Tag der Abrechnung der religiösen Mehrheit mit der Minderheit, die das Zepter in der Hand hält. Assads Regime gehört zur Minderheit der Alawiten, die kaum mehr als sechs Prozent der Bevölkerung ausmacht. Die große Mehrheit, um 70 Prozent, sind sunnitische Muslime, die im Machtapparat kaum etwas zu sagen haben. Darüber hinaus leben viele weitere religiöse Minderheiten in Syrien, etwa die Drusen, Schiiten, aber auch Christen und einige wenige Juden. Im Widerstand gegen die allmächtige Baath-Partei spielen zudem die Muslimbrüder eine wichtige Rolle. Unvergessen ist ihnen das Massaker von Hama, bei dem Assads Vater und Vorgänger 1982 Tausende Sunniten umbringen ließ. „Der Kampf gegen das Assad-Regime ist ein Kampf der sunnitischen Mehrheit gegen die alawitische Minderheit“, sagt Samer. „Da sind Rechnungen offen.“

Samer war selbst Mitglied der Baath-Partei. Er erzählt, wie er als 15-jähriger Schüler damals in seiner Schule in Aleppo angeworben wurde. „Sie ließen mir keinen Zweifel: Wenn Du was werden willst, vielleicht sogar ins Ausland reisen, dann musst Du Parteimitglied werden.“ Allerdings beschränkte er sich aufs Zahlen der Mitgliedsbeiträge und hielt sich sonst von Politik fern. „Letztlich geht es einzig und allein um die Frage, ob man herrscht oder beherrscht werden will. Es gibt keinen Konsensgedanken in Syrien, kein Parteiensystem, das Minderheiten und Mehrheiten friedlich an einen Tisch bringen könnte.“  Deshalb sei es nur logisch, dass Assads Regime mit dieser Härte und Brutalität reagiert. „Es geht für sie um Fressen oder gefressen werden“, sagt Samer.

Auch die angekündigten Reformen – wie etwa die Aufhebung des Notstands – seien vor diesem Hintergrund kaum mehr als Makulatur. Der Notstand erlaube zwar eine willkürliche Festnahme für sechs Monate ohne Gerichtsbarkeit. Der eigentliche Terror des Regimes ginge jedoch vom Geheimdienst aus und der Vierten Division der Armee, die dem brutalen Präsidentenbruder Maher al-Assad unterstellt ist. Und daran ändere sich auch nach der Aufhebung des Notstands gar nichts, sagt Fuat.

Die größte Sorge bereitet beiden Auslandssyrern die konfessionelle Zersplitterung des Landes. „Sogar die 300 Oppositionellen, die sich neulich im türkischen Antalya getroffen haben, um über einen Fahrplan für die Nach-Assad-Zeit zu debattieren, konnten sich über die religiöse Zukunft des Landes nicht einigen“, so Samer. Die Muslimbrüder wollen keinen laizistischen Staat. „Aber in einem religiösen Staat will ich nicht leben“, so Samer, der eine Rückkehr nach Syrien für die nahe und mittlere Zukunft ausschließt.



Ein Kommentar

  1. Toll, das ist endlich mal ein guter Beitrag, vielen Dank. Muss man erstmal verarbeiten. Generell finde ich die Seite leicht zugaenglich.

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