Neue Kolumne bei „Opinion Club“ (02.04.2014)
Nur keine Aufregung im Fall Jolin S.: Der Mörder ist ja schuldig gesprochen worden, und von einer flächendeckenden Milde bei „Ehrenmorden“ kann keine Rede sein. Trotzdem: Kulturelle Argumente gehören nicht in die Rechtsprechung
Von Martin Benninghoff
Stellen Sie sich folgende Situation vor: Ein Mann um die 60 wohnt seit seiner Geburt in einem gottverlassenen Eifeldorf. Stets ist er nur schlecht über die Runden gekommen, und selbst die Bauern und Nachbarn halten ihn im Grunde für einen hoffnungslosen Dorfdeppen, der manchmal aber ganz nützliche Arbeiten übernimmt. Dieser Mann, frei von höherer Bildung oder Blicken über den Zaun seiner kleinen Kate, hat seine Minderwertigkeitskomplexe ein Leben lang durch die strenge katholische Moralwelt seines Vaters bekämpft. Um sich als Mann zu fühlen, hat er sein rigoroses Wertesystem durchs Leben mitgeschleppt, das von Männlichkeit erzählt, von dicken Autos und Jagderfolgen. Klar, dass nur wer Fleisch isst, ein echter Mann sein kann. Klar, dass nur wer Frauen liebt, ein echter Mann ist.
Und nun entpuppt sich sein einziger Sohn als schwul. Als dieser es wagt, seinen Freund ein Mal in das winzige Eifelnest mitzubringen, brennen dem Vater die Sicherungen durch. Mit einem Spaten erschlägt er am folgenden Tag den Sohn und den Freund noch gleich mit. Er, der sich ein Leben für einen stolzen Eifler hält, opfert den Nachwuchs zur Wiederherstellung seines eigenen Stolzes.
Fiktiv? Ja, hoffentlich. Aber spielen wir das Spiel kurz weiter: Der Vater wird vom Landgericht wegen Mordes verurteilt. 15 Jahre Haft bekommt er aufgebrummt, von einer besonderen Schwere der Schuld aber könne keine Rede sein. Der Mann habe sich in einer „Zwangslage wegen seiner religiösen und kulturellen Herkunft“ befunden. Und die sehe Homosexuelle nun mal lieber auf dem Scheiterhaufen als am Wohnzimmertisch.
Klingt unglaublich, oder? Da würden Sie doch sagen: Nein, das geht nicht. Darauf kann das Gericht keine Rücksicht nehmen. Oder?
Richtig, darauf sollte in der Tat kein Gericht in Deutschland Rücksicht nehmen. Und doch ist es vor einigen Tagen geschehen, wenn auch in einem ganz anderen Fall: Ein Deutsch-Afghane sticht drei Mal auf seine schwangere Ex-Freundin ein, tötet sie und das Baby im Mutterleib. Der Mörder wird vom Landgericht Wiesbaden für schuldig befunden, bekommt eine lebenslange Haftstrafe verpasst. Eine besondere Schwere der Tat aber wird nicht festgestellt – weil sich der Täter „aufgrund seiner kulturellen und religiösen Herkunft in einer Zwangslage befunden“ haben soll. Das heißt im Klartext, der Mörder kann den Knast nach der Strafverbüßung voraussichtlich verlassen.
Vorneweg: Von einem „Islam-Rabatt“, wie die Bild-Zeitung irrlichternd titelte, kann keine Rede sein. Der Mann ist ja schuldig gesprochen worden. Die Frage aber ist, darf ein angeblicher kultureller Hintergrund in der Rechtsprechung überhaupt eine Rolle spielen?
Es gibt dazu bereits Grundsatzurteile beim Bundesgerichtshof (BGH). Dieser hat zum Beispiel in einem Urteil von 2004 erklärt, dass „Ehrenmorde“ im Grundsatz als Mord aus niedrigen Beweggründen einzuordnen sind, weil die Tötung eines Menschen zur Wiederherstellung angeblicher Ehre sittlich auf tiefster Stufe steht. Bei ausländischen Tätern, so der BGH in einem anderen Urteil von 2002, könne ausnahmsweise eine Verurteilung nur wegen Totschlags in Betracht kommen. Allerdings nur dann, wenn der Täter zur Tatzeit noch so übermäßig stark in fremden Wertvorstellungen verwurzelt ist, dass ihm die Missachtung seiner Tat im hiesigen Rechtssystem nicht bewusst sei.
Das ist bei einem Deutschen mit afghanischen Hintergrund nun wahrlich nicht anzunehmen. Aber selbst wenn: Es wäre kaum in Ordnung, dem Täter seine Abstammung – wie auch immer – in Rechnung zu stellen.
Man würde in diesem Fall annehmen, dass die Herkunft automatisch etwas aussagt über die Werte und die Geisteshaltung, die das menschliche Handeln bestimmen. Ein schwaches Konstrukt, auf das sich die Rechtsprechung da stützt: Afghanistan gleich Ehrenmord, der Migrationshintergrund als Sicherheitsrisiko? Und Eifel gleich Hinterwäldler? Das wird wohl auch keiner ernsthaft behaupten wollen.
Kultur und Religion sind ohnehin enorm schwammige Begriffe. Ein Täter, der aus Afghanistan stammt, sein ganzes Leben aber in Deutschland verbringt: Welche Herkunft, welche Religion, welche Prägung hat er? Ist sein Hass auf seine Ex-Freundin, die das ungeborene Kind nicht abtreiben wollte, etwa durch den Islam bedingt? Durch eine Religion, die von Liberal bis Fundamentalisch so ziemlich alle Aggregatzustände kennt – wie alle Religionen? Und haben diejenigen, die ihre Verirrungen mit dem Islam erklären, schon einmal in ihrem Leben in den Koran geschaut? Oder wissen sie gar, wie man jahrtausendealte Schriften wie den Koran und die Bibel vernunftgemäß interpretiert?
Besonders wackelig ist das Argument Kultur: Meine Großeltern wären wenig begeistert gewesen, wenn sie noch sehen könnten, dass junge Mütter schon wenige Wochen nach der Geburt ihres Kindes wieder arbeiten gehen. Und mein Opa hätte es bestimmt gar nicht gut gefunden, wenn einer seiner Enkel schwul wäre. Die Kultur und die Herkunft meiner Großeltern gründeten in deren Sozialisation vor zig Jahrzehnten, als die Gesellschaft insgesamt autoritärer war und anderen Regeln folgte. Von regionalen Unterschieden zwischen Stadt und Land ganz zu Schweigen. Ja, bitte schön, sollen wir das nun bei greisen Straftätern in Rechnung stellen? Und ihnen zugleich die Möglichkeit, sich zu ändern, von Anfang an absprechen?
Martin Benninghoff, Journalist und Redakteur von „Günther Jauch“ in Berlin, ist Co-Autor des Buches „Aufstand der Kopftuchmädchen“, das sich mit der Reform des Islam und der Integration in Europa beschäftigt. Seine OC-Kolumne MyGration erscheint jeden zweiten Mittwoch.