Erschienen bei FAZ.NET (21.09.2017)
Von Martin Benninghoff, Bernau/Strausberg
Die Linke hat ein strategisches Problem: In manchen Regionen Deutschlands tritt sie als Volkspartei an – und hat der Protestpartei AfD dabei nur wenig entgegenzusetzen. Besonders deutlich wird das in ihren brandenburgischen Hochburgen.
Mit den Parteihochburgen ist das ja so eine Sache: Einerseits stehen die Chancen auf ein gutes Ergebnis bei der kommenden Bundestagswahl naturgemäß vortrefflich, andererseits ist viel zu verlieren, zumal eine Partei in ihrer politischen Hochburg keinen glaubwürdigen Oppositions- oder gar Protestwahlkampf führen kann. Zu lange ist oder war sie an der Macht, um sagen zu können, wir machen alles besser. Die SPD in Nordrhein-Westfalen kann davon ein für sie trauriges Lied singen, aber auch die Linke – zum Beispiel in Brandenburg.
Bernau und Strausberg im brandenburgischen Bundestagswahlkreis Märkisch-Oderland/Barnim II sind solche Hochburgen der Linken. Eigentlich. Denn bei der letzten Bundestagswahl 2013 stürzte die Partei mit ihrem halbwegs prominenten Aushängeschild Dagmar Enkelmann auf etwas mehr als 26 Prozent bei den Zweitstimmen ab, nachdem sie vier Jahre zuvor noch knappe 34 Prozent eingefahren hatte. Auch die Erststimmen reichten nicht, das Direktmandat futsch, heute sitzt der CDU-Mann Hans-Georg von der Marwitz für den Wahlkreis im Bundestag, ein „Westimport“ aus Bayern. Enkelmann tritt in diesem Jahr nicht mehr an, die Schmach der vergangenen Wahl soll nun die in Weimar geborene Kerstin Kühn ausbügeln.
Nur noch wenige Tage bis zum Wahlsonntag. Kühn, 54-jährige Anwältin, seit 1982 Mitglied der Partei, die früher SED hieß, steht an einem Wahlkampfstand der Linken auf dem Bahnhofsvorplatz in Bernau und fängt einzelne Menschen ab, die aus dem Bahnhofsgebäude kommen oder zum Zug eilen. Darunter etliche Berlin-Pendler, denn das beschauliche 37.000-Einwohner-Städtchen Bernau schmiegt sich an die Außenbezirke der Hauptstadt und bietet noch vergleichsweise bezahlbaren Wohnraum bei guter Nahverkehrsanbindung, mit Flair aus Fachwerk und Plattenbau, aus Historie mit Stadtmauer und DDR-Gewerkschaftsvergangenheit.
Charmeoffensive gegen Miesepetrigkeit
In Bernau ist die Linke Volkspartei. Sie stellt mit elf Sitzen die größte Fraktion in der Stadtverordnetenversammlung und regiert im Rathaus – Bürgermeister André Stahl ist ein Linker. Und in Brandenburg selbst regiert die Partei als Juniorpartnerin in einer Koalition mit der SPD, mehr politisches Establishment geht nicht. Für Kühn eine leichte und schwierige Aufgabe zugleich, sie muss traditionelle Linke-Wähler bei der Stange halten und mobilisieren und Wechselwähler, die in diesem Jahr die AfD wählen könnten, binden. Mit reinen Oppositionsslogans kommt sie da nicht weiter. Aber womit dann?
Kühn drückt einer älteren Frau den Flyer in die Hand: „Soziale Gerechtigkeit und Frieden sind machbar“, das Programm der Linken. „Das ist doch ein Gummi-Thema“, sagt die Frau, ihr sei „soziale Gerechtigkeit“ zu schwammig. Was die Linke denn konkret dafür tue, dass sie abschlagsfrei in Rente gehen könne? Und überhaupt, was solle dieser Unsinn mit der Rente mit 67 oder sogar 70? Kühn erklärt, was ihre Partei vorhat, und Martin Günther, ein Linke-Politiker aus Bernau, sekundiert, er geht ins Detail. Kühn lächelt, sie weiß, die Wahl entscheidet auch für sich, wer den Wählern sympathisch ist. „Ich will nicht nur sagen, was alles schlecht ist“, sagt sie. Miesepetrig war gestern, sie plaudert mit zwei jungen Frauen, schaut in deren Kinderwagen, lacht. Sie lacht viel.
Aber reichen Charme und die typischen Themen der Partei? Längst geht es für Kühn nicht nur um ein Direktmandat, es geht um den Gesamterfolg im Bund: „Wir wollen drittstärkste Kraft im Bundestag werden“, sagt sie. Das allerdings wollen AfD, FDP und Grüne auch werden. Nach einer repräsentativen Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach (Befragungen zwischen dem 6. und 14. September) legt die AfD von acht auf zehn Prozent zu, die FDP liegt bei 11 Prozent, die Grünen bei acht. Die Linke kommt demnach auf neun Prozent. Wie stark die AfD in Kühns Wahlkreis werden könnte, lässt sich schwer abschätzen. Im Stammland des AfD-Spitzenkandidaten Alexander Gauland ist das Ergebnis der Rechtspartei ohnehin eine Blackbox.
Eine Blackbox, die speziell der Linken gefährlich werden könnte. „Beide Parteien, die Linke und die AfD, zielen auf ähnliche Adressaten“, sagt der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer. Auf die „Abgehängten, die sozial Schwachen und auch auf jene Ostdeutsche, die sich zurückgesetzt fühlen“, selbst 27 Jahre nach der Wiedervereinigung. Bei den letzten Landtagswahlen holte die AfD in der Region aus dem Stand ein zweistelliges Ergebnis. Zu Kühns Wahlkreis gehört der relativ wohlhabende Speckgürtel Berlins ebenso wie der teils verarmte Oderbruch, der sich bis zur deutsch-polnischen Grenze zieht. Armut, Landflucht, Perspektivlosigkeit bilden hier den Nährboden für Unzufriedenheit und Protest gegen „das System“, gegen die Bundeskanzlerin, gegen die „Eliten“ in Berlin, sei es in Politik, Medien oder Wirtschaft.
Wenn Ostdeutsche sich abgehängt fühlen
Das alles gibt es auch in Westdeutschland, aber im Osten kommt noch eine Sondersituation hinzu: „Viele fühlen sich nicht gehört und in ihrer Lebensleistung anerkannt“, sagt Lutz Kupitz, Fraktionsvorsitzender der Linken in der Bernauer Stadtverordnetenversammlung. Kühn bestätigt, dass sie im Haustürwahlkampf immer wieder auf diese wunden Punkte in den Biografien vor allem älterer ehemaliger DDR-Bürger angesprochen würde, auf den Verlust der Identität, die Infragestellung ihrer Leben im real existierenden Sozialismus, der 1989 zusammengebrochen und nur noch als böse Erinnerung ans Scheitern zu gebrauchen war.
Kupitz kann das nachvollziehen: Der 57-Jährige war zu DDR-Zeiten SED-Mitglied und blieb der Partei nach der Wende treu: „Es konnten ja nicht alle weglaufen. „Einerseits sollen wir ja nicht so viel jammern, andererseits fühlen sich eben viele abgehängt und von der Politik im Stich gelassen“. Er beklagt eine „Entsolidarisierung“ der Gesellschaft, „Selbstverwirklichung“ sei ja gut und richtig, „aber die Rahmenbedingungen müssen stimmen“. Arbeit, von der man leben könne, eine anständige Rente, eine vernünftige Kinderbetreuung. Kühn weiß, mit politischen Sachthemen ist es nicht getan, „es geht da auch um ein Gefühl“. Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) griff das Thema diese Woche in der „Zeit“ auf: Von ihren Eltern wisse sie, dass Entwertungsgefühle nicht nur mit Geld zu tun hätten. „Es geht ganz einfach um Anerkennung.“
Ein Gefühl, das die AfD mit dem Slogan „Hol Dir Dein Land zurück“ anspricht. Mag sich der Spruch vor allem gegen eine angebliche Überfremdung richten, gegen Muslime oder Migranten, so spricht er auch das Gefühl an, etwas verloren zu haben, ein Stück Heimat, Nationalidentität. Eine gefährliche Mischung gerade für die Linke, die sich bislang als Interessenvertreterin vor allem ostdeutscher Wähler gesehen hat. Viel zu verlieren hat die Partei deshalb auch in einer Kleinstadt wie Strausberg, wo sie bei der letzten Landtagswahl lockere 42 Prozent einfuhr.
Wie Bernau gehört Strausberg mit rund 26.000 Einwohnern zum Berliner Ballungsgebiet. Bekannt und zugleich berüchtigt war die Stadt zu DDR-Zeiten als Sitz des Ministeriums für Nationale Verteidigung. Nach der Wende stationierte die Bundeswehr Einheiten in den dortigen Kasernen. Menschen zu finden, die hier früher die Linke gewählt haben, ist nicht schwer. Von zehn in der Altstadt angesprochenen Linke-Wählern überlegen immerhin vier, ob sie dieses Mal ihr Kreuz an anderer Stelle machen oder gar nicht wählen gehen. Die AfD ist für drei eine Option. Das ist natürlich alles andere als repräsentativ, es ist nur eine Momentaufnahme.
Ein Mann, ein ehemaliger Linke-Wähler, der seinen Namen nicht öffentlich lesen möchte, beschwert sich über die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung und fordert eine Schließung der Grenzen. Mit Forderungen der Linken nach einem sofortigen Abschiebestopp kann er gar nichts anfangen. „Traumtänzerei“, sagt er. Kerstin Kühn sagt, ihr begegne das Thema Flüchtlingspolitik im Wahlkampf nur durchschnittlich häufig. Ab und an fragten Leute, warum man selbst so wenig Geld in der Tasche habe, die Flüchtlinge aber soundsoviel Geld vom Staat bekämen. „Dann frage ich zurück: Haben Sie durch die Flüchtlinge einen Cent weniger in der Tasche?“
Von Wagenknecht siegen lernen?
Ob diese Strategie funktioniert? Folgt man der Auffassung des Politikwissenschaftlers Neugebauer, dass die Themen innere Sicherheit und Flüchtlingspolitik derzeit bei den unentschiedenen Wählern stark wiegen, möglicherweise stärker als soziale Fragen, dann könnte sich das Themenfeld als Bumerang für die Linke erweisen. Die Fraktionschefin der Linken im Bundestag, Sahra Wagenknecht, schlug wohl auch deshalb mehrfach kritischere Töne zur Flüchtlingspolitik der Bundesregierung an, „Ausflüge“, die in der Partei allerdings „nicht mehrheitsfähig sind“, so Neugebauer. Auch Kupitz war nicht gerade angetan, vermutet, dass Wagenknecht am „rechten Rand“ habe „fischen“ wollen. Aber was bleibt dann noch zur Mobilisierung potentieller Wähler?
SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz versucht es auf den letzten Wahlkampfmetern mit einer AfD-Verhinderungsdebatte, als Treibstoff für letzte Mobilisierungsanstrengungen. Die AfD-Spitze sei „rassistisch“, die Partei eine „Schande für das Land“. Von solchen Tönen ist Kühn in ihrem Wahlkreis weit entfernt. Der Umgang mit den AfD-Leuten sei sogar „unangenehm freundlich“, sagt sie. Ein Rechtsdrall der politischen Landschaft sei kein Ost-Problem, springt ihr Kupitz bei. Das sei ein „zu einfaches Bild“. „Wir haben doch eine starke Zivilgesellschaft“, man könne die ganze Region nicht über einen Kamm scheren. Der ideologische Gegner bei dieser Wahl sei die CDU, der direkt gewählte Abgeordnete von der Marwitz. „Da müssten wir eigentlich noch hinfahren, um Wahlkampf zu machen“, sagt Kühn und lacht. In den östlichen Teil des Wahlkreises, nach Seelow, wo von der Marwitz sein Büro hat. „Da haben wir nur keine Zeit mehr zu.“