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Hinter dem unsichtbaren Eisernen Vorhang

Artikel erschienen in der FAZ und bei FAZ.NET (04.10.2017)

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Von Martin Benninghoff, Minsk

„Weißer Fleck auf der Landkarte“ oder „letzte Diktatur Europas“: Weißrussland ist für viele Europäer Terra incognita im Schatten Russlands – daran ändert auch die neue Visafreiheit nichts. Oder doch? Zeit für eine Zwischenbilanz.

Minsk, ein früher Morgen im September. An einem baufälligen Haus auf einem Stück Brachland, das an den Busbahnhof der Hauptstadt angrenzt, prangt ein offenbar eilig gekritzelter Schriftzug: „здесь не Россия“, „dies ist nicht Russland“. Die Menschen eilen daran auf ihren Wegen zur Arbeit, zum Zug oder dem Bus vorbei, keiner nimmt Notiz. Doch unbemerkt bleibt der Schriftzug nicht. Nur wenig später ist er mit grauer Deckfarbe überpinselt, der Slogan unlesbar. Wenn man eine Autokratie an der Geschwindigkeit bemisst, in der regierungskritische Wandgraffiti übermalt werden, dann ist Weißrussland mindestens oberes Mittelfeld im Diktaturen-Ranking.

Dies ist nicht Russland! Ein Satz, der in Weißrussland genauso stimmt wie in allen anderen Staaten – außer in Russland natürlich. Ein Satz, der hier im Staate des autokratisch regierenden Präsidenten Aleksandr Lukaschenka alles andere als unschuldig daherkommt: Weißrussland ist ein Staat, dessen Wirtschaft und Politik ohne die engen Verzahnungen mit dem großen östlichen Nachbarn Russland schlichtweg undenkbar ist, das Land wäre wohl kaum überlebensfähig.

Es ist knapp so groß wie Großbritannien oder Rumänien, aber mit weniger als zehn Millionen Einwohnern, von denen ein Fünftel in der Hauptstadt lebt, ist es dünn besiedelt. Kein Zugang zum Meer, ein Binnenland, ohne besondere Rohstoffvorkommen, kein nennenswertes Gebirge, nur wenige touristische Highlights. Auch deshalb ist hier nicht Russland.

Terra incognita für die meisten Mitteleuropäer

Manche nennen Weißrussland den „letzten weißen Fleck auf der europäischen Landkarte“, andere „die letzte Diktatur Europas“. An allem ist etwas Wahres dran, aber es sind Klischees und Vereinfachungen, die vor allem zeigen, wie sehr das Land noch Terra incognita für die meisten Mitteleuropäer ist. Weit weg, eingeschlossen hinter unsichtbaren Mauern oder – um gleich in die Diktion längst vergangener Sowjet-Tage zu fallen – hinter einem dicken, noch immer eisernen Vorhang.

Die Fakten zeigen ein etwas differenzierteres Bild: Nach Angaben der weißrussischen Botschaft in Berlin sind 2016 rund 217.400 Ausländer eingereist, ein Jahr zuvor 276.000. Knapp 80 Prozent waren davon Russen, der Rest vor allem Litauer, Polen, Ukrainer – und auch Deutsche und Briten. Im vergangenen Jahr sind zudem knapp 500.000 Weißrussen ins Ausland gereist, davon knapp die Hälfte in die EU, 24 Prozent in die GUS-Staaten.

Das sind keine berauschenden Zahlen, die es rechtfertigen, dem Land eine große Zukunft als Tourismusdestination vorherzusagen. Aber ganz so isoliert, wie manche glauben, ist das Land freilich nicht.

Aleksandr Lukaschenka, der seit 1994 die Zügel im Land fest im Griff hat, hat offenbar erkannt, dass er sein Land stärker öffnen muss. Seit Februar 2017 dürfen Bürger von 80 Ländern, darunter Deutsche, visumfrei nach Weißrussland reisen. Zwar nur über den Flughafen Minsk, wo sich der Besucherstrom kontrolliert kanalisieren lässt, und auch nur auf fünf Tage begrenzt, aber immerhin. Zuvor musste man sich eine Einladung besorgen, um das Visum zu bekommen. Das war nicht sonderlich schwierig, hielt aber sicherlich viele von Kurztrips nach Minsk ab.

Nach mehr als einem halben Jahr Visumfreiheit ist es Zeit für eine Zwischenbilanz. Ist Minsk das neue Prag, Budapest oder Tirana? Bekommt das Land endlich was vom Osteuropa-Hype ab?

Ein Land für Freak-Tourismus

Die Zahlen sind eher ernüchternd: Das visafreie Angebot haben laut Botschaft seit Februar 2017 knapp 46.000 Touristen angenommen, darunter 7000 Deutsche. „Mit der Einführung beobachtet man ein wachsendes Interesse am Land seitens ausländischer Gäste“, sagt Aleksandr Levanovich. Experten prognostizierten, so der Leiter der Botschafts-Wirtschaftsabteilung, dass weitere Effekte erst 2018 sichtbar würden, nämlich dann wenn die organisierten Gruppen kämen. „Es wird geplant, die Frist der visafreien Einreise bis Ende 2018 von fünf auf zehn Tage zu erweitern“, kündigte die Botschaft gegenüber FAZ.NET an.

Ob damit Weißrussland tatsächlich mehr Touristen ins Land holt? Stefan Meister, Osteuropa-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, ist skeptisch: „Das ist kein attraktives Reiseland, keines für den Massentourismus, allenfalls für den Freak-Tourismus.“ Für „Freaks“, die auch nach Nordkorea, Somaliland oder Eritrea fahren, um selten bereiste Orte mit, gelinde gesagt, herbem Charme zu erleben – auch wenn niemand Weißrussland mit solchen Ländern vergleichen sollte.

Meister glaubt, dass die Visafreiheit eher „Symbolcharakter und einen Effekt auf die darbende Wirtschaft haben soll“. Seit Jahren steckt das Land in einer tiefen Rezession. Für 2017 rechnet die Weltbank mit einem abermaligen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts. Zudem ist die Auslandsverschuldung sehr hoch, die Direktinvestitionen sind zuletzt massiv eingebrochen, ebenso wie der Handel: Deutschland ist nach Russland, Ukraine und China zwar der viertwichtigste Handelspartner, allerdings auf geringem Niveau. Weißrussland importiert vor allem deutsche Maschinen, Autos und Produkte der chemischen Industrie, Deutschland wiederum bezieht Metalle, russisches Öl, das die Weißrussen raffinieren, und Holz.

Die Weißrussen vermissen eine Perspektive

Die Depression betrifft nicht nur die Wirtschaft. „Es herrscht in der Bevölkerung eine depressive Stimmung“, sagt Meister, „die Leute vermissen eine Perspektive für sich im Land“. Zu spüren ist das in Minsk – oberflächlich betrachtet – kaum, die Stadt hat sich mit ihren Prachtboulevards sowjetischer Prägung herausgeputzt. Zwischen Plattenbau- und Zuckerbäcker-Architektur findet sich eine eigentümliche Mischung aus Ostalgie und Gegenwart. Aus Märkten wie dem Komarowski-Markt, wo vornehmlich Händlerinnen lokale Produkte wie Honig oder eingelegtes Gemüse verkaufen, und dem obligatorischen Kaufhaus „GUM“, wo heimische Anzüge mit Schnittmustern aus vergangenen Jahrzehnten und chinesisches Plastikspielzug im Muff der Sowjet-Ära verkauft werden, bis hin zu westlichen Konsumtempeln der Marken Boss oder McDonald’s.

Aber der erste Eindruck trügt: Bei einem (offiziellen) Durchschnittslohn von nur knapp mehr als 300 Euro im Monat und einer Inflationsrate, die in den vergangenen Jahren teils davon galoppierte, bleiben die internationalen Marken eher der finanzstarken Nomenklatura und Ausländern mit Devisen in der Tasche vorbehalten.

Für den Taxifahrer in Minsk sind internationale Marken kaum erschwinglich: Das Leben in Deutschland sei doch so gut, in Weißrussland dagegen „schlecht wegen des Verdienstes“, sagt der Mann, der unentwegt „Modern Talking“ oder „C.C. Catch“, eine weitere Dieter-Bohlen-Produktion, im Autoradio laufen lässt. Sein Bruder lebe in einer niedersächsischen Stadt, er selbst könne sich einen Besuch in Deutschland allerdings nicht leisten. Wie zufrieden er mit Lukaschenkas Politik sei? Der Taxifahrer lacht, sagt aber lieber nichts.

Achtung, KGB

Die Freiheit ist noch immer eingeschränkt, der Staatsapparat repressiv. Der Präsidentenpalast in Minsk ein wenig einladendes Gebäude, die meisten Passanten machen einen Bogen um den Klotz. Freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit sind nach wie vor beschnitten, zudem lässt Lukaschenka als letztes europäisches Land die Todesstrafe vollstrecken. 2016 wurden laut Amnesty International mindestens vier Menschen hingerichtet. Der Geheimdienst, der hier noch immer KGB heißt und mitten am zentralen Prachtboulevard in der Innenstadt residiert, überwacht Telefon- und Internetverbindungen.

Allerdings, der Präsident sendet seit einiger Zeit leise Signale der Liberalisierung. Seit der letzten Wahl sitzen immerhin zwei Oppositionspolitiker im Parlament, insgesamt galt der Urnengang als vergleichsweise unauffällig. Vergleichsweise, möchte man betonen! Lukaschenka profilierte sich zudem international als „ehrlicher Makler“ im Ukraine-Konflikt und richtete 2015 das Minsk-Treffen von Russlands Präsident Wladimir Putin, Bundeskanzlerin Angela Merkel, Frankreichs früherem Präsidenten François Hollande und dem ukrainischen Präsidenten Poroschenko aus. Die schönen Fernsehbilder zeigten den bis dato isolierten Staatschef zurück im Kreise der europäischen Staats- und Regierungschefs. Sonst führen ihn seine Auslandsreisen eher Richtung China oder Pakistan und natürlich nach Moskau– aber kaum gen Westen. Ein PR-Erfolg für Lukaschenka.

Zur Anerkennung hob die EU im Februar 2016 ihre Sanktionen gegen das Land weitgehend auf, und im November 2016 fand nach fünfjähriger Unterbrechung erstmals wieder das Minsk-Forum statt, die wichtigste deutschsprachige Dialog-Plattform zwischen Deutschland, der EU und Weißrussland.

Das Tauwetter muss aber nicht von Dauer sein: Weniger begeistert zeigten sich Brüssel und Berlin, als im Frühjahr 2017 Demonstrationen in Minsk und anderen Städten abermals eskalierten, es kam zu Verhaftungen. Lukaschenka machte deutlich, dass er „ukrainische Zustände“ nicht dulde. Allerdings: Derzeit ist keine Seite – weder Minsk noch der Westen – an neuen Konflikten interessiert, wie der Osteuropa-Experte Meister betont: Alleine deshalb seien weißrussische Diplomaten zurzeit sehr aktiv im Dialog mit dem Westen.

Wenn der Pufferstaat nicht mehr puffert

Lukaschenka weiß, was er sich leisten kann und was nicht. Einerseits versucht er, der russischen Einflusssphäre ein Stück weit zu entkommen, andererseits kennt er die roten Linien, die nicht überschritten werden dürfen. Konkret: Er flirtet mit der EU, erlässt Reiseerleichterungen, ärgert Moskau damit, denn plötzlich stehen EU-Bürger visafrei an der Grenze zu Russland, der Pufferstaat puffert nicht mehr. Im September setzte Lukaschenka dann sein russlandfreundliches Gesicht auf, als er mit Putin das gemeinsame Militärmanöver „Zapad“ veranstaltete, zum Schrecken Polens und der baltischen Nachbarn, ein Warnschuss in Richtung Nato. Die Pendelpolitik Lukaschenkas dient seinem eigenen Machterhalt: Experten zweifeln nicht daran, dass Russland einmarschieren würde, sobald sich Weißrussland stärker in Richtung EU oder sogar der Nato bewegen würde.

Dabei holt Lukaschenka einen dritten Partner ins Boot: China. Wer vom Flughafen nach Minsk fährt, passiert den „China-Belarus-Industrial Park“, der 20 Unternehmen beherbergt, 200 sollen es mal werden. Am Eingangstour wehen chinesische und weißrussische Flaggen, in Minsk sind einige chinesische Hotels entstanden. Die Sonderwirtschaftszone will mit niedrigeren Steuern und einer modernen Infrastruktur ausländische Investoren anwerben. Das Beispiel Nordkorea, das ähnliche Gebiete aufgebaut hat, zeigt aber auch, wo der Haken ist: Die Sonderwirtschaftszone Kaesong im Süden der Kim-Dynastie wurde einfach dichtgemacht – völlige Willkür für Investoren.

Es ist der Versuch, weitere Finanzquellen anzuzapfen. Geht es Russland schlecht, geht es auch Weißrussland schlecht. Derzeit fehlen schlichtweg die konjunkturellen Impulse aus Russland, und für ausländische Investitionen fehlen die Anreize. Der Staatskapitalismus erschwert Übernahmen, daran ändern zaghafte Privatisierungsbemühungen wenig. Das große Pfund Weißrusslands ist die gut ausgebildete Bevölkerung – das könnte ein Anreiz für personalintensive Unternehmen sein.

Mehr Blick zurück als nach vorne?

Welcher Weg bleibt dem Land? Anders als Georgien zum Beispiel ist das touristische Potential Weißrusslands überschaubar. Städtereisen nach Minsk, Brest oder Homel lohnen durchaus, alleine wegen der Architektur, der Vielzahl an Museen und Theatern und der Geschichte, die an vielen Orten, fast durchweg als Schrecken des Zweiten Weltkrieges, zu spüren ist. Die deutschen Besatzer haben fast jeden vierten Weißrussen ermordet, die jüdische Bevölkerung, die viele Intellektuelle und Staatsführer der Welt (der ehemalige israelische Staatspräsident Schimon Peres war einer davon) hervorgebracht hat, ist fast vollständig dezimiert. Davon zeugen Gedenkstätten im ganzen Land, zum Beispiel nahe des Dorfes Maly Trostinez.

Maly Trostinez liegt an einer Ausfallstraße im Minsker Ballungsraum. Plattenbauten reihen sich an Plattenbauten, alles sieht gesichtslos aus, Hinweisschilder fehlen. Eine ältere Frau, die in ihrem Gemüsegarten steht, weist den Weg zu dem von weiten unscheinbaren Gedenkstein. Der Taxifahrer kennt den Ort nicht, nie davon gehört. Tristes Brachland umschließt den Gedenkort, an dem noch ein paar Barackengrundmauern zu sehen sind. Ein paar Hinweisschilder, die auch auf deutsche Initiative hin aufgebaut worden sind, erklären das Unfassbare: Mit Gaswagen und bei Massenerschießungen in einem nahegelegenen Wäldchen sollen hier 40.000 bis 60.000 Menschen umgebracht worden sein. Die meisten Juden.

Was hier in diesem unscheinbaren Dorf passiert ist, wird in Weißrussland zwar nicht verschwiegen, aber der Eindruck drängt sich auf, dass dem sowjetischen Heldengedenken mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird (etwa im sehr interessanten Minsker „State Museum of the Great Patriotic War“) als den Opfern des Holocausts.

Die Spuren von Tschernobyl

Abseits dieser Orte des Schreckens bietet das Land vor allem: Wälder, Seen und Flüsse, die staatliche Tourismusagentur bewirbt es als Mekka für Angler und Jäger. Es gibt Luchse, Elche und Braunbären und eine der letzten Wisent-Populationen. Wer sich allerdings tiefer in die Wälder wagt und möglicherweise selbst gepflückte Pilze zubereiten möchte, wird unweigerlich mit einem anderen schwarzen Kapitel Weißrusslands konfrontiert werden, der Reaktorkatastrophe im benachbarten ukrainischen Tschernobyl im April 1986.

Ein Großteil der kontaminierten 200.000 Quadratkilometer liegt in Weißrussland. Noch heute ist das ein schwieriges Thema im Land, Journalisten bekommen kaum Auskunft, Berichte über verstrahlte Lebensmittel werden nach wie vor in Weißrussland unterdrückt. Tschernobyl ist auch deshalb ein typisches Reiseziel für „Freak-Touristen“, buchbar bei einer Vielzahl von spezialisierten Reiseagenturen. Lieber würde Weißrussland allerdings zum Traumziel für Agroökotouristen werden, die Urlaub auf dem Bauernhof oder in einem Dorf machen. Ob das zusammenpasst?

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