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Von wegen „integrationsunwillig“

Die Berlinerin Aylin Selcuk

(erschienen im „Kölner Stadt-Anzeiger“ am 26.03.2011 in gekürzter Fassung)


Von Martin Benninghoff

Aylin Selcuk fährt gerade durch Köln, als sie einen Redakteur der neuen Sat-1-Polittalksendung „Eins gegen Eins“ am Ohr hat. Ob sie nicht in der nächsten Sendung dabei sein wolle, mit Thilo Sarrazin zusammen. Es gehe um den Islam in Deutschland. „Islam? Da bin ich wohl nicht die richtige“, erwidert Selcuk. „Über Islam weiß ich nicht viel. Warum laden Sie keinen Islamwissenschaftler ein?“ Ihr Ärger ist unüberhörbar. Ende des Gesprächs, der Redakteur will sich in den nächsten Tagen abermals melden. „Da sollen doch nur Gegensätze aufeinander losgelassen werden, dass es knallt“, sagt die 22-jährige Zahnmedizinstudentin, die Sarrazin im vergangenen Jahr wegen Volksverletzung verklagt hat: „Der hat mit seinen genetischen Thesen den Rassismus salonfähig gemacht.“

Die junge Berlinerin hat 2007 den Verein „Deukische Generation“ gegründet, eine Art Sprachrohr für junge Migranten, die sich gegen das Negativ-Image vor allem türkischstämmiger Jugendlicher als „integrationsunwillig“ wehren. „Ich bin hier geboren“, sagt sie, „und ich will mich nicht entschuldigen, nur weil meine Wurzeln in der Türkei liegen“. Sie spult ein leidenschaftliches Plädoyer ab: Die Standardfragen ihrer Mitschüler – was, Du trägst kein Kopftuch? Du darfst abends weggehen und Alkohol trinken? – seien ja noch harmlos gewesen. Eines Tages habe sie jedoch ihr Erdkunde- und Mathelehrer in der Pause zur Seite genommen und allen Ernstes gefragt, ob sie denn nach den Sommerferien aus der Türkei zurückkehre. „Er hatte tatsächlich die Befürchtung, ich würde zwangsverheiratet werden.“ Damals war sie 17 und fand das gar nicht witzig.

In der Folgezeit gab sie sich als Italienerin aus, um den Fragen nach Kopftuch und Zwangsheiraten aus dem Weg zu gehen. Sie fing an, über Türken herzuziehen – in der Schule, um ihren Mitschülern zu gefallen, aber auch zuhause am Abendbrottisch. Ihre Eltern und der Bruder schüttelten nur noch die Köpfe. „Am Tisch war dicke Luft“, erzählt sie heute. Irgendwann sah sie den umstrittenen Fernsehfilm „Wut“, in dem ein türkischstämmiger Junge eine deutsche Familie malträtiert. „Wenn ich ein deutscher Papi gewesen wäre, hätte ich es auch mit der Angst zu tun bekommen“, sagt sie. „Aber mir wurde klar, dass dies ein Zerrbild ist.“ Und sie ließ die Maske der Italienerin fallen und trat die Flucht nach vorne an.

Über das soziale Netzwerk StudiVZ schrieb sie noch am gleichen Abend Kettenmails mit einem Aufruf an Freunde und Bekannte, sich Negativ-Klischees über junge Migranten nicht länger bieten zu lassen. Sie lud zu einem Treffen ein, bei dem sich unerwartet mehr als 50 Jugendliche einfanden. Selcuk, zu diesem Zeitpunkt gerade 18 geworden, beließ es nicht bei blanker Empörung: Sie hatte einen Vortrag mit allerlei Statistiken vorbereitet, sparte Integrationsprobleme dabei nicht aus, nur seien diese eben „nicht ethnisch bedingt“. Sie erzählte den anderen von ihren analphabetischen Vorfahren und deren Willen, dass es die Kinder besser haben sollten, mit Erfolg: Selcuks Mutter ist heute Leiterin zweier Bankfilialen in Berlin, der Vater Journalist der „Hürriyet“.  Auch bei der Musterschülerin Aylin war bislang alles so gut gelaufen, dass sie sich wenig Gedanken über die Kinder anderer türkischer Einwanderer gemacht hatte. „Ich hatte damals selbst Vorurteile“, sagt sie.

Aus dem einmaligen Treffen erwuchs schließlich die „Deukische Generation“, die schon im Namen das Deutsche und Türkische trägt. Die Medien nahmen die attraktive Vorsitzende dankbar an: Der „Spiegel“ kürte sie auf dem Titel zu einem der „Alphamädchen“, die Schauspielerin Hannelore Elsner überreichte ihr den Preis „Goldene Bild der Frau“, und der britische „Economist“ bezeichnete sie allen Ernstes als mögliche erste türkischstämmige Bundeskanzlerin. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer, lud sie zum Integrationsgipfel ein, und Kanzlerin Angela Merkel hörte Selcuk geduldig zu („Tut mir leid, aber eine doppelte Staatsbürgerschaft geht nicht“). Seitdem postet Selcuk fleißig ihre Fotos mit Bundespräsident Christian Wulff oder dem Berliner Regierenden Bürgermeister, Klaus Wowereit, bei Facebook.

Als Kritik von etablierten Migrantenorganisationen laut wurde, der Verein sei nur für nette Berichte in Zeitungen gut, gingen Selcuk und ihre Mitstreiter in die Hauptschulen und die Problembezirke Berlins, und sie initiierten Projekte: Ein Lehrer der Winkelrieder Oberschule beispielsweise hatte den Verein wegen der vielen Schulschwänzer angeschrieben und um Hilfe gerufen. Daraufhin tauchte der Verein unangekündigt in der Klasse auf und diskutierte mit den Schülern über die Gründe fürs Schwänzen. Bei der anschließenden Analyse mit dem Lehrer entwirrte sich ein Knäuel an Unverständnis auf allen Seiten: Der Lehrer hatte sich überfordert gefühlt, die oft türkischstämmigen Eltern unverstanden und herablassend behandelt – und mittendrin in der großen Sprachlosigkeit hatten manche Schüler das Weite gesucht.

Heute versucht Selcuk, ihren Verein zu professionalisieren, indem sie Coachings für Rhetorik und Projektmanagement organisiert. Die meiste Freizeit neben dem Studium geht dafür drauf, auch wenn sie zuletzt für ihr Physikum büffeln musste. Selcuk besucht Messen, wo sie und die anderen Informationsstände für Jugendliche zur Berufswahl aufstellen. Und sie selbst? Nach dem Abschluss will die ehrgeizige 22-Jährige in Harvard promovieren und dann als Zahnärztin zurück nach Berlin, wahrscheinlich in die Forschung. „Hier fühle ich mich wohl“, sagt sie. Bundeskanzlerin ist bislang nicht ihr Berufswunsch.

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