Kolumne bei „Opinion Club“ (erschienen am 19.02.2014)
Von Martin Benninghoff
Die Politik bringt entweder bedingungslose Liebhaber oder notorische Hasser Europas hervor. Dabei bräuchten wir endlich Eliten, die Europa von Herzen wollen, im Detail aber kritisch und skeptisch sind
Dieses I-Wort. Integration. Es geht so leicht über die Lippen. Zuwanderer, klar, sollen sich integrieren. Sagen alle. In den links-liberalen Milieus sagt man das leiser, man möchte keine Forderungen an Zuwanderer stellen, etwa die Pflicht zum Spracherwerb, keine Grenzen setzen. Allerdings schickt man dann die eigenen Kinder lieber nicht in die Schulen mit den hohen Migrantenanteilen. Sollen sich doch die anderen um die Integration vor Ort kümmern.
Auch und gerade die Rechtskonservativen fordern Integration, setzen dann aber die Hürden so hoch, dass schnell klar wird: Eigentlich wollen die keine Integration, weil sie keine Zuwanderer wollen. Sie wollen Grenzen. Sie wollen sich abschotten wie die Schweiz. Zu beobachten ist das derzeit bei der Union aus CDU/CSU, die die doppelte Staatsbürgerschaft in der Großen Koalition am liebsten über den Hinterausgang wieder entsorgen würde.
Ähnlich sieht es bei der anderen großen und wichtigen Integration aus, die unser aller Leben bestimmt: der europäischen Integration.
Auf der einen Seite agieren Eliten, die unbedingt Integration, also die weitere Verquickung der Mitgliedsstaaten, wollen, sich aber schwertun mit Grenzsetzungen, etwa bei der Frage, was Brüssel alles entscheiden soll. Und die in ihren großen Sonntagsreden zu selten auf die Risiken und Nebenwirkungen der Personenfreizügigkeit zum Beispiel hinweisen. Ab und an muss dann ein vernünftiger kommunaler Oberbürgermeister sagen, mit welchen Problemen er in bestimmten Stadtteilen zu tun hat, weil es dorthin ein paar problembeladene Menschengruppen verschlagen hat, die sehr arm und sehr bildungsfern sind.
Eine solche Diskussion um die sogenannte Armutszuwanderung nutzen die Rechtskonservativen dann, um sich in ihrem beschränkten Nationalismus bestätigt zu fühlen. Frei nach dem Motto: Obacht, Neukölln oder Chorweiler oder Wilhelmsburg ist überall! Das sind diejenigen Meinungsführer, die offiziell zwar auch irgendwie Integration wollen, aber nur nach eigenem Regelwerk, mit so hohen Hürden, dass schnell klar wird: Eigentlich wollen sie keine Integration, weil sie den Nationalstaat viel lieber haben als Europa. Sie wollen Grenzen. Sie wollen Deutschland. Und so laut sie behaupten, dass sie eigentlich Europa retten wollen, so verräterisch sind ihre Wahlkampfslogans: Mut zu Deutschland.
Beide Themen – die europäische Integration und die Integration der Zuwanderer – werden leider von Schwarz-Weiß-Eliten bestimmt. Lange Zeit befand sich bei den Zuwanderungsdiskursen die Multi-Kulti-Abteilung-Attacke unversöhnlich mit den Ewiggestrigen der „Wir sind kein Einwanderungsland“-Abwehrbataillone im Stellungskrieg. Mit der schlimmen Folge, dass die vielen Zwischentöne nicht mehr wahrgenommen wurden.
Die Erfolge in der Integrationspolitik wurden unter einem Berg immer wieder aufs Neue aufgetürmter Negativbeispiele von Ehrenmord und Zwangsheirat zugedeckt. Mit den ewig düsteren Prophezeiungen über ein Deutschland, das sich angeblich selbst abschafft, hätte es das Land fast geschafft, einen Teil der Zuwanderer nachhaltig zu verschrecken.
In Europa ist es ähnlich: Während die einen Europa immer wieder als beispielloses Friedensprojekt glorifizieren, das quasi über Nacht all unsere Probleme löst, sehen die anderen in Brüssel eine Art EU-Pjöngjang mit diktatorischer Weisungsbefugnis des Grauens. Bestimmungen zum Krümmungsgrad der Gurke inklusive. Was für ein trauriges Schwarz-Weiß-Bild eines komplizierten Gebildes, das – Achtung Binsenweisheit – wie alles auf der Welt Vor- und Nachteile hat. Und doch im Kern das Beste ist, was diesem ehedem heillos zerstrittenen Kontinent je passiert ist.
Könnte es sein, dass wir uns bessern?
Beim Thema Zuwanderung hat sich in vergangenen Jahren das Schwarz-Weiß-Bild etwas zugunsten einiger Farb- und Schattierungsnuancen gewandelt. Das ist gut so. Linke haben dazugelernt, dass man durchaus von Zuwanderern verlangen kann, die Sprache der neuen Heimat zu lernen, und dass solche Forderungen nicht gleich rechtspopulistisch oder schlimmer sind. Die Rechten kommen zunehmend auf den Trichter, dass Zuwanderer vielleicht doch mehr Gutes als Schlechtes in ein Land bringen können. Dass Deutschland ein attraktives Einwanderungsland geworden ist – und ökonomisch profitiert.
Die Debatte jedenfalls wurde versachlicht. Und eine Sarrazin-Diskussion wie vor vier Jahren scheint heute – im Jahr 2014 – schon wie eine Geschichte aus der Urzeit. So was wird nicht mehr wiederkommen.
Diesen Sprung in der Debattenkultur brauchen wir auch für die europäische Integration.
Hier stehen sich noch immer die Schwarz-Weiß-Bataillone gegenüber. Und es kann gut sein, dass es eines Tages zum großen Krach kommt, nämlich dann, wenn diejenigen, die eigentlich kein Europa wollen, in großer Zahl im EU-Parlament sitzen. Mit den Rechtspopulisten aus Frankreich und Holland, aber auch mit Teilen der AfD, lässt sich tatsächlich kein Europa reformieren oder bauen. Sie wollen kein integriertes Europa, ihnen geht es nur insofern um Solidarität mit den Nachbarn, als dass diese dann in ihren Ländern bleiben. Als Geschäftsgrundlage für ein vereinigtes Europa ist diese Vorstellung armselig.
Andererseits: Was nutzt es, wenn viele Menschen diesen Parteien ihre Stimmen geben, weil sie keine andere, bessere Wahl sehen? Wie kann es sein, dass in den Bevölkerungen ein großer Teil EU-skeptisch abstimmen würde, die europäischen Spitzenkandidaten bei der Europawahl – Juncker, Verhofstadt und Schulz – aber allesamt große Glorifizierer Europas sind? Ist von ihnen zu erwarten, dass sie die Skepsis in Teilen der Bevölkerung aufnehmen?
Wohl kaum.
Was ich mir wünschen würde: Einen Typus Europapolitiker, der Europa aus ganzem Herzen will, aber deshalb umso kritischer ist, was die konkrete Ausgestaltung angeht. Martin Schulz hat das durchaus begriffen, wenn er in seinem Europawahlkampf vor allem mit der Forderung auftritt, Europa müsse nicht alles regeln. Die Frage ist nur, ob das glaubhaft ist und ob die Europa-Skeptiker sich einen Martin Schulz überhaupt noch anhören.
Fest steht, zu den glorifizierenden Europa-Funktionären brauchen wir mehr Akteure, die einen realistischen und ergänzenden Blick haben auf das mitbringen, was Europa leisten kann und was eben nicht. Europapolitiker, die genau das auch noch erklären können – und glaubhaft sind.
Andererseits sollten das auch Politiker sein, denen man abnehmen kann, dass sie die europäische Einigung im Grundsatz gut finden, sie nicht in Frage stellen. Von denen, die nur vorgeben, Europa zu wollen, von all den Hans-Olaf-Henkels und Bernd Luckes, kann man das wahrlich nicht behaupten. Sie sind und bleiben in einem nationalkonservativen Denken der vergangenen Jahrhunderte stecken.
Martin Benninghoff, Journalist in Hamburg und Berlin, ist Co-Autor des Buches „Aufstand der Kopftuchmädchen“, das sich mit der Reform des Islam und der Integration in Europa beschäftigt, und Redakteur bei „Günther Jauch“ (ARD). Seine OC-Kolumne MyGration erscheint jeden zweiten Mittwoch.