Kolumne GRENZGÄNGER bei OPINION CLUB (15.10.2014)
Von Martin Benninghoff
Kim Jong-un war verschwunden. Vom Militär weggeputscht? Von Dennis Rodman entführt? Nordkorea regt immer zu Räubergeschichten an. Doch die Wahrheit ist vermutlich profaner
Kim Jong-un ist wieder da! Glaubt man zumindest der nordkoreanischen Nachrichtenagentur, die am Dienstag Bilder ihres Führers bei einer der typischen Vor-Ort-Inspektionen veröffentlichte. Lachend, putzmunter, mit einem schwarzen Gehstock. Die Message: Unser Führer lebt, es gibt keinen Machtkampf in Pjöngjang.
Schade eigentlich, dass die Zeit des wilden Herumphantasierens damit zunächst vorbei ist. Die vierwöchige Abstinenz war – wie so oft beim Thema Nordkorea – Botenstoff für die Phantasie-Synapsen westlicher Journalisten:
Wo, verdammt nochmal, steckt bloß dieser Kim Jong-un so lange? Spielt er vielleicht irgendwo Basketball mit Dennis Rodman? Bastelt er in einem seiner Paläste an Interkontinentalraketen? Hat er einfach keine Lust auf lästige Parteijubiläen oder sonstige Aufmärsche, an denen es, im Gegensatz zu vielen anderen Dingen in Nordkorea, wahrlich nicht mangelt? Trägt er lieber die Sonnenbrillen seines Vaters auf? Lässt er sich eine neue Frisur schneiden, und das dauert eben? Steckt er vielleicht am neuen Berliner Flughafen, hat da mal einer nachgeschaut?
Bevor Sie jetzt denken, ich sei irregeworden: So oder so ähnlich muteten bis gestern viele Spekulationen über den Verbleib des nordkoreanischen Führers Kim Jong-un an, der einige Wochen nicht mehr in der Öffentlichkeit aufgetreten war. Natürlich nicht ganz so schlimm – aber ein bisschen schon.
Klatsch für Politik-Interessierte
Warum sind wir alle so versessen auf Kim-Jong-un-Geschichten? Auf den letzten Tratsch rund um kuriose Diktatoren-Frisuren? Warum halten wir in Nordkorea alles Verrückte für möglich? Keine Frage, offenbar hören wir gerne Klatsch und Tratsch, und die etwas bizarre Diktatur auf der koreanischen Halbinsel beflügelt unsere Phantasie wie ein hell erleuchtetes Zimmer, das nur durch einen Türspalt den Blick ins Innere erlaubt.
Das ist natürlich menschlich verständlich, aber nicht sonderlich hilfreich, sollte ein ernsthaftes Interesse an diesem Land bestehen. In diesem Fall sollte man sich nämlich eingestehen, dass zwar vieles kurios anmutet in Nordkorea, die Strukturen und politischen Naturgesetze aber recht ähnlich funktionieren wie in allen anderen Staaten inklusive der parlamentarischen Demokratien in Europa.
Nehmen wir beispielhaft die Machtfrage: Ähnlich der Kanzlerin in Deutschland braucht auch ein nordkoreanischer Diktator eine Quelle für seine Macht. Freilich, die Quelle in Pjöngjang sprudelt ganz woanders als in Berlin: Die natürlich gar nicht freien Wahlen zur Obersten Volksversammlung dienen der Loyalitätsbekundung zur politischen Führung, nicht jedoch der Wahl eines Regierungschefs wie in Deutschland.
Kim Jong-uns Macht speist sich aus der Quelle seines Großvaters, des ewigen Präsidenten und von vielen Nordkoreanern sicherlich ernsthaft bewunderten Staatsgründers Kim Il-sung. Er starb 1994, nachdem er rund zehn Jahre seinen Sohn Kim Jong-il zum Nachfolger aufgebaut hatte. Als der Sohn 2011 verstarb, rückte Kim Jong-un, dessen Sohn, nach. Was allerdings nicht selbstverständlich war, schließlich war dieser erst kurz zuvor in der Öffentlichkeit als möglicher Nachfolger aufgebaut worden. Kurz vor knapp.
Das komplizierte Machtgeflecht Partei-Staat-Militär
Die Macht in Nordkorea wird vererbt, damit ist das Land die einzige sozialistische Erbmonarchie der Welt, die schon in dritter Generation recht stabil regiert wird. Diese Vererbungslehre hat einen gravierenden Nachteil: Die natürliche Autorität des Großvaters legt sich nicht automatisch auf die Nachfolger, schon gar nicht, je weiter die Zeit und die Generationen voranschreiten. Kim Jong-un tut also vieles, um so volksnah wie sein Großvater zu sein, er weihte Freizeitparks ein, versprach einen steigenden Lebensstandard und gibt sich jovialer als sein zugeknöpfter Vater, viel eher dem Großvater ähnlich.
Das Entscheidende aber ist: Solange die Kim-Dynastie den drei Säulen der Macht – Partei, Staat und Militär – nutzt, so lange wird sie existieren.
Diese Erklärung ist wichtig, will man verstehen, warum Kim Jong-un aller Wahrscheinlichkeit nach fest im Sattel sitzt. Vermutlich ist er wirklich krank, vermutlich brauchte er eine Auszeit zur Rekonvaleszenz nach einem Eingriff. Zumindest ist so etwas wahrscheinlich.
Unwahrscheinlich ist jedoch ein Putsch von Hwang Pyong So, des Leiters des politischen Büros der Volksarmee, der kürzlich anstelle des Despoten bei den Asien-Festspielen in Südkorea auftauchte und ausgerechnet die Entourage Kim Jong-uns bei sich hatte. Woher sollte dieser Militär plötzlich seine Machtlegitimation empfangen haben? Nach der inneren Logik des Systems könnte eine solche Machtübertragung nur über direkte Bande geradewegs vom Staatsgründer Kim Il-sung erfolgen – nicht aber durch eine einzelne Entscheidung des Militärs.
Es sei denn, das System in Gänze wäre gekippt und weggeputscht worden. Dafür aber gibt es keinerlei Anzeichen. Auch für die These, Kim Jong-un sei nur eine Marionette, gibt es nach den parteiinternen „Säuberungen“, die der Führer offenbar zu verantworten hat, nicht wirklich handfeste Indizien. Wahrscheinlicher ist eine breitere Aufgabenverteilung innerhalb des Machtsystems in Pjöngjang.
Hwang Pyong So folgt nur einem Trend, der unter Kim Jong-un schon länger zu beobachten ist: Die Aufgaben des Staates werden auf mehrere Schultern verteilt, auch wenn das Machtzentrum unangefochten die Kim-Familie bleibt. Diese Aufgabenverteilung macht Sinn, weil sich auch das relativ isolierte Nordkorea zusehends ausdifferenziert. Eine kompliziertere Gesellschaft erfordert eine breitere Machtbasis, die nicht mehr ausschließlich aus einem Führer bestehen kann – erst recht nicht, wenn dieser noch jung ist und „nur“ der Enkel des großen Staatsgründers.
Nordkoreas Klammer ist immer noch die Kim-Dynastie
Salopp gesagt, alles wird ein bisschen komplizierter: Zumindest in den Städten ist eine Mittelschicht entstanden, die sogar mit Privatautos unterwegs ist, gerne in Restaurants geht und Handys nicht nur zum Telefonieren, sondern auch als Statussymbol nutzt. Diese vorsichtige Liberalisierung birgt sowohl für das Militär als auch die Partei die Gefahr, dass die Menschen autonomer werden und mehr von der Außenwelt mitbekommen, zumal illegale Importe aus China überall zu bekommen sind. Es gibt wirtschaftsliberalere und strengstens stalinistische Kräfte in der Führung, die allesamt Aufgaben übernehmen, weil sie eingebunden werden müssen.
Die Klammer aber ist die Ideologie des Systems – personifiziert in der Kim-Dynastie. Sie hält den Laden zusammen. Warum sollte also Kim Jong-un weggeputscht werden? Wer würde davon profitieren?
Erst wenn die Elite des Landes um ihre Pfründe bangt, weil das interne Patronage-System nicht mehr funktioniert und Kim Jong-un zu sehr in ihre Privatgeschäfte eingreift, könnte er die Loyalität von Militär und Partei arg auf die Probe stellen. Die Wirtschaftsreformen seines Vaters wurden auch deshalb nach einiger Zeit wieder zurückgedreht. Kim Jong-un selbst wollte mit der Hinrichtung seines Onkels Yang Song Thaek wohl eine starke Warnung an seine Eliten senden, es mit der Autonomie und den eigenen Geschäften nicht zu weit zu treiben. Führer, Militär und Partei – man ist eben aufeinander angewiesen.
Dass dieses System auf gegenseitige Stützung grundsätzlich ins Wanken geraten sein könnte, dazu gibt es derzeit keinerlei Anzeichen. Es gibt also keinen Grund, das Märchenbuch aufzuschlagen und sich in Verschwörungstheorien oder phantastischen Geschichten über den Verbleib Kim Jong-uns zu ergehen.
Wer sich übrigens vernünftig informieren möchte über Nordkorea, dem sei das neue Buch von Rüdiger Frank „Nordkorea – Innenansichten eines totalen Staates“ ans Herz gelegt. Frank ist Koreanist und bereist das Land seit den Neunziger-Jahren regelmäßig, hat dort auch gelebt. Abraten möchte ich von solchen Witzbüchern wie dem Spiegel-Bestseller „Kim & Struppi – Ferien in Nordkorea“, das allenfalls mit Klischees, Missverständnissen und grottigen Übertreibungen auffällt. Autor Christian Eisert ist ein Mal ins Land gereist – und so lesen sich seine Erkenntnisse auch. Wie sagte die Koreanistin Helga Picht zu Rüdiger Frank: Wer ein Buch über Nordkorea schreiben will, sollte entweder für zwei Wochen ins Land fahren oder sich zwei Jahrzehnte lang damit beschäftigen.
Martin Benninghoff, Journalist in Berlin und Redakteur bei „Günther Jauch“, ist 2012 und 2013 in Nordkorea gewesen, hat für Spiegel Online und einige Zeitungen über die Kim-Dynastie berichtet. Ein Buch ist daraus noch nicht entstanden – da braucht es noch weitere Reisen.
Seine OC-Kolumne “Grenzgänger” erscheint jeden zweiten Mittwoch.