Kolumne GRENZGÄNGER bei OPINION CLUB (01.04.2015)
Von Martin Benninghoff
Die Attraktivität eines Einwanderungslandes verbessert sich nicht durch Sonntagsreden von der „Willkommenskultur“ – der Gesetzgeber muss nun ran
Einwanderung verläuft in Etappen der gegenseitigen Gewöhnung. Erst kamen die Ausländer, also mussten Ausländerbehörden und ein Ausländergesetz her. Dann kamen die Zuwanderer, also musste ein Zuwanderungsgesetz her, das das Ausländergesetz ersetzte. Schließlich kamen die Einwanderer, die ihren Gaststatus bald ablegten, weil sie wirklich bleiben wollten und Nachkommen hatten, die bereits in Deutschland geboren wurden. Das entsprechende Gesetz, das dieser Entwicklung Rechnung trägt, fehlt allerdings.
Wir sind nun nach Jahren der Gewöhnung und der gelegentlichen Reibung in der dritten Phase angekommen: Einwanderer werden gebraucht, Einwanderer sind willkommen. Nur der Gesetzgeber hat das nicht erkannt, noch immer spricht er von Zuwanderung, obwohl wir längst einen Schritt weiter sind. Längst geht es nicht mehr darum, Zuwanderung ausschließlich abzuwehren, längst geht es um eine vernünftige Lenkung und Gestaltung von Einwanderung – und zwar für alle Beteiligten, nicht nur für die Alteingesessenen. Wir brauchen deshalb endlich ein Einwanderungsgesetz.
Ein solches Einwanderungsgesetz sollte die komplexen Regelungen zum Aufenthalts-, Arbeits- und Asylrecht soweit bündeln, das sie für Laien nachvollziehbar und vor allem leicht nachzuschlagen sind. Nicht nur für Laien: Selbst Fachleute in den Behörden verirren sich gelegentlich im Regel-Dickicht. Weniger Komplexität, bessere Verständlichkeit – nur so könnte ein modernes Einwanderungsrecht die nötige Signalwirkung im Ausland entfalten, so dass sich dort qualifizierte Fachkräfte angesprochen fühlen. Zweitens müssten die Hürden soweit gesenkt werden, dass motivierte Berufsanfänger den Sprung ins kalte Wasser nach Deutschland wagen.
Fangen wir mit der Signalwirkung an. Insgesamt müsste ein Paradigmenwechsel her – weg vom restriktiv-defensiv sperrigen „Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern“, hin zu einem offenen und einladenden „Gesetz zur (bedarfsgerechten) Lenkung und Gestaltung von Einwanderung“. Schrecklicher Satz, aber so oder so ähnlich könnte ein taugliches Gesetz heißen. Der Name eines Gesetzes spiegelt ja die Geisteshaltung wider: Die vielbeschworene, aber sonst in Sonntagsreden totgepredigte Phrase von der „Willkommenskultur“ würde somit mit Inhalt gefüllt.
Schlechte Außenwirkung
Doch was nutzt die schönste Botschaft, wenn sie keiner hört? Die Bundesregierung unternimmt zwar erste Versuche, Arbeitskräfte im Ausland anzusprechen – zum Beispiel über mehrsprachige Internetseiten wie „Make it in Germany“. Das allerdings ist so lobenswert wie nicht ausreichend. Die Marke Deutschland als Einwanderungsland ist nicht mal eben so entwickelt und über ein paar Internetseiten vermarktet; die Marke muss leichter verständlich werden, zumal Teile der Einwanderungsregeln von Bundesland zu Bundesland variieren. Die Folge ist, dass die unübersichtlichen Zuwanderungsregeln, die sich mal hier, mal dort im Gesetz befinden, die Hürden höher erscheinen lassen, als sie in der Realität tatsächlich sind.
Ein Beispiel ist die Blue Card. Hochqualifizierte Nicht-EU-Bürger können mit ihr relativ unbürokratisch einreisen, wenn sie ein jährliches Mindesteinkommen von etwas mehr als 48.000 Euro nachweisen können (bei Berufen mit erhöhtem Fachkräftebedarf wurde die Schwelle bereits gesenkt). Trotzdem wird die Blaue Karte nur selten gezogen, weil sie im Ausland schlichtweg zu unbekannt ist und – jetzt kommen wir zum zweiten Punkt – als Eintrittskarte für die wagemutigen und motivierten jungen Fachkräfte zu teuer geraten ist. Wir sollten das jährliche Mindesteinkommen auf 35.000 Euro senken, um auch Leute anzuziehen, die noch am Anfang der Karriere stehen und bei denen gehaltstechnisch noch „Luft nach oben“ ist. Die Wagemutigen und Aufstiegswilligen (Einwanderer sind per Definition eher mobil, wagemutig und gut motiviert, Ausnahmen bestätigen die Regel) könnten dem langsam vergreisenden Deutschland eine Frischzellenkur verabreichen.
Denken wir das weiter: Warum nicht darüber nachdenken, die Gehaltsschwelle für Einwanderer in ländliche Regionen zu senken? Manche Dörfer und Kleinstädte in Deutschland sind regelrecht verödet, weil die Jungen weg sind und die Alten nicht mehr so innovativ und konsumfreudig sind (was ihnen nicht vorzuwerfen ist, sondern der Lauf der Dinge). Deutschlands Mittelstand findet sich nicht nur in den Großstädten, sondern in vielen Regionen in dörflichen und ländlichen Regionen, deren Bewohner sich allerdings nach großstädtischer Infrastruktur sehnen. Der Pioniergeist vieler Einwanderer wäre hier besonders gefragt (ein paar Ideen dazu auch in dieser älteren Kolumne).
Blue Cards sind allerdings etwas für Leute, die bereits einen Job haben. Wir brauchen aber auch Möglichkeiten für Ausländer, in Deutschland auf Jobsuche zu gehen. In der politischen Debatte kommt dabei meist das kanadische Modell eines Punktesystems zur Sprache, das nach Kriterien ökonomischer Nützlichkeit den Zugang ins Land regelt. Ein solches System unter dem Dach eines Einwanderungsgesetzes wäre sicherlich ein weiterer Baustein einer modernen Politik; oftmals aber wird das Punktesystem monolithisch als Lösung aller Probleme gesehen. Das ist absurd: Ein Punktesystem ist ein planwirtschaftliches Modell, das zu frustrierten Arbeitsuchenden führen kann, wenn in Wirklichkeit weniger Jobs da sind als die Bedarfsplanung des Punktesystems vorgesehen hat. Wir brauchen besser mehrere, aufeinander abgestimmte Maßnahmen.
Entlastung des Asylsystems
Zu guter Letzt brauchen wir eine stärkere Verzahnung von Einwanderungs- und Asylgesetzgebung. Bislang ist es so, dass Asylsuchende im Grunde das Land verlassen müssen, wenn ihr Antrag abgelehnt wurde (und keine Duldung erfolgt). Wir wissen jedoch, dass unter den Asylsuchenden eine nicht unbeträchtliche Zahl gut ausgebildeter Arbeitskräfte zu finden ist. Warum also nutzen wir dieses Potential nicht? Warum diffamieren manche sie als bloße „Wirtschaftsflüchtlinge“ statt ihnen die Möglichkeit zu geben, einen Antrag auf einen Fachkräfte-Aufenthaltstitel zu stellen, wenn der Asylantrag abgelehnt wurde? Zur Arbeitssuche könnte man ihnen Zeit geben. Finden sie keine Arbeit, dann müssten sie später das Land verlassen, zum Beispiel nach einem Jahr. Netter Nebeneffekt: Derlei legale und ehrlich-transparente Wege in die Arbeit würden das gebeutelte Asylsystem entlasten, weil viele, die bisher einen Asylantrag stellten, dann direkt einen legalen Aufenthaltstitel beantragen könnten.
Nehmen wir noch weitere Zutaten, wie eine bessere Anerkennung von ausländischen Abschlüssen, packen großzügigere Regelungen für die Vergabe der Staatsbürgerschaft dazu, ergänzen wir das Ganze um umfangreiche Sprach- und Integrationskurse – fertig wäre ein Attraktivitätspaket unter dem Titel Einwanderungsgesetz. Dabei sollten wir darauf achten, dass wir ökonomische Nützlichkeitserwägungen und menschenrechtliche Flüchtlingspolitik in ein Gleichgewicht bringen – beides gegeneinander auszuspielen wäre sonst der Tod einer echten Willkommenskultur. Das Schöne ist eigentlich, dass die im Bundestag vertreten Parteien, bei allen unterschiedlichen Vorstellungen im Detail, alle nicht abgeneigt sind, das Einwanderungsrecht auf neue Füße zu stellen. Warum nur tut sich dann so wenig?
Martin Benninghoff, Journalist und Redakteur von „Günther Jauch“ in Berlin, freut sich, dass die Einwanderungsdebatte wesentlich sachlicher geworden ist. Seine OC-Kolumne “Grenzgänger” erscheint jeden zweiten Mittwoch.