Kolumne GRENZGÄNGER bei OPINION CLUB (15.04.2015)
Von Martin Benninghoff
Deutschlands Autofahrer-Mentalität macht unsere Städte kaputt. Es ist Zeit für das große Umparken im Kopf: Lasst uns darüber nachdenken, Autos aus den Städten zu verbannen
Gleich vorneweg: Ich mag Autos. Ich fahre sehr gerne Auto. Ein Auto ist für mich nicht nur ein nützliches Vehikel, um von A nach B zu kommen, ein Auto ist einer meiner Schlüssel zum Gefühl, frei zu sein und tun und lassen zu können, was ich will. Ein Auto in erreichbarer Nähe stehen zu haben, ist kein Luxus, es ist ein wärmendes Gefühl des Möglichseins: Ich kann los, und zwar jetzt, wenn ich will, aber natürlich muss ich nicht. Ein autofreies Leben kann ich mir, der auf dem Land groß wurde, nicht vorstellen, ganz anders als so mancher Zeitgenosse, der zeitlebens in Großstädten lebt.
Trotzdem habe ich ein gespaltenes Verhältnis zum Auto. Bisher lebte ich in drei der vier größten Städte Deutschlands; und die meisten mittleren und großen Städte, die ich kenne, ersticken am Autoverkehr. Nicht nur im wörtlichen Sinne am rollenden Verkehr, der die Luft verpestet und dessen Lärm krank macht, sondern auch an den parkenden Autos, die zwar für den Moment keine Schadstoffe ausspucken, dafür aber kostbaren Platz inmitten des eng begrenzten Großstadtraumes blockieren. Das Auto zerstört die Lebensqualität der Städter, und die positiven Aspekte eines ungezügelten Stadtverkehrs schrumpfen angesichts der Staus und der vielen Nachteile auf Mini-Format.
Warum denken wir deshalb nicht ernsthaft über autobefreite Städte nach? Warum räumen wir dem Autoverkehr in unseren Städten – und damit in unserer Lebensmitte – einen derart großen Platz ein und machen uns das Leben selbst schwer? Einer aktuellen Studie zufolge, die Bundesumweltministerin Barbara Hendricks in Auftrag gegeben hatte, fordern ja angeblich 82 Prozent der befragten Deutschen die Verkehrsplaner auf, Städte stärker an den Bedürfnissen von Fußgängern, Radfahrern und ÖPNV-Nutzern auszurichten. Warum passiert dann so wenig?
Radfahrer haben das Nachsehen
Eine Antwort könnte sein: In unseren Köpfen, aufgewachsen in einem Land, das Mercedes, BMW, Audi und Porsche hervorgebracht hat, ist es schlichtweg eingeübt, starke, verbrennungsmotorgetriebene Autos mit all ihrem Dreck und Lärm gut zu finden.
Ein Gedankenexperiment: Stellen Sie Ihr Fahrrad oder Ihren Kinderwagen (bitte ohne Kind) einmal auf dem rechten Streifen einer zweispurigen Straße ab. Mit Sicherheit ernten Sie erboste und aggressive Rufe von Autofahrern, die tatsächlich gezwungen werden, einen Bogen um Sie zu machen. Wenn Sie es auf die Spitze treiben, wird es wahrscheinlich nach wenigen Minuten handgreiflich. Autos auf Radstreifen parken – das ist in Autofahrer-Deutschland so was in Ordnung, dass es weh tut. Radfahrer müssen in Städten ständig ausweichen, sei es vor Vorfahrt nehmenden Autos oder sich öffnenden Autotüren.
Ich wohne nicht weit vom Kurfürstendamm in Berlin, zugegebenermaßen eine der autoreichsten Ecken in Deutschland. Der Ku’Damm ist ein Autofahrerboulevard, auf dem die Fahrer dicker Mercedes-, BMW-, Porsche- und SUV-Karossen gerne hoch und wieder herunterfahren. 50 Kilometer pro Stunde sind hier erlaubt, streckenweise nur 30 km/h, eine Busspur ist nur öffentlichen Verkehrsmitteln und Fahrradfahrern erlaubt. Viele der Großkarossenlenker halten sich nicht daran, sie scheren aus, wann immer sie wollen, und sie fahren natürlich schneller als erlaubt. Es ist ja auch nicht einfach, das Gaspedal mit dem nötigen Zehenspitzengefühl zu bearbeiten, wenn 400 PS unter der Motorhaube wummern. Für Radfahrer sind solche Straßen ein gefährliches Pflaster. Fußgängerüberwege finden sich meist nur an den weit auseinanderliegenden Kreuzungen.
Was für den Ku’Damm in besonderem Maße gilt, gilt für die meisten Großstadtstraßen in Deutschland: Der Stärkere bestimmt die Regeln, und das sind im Normalfall die Autofahrer.
Deshalb brauchen wir als erstes einen Bewusstseinswandel weg vom Auto-Bürger hin zum Fußgänger-Bürger, den Radfahrern und dem ÖPNV. Stellen wir uns den Ku’Damm einmal als Flaniermeile vor, auf dem sich Fußgänger und Radfahrer tummeln, auf dem auf einer gesonderten Spur Elektro- bzw. Hybrid-Taxis und Busse den öffentlichen Personennahverkehr besorgen und ansonsten nur Autos mit einer Sondergenehmigung fahren dürfen. Die Lebensqualität – auch die Anmutung dieser wichtigen Tangente durch Berlin – würde sich um ein Vielfaches verbessern.
Lebensqualität entsteht durch freie Räume, aber freie Räume sind in Auto-Deutschland leider rar. Parkplätze, Parkbuchten, „mal eben so abgestellte“ Autos auf den Gehwegen sorgen für einen enormen Flächenverbrauch. Tiefgaragen und Stellplätze verteuern den Wohnungsbau. Das Umweltbundesamt hat einen Zusammenhang zwischen Straßenlärm und Herz-Kreislauf-Erkrankungen der Anwohner nachgewiesen, dazu kommen die Schadstoffemissionen von Benzinern und vor allem Diesel-Fahrzeugen, von Unfällen mit Verletzten oder gar Toten gar nicht erst gesprochen. Autos und Straßen durchschneiden zudem die Kontakträume der Menschen: Ein schlimmes Beispiel dafür ist die sogenannte Nord-Süd-Fahrt in Köln, die die Stadt wie eine Autobahn durchzieht und im Grunde in zwei Teil-Kölns splittet. Autofreie Straßen könnten dagegen die Beweglichkeit der Menschen fördern und ein engeres Netz an Sozialkontakten begünstigen. Kinder könnten wieder alle Wege – inklusive der Schulwege – alleine bewältigen.
Urgemütliche Zentren statt Stadtautobahnen
Städteplaner wissen das ja, zu wenig wird aber getan. Bislang reagieren die Kommunen mit verbreiterten Straßen, wenn es für den Verkehr eng wird, statt die Gretchenfrage zu stellen: Wenn Europas Städte vor Jahrhunderten für Fußgänger und Reiter bzw. Kutschen gebaut wurden, was soll daran schlecht für die Gegenwart sein? Schauen wir uns nicht nach wie vor gerne Altstadtgassen an? Gehen wir nicht lieber in schön gelegene Lokale an netten Plätzen, die durch gemütliche Gassen zu erreichen sind? Gehen wir nicht gerne in Fußgängerzonen einkaufen und flanieren? Bevorzugen wir bei Städtereisen nicht vor allem jene italienischen, spanischen oder griechischen Ziele, die mit enggassigen, aber urgemütlichen Zentren aufwarten, wo das Leben auf der Straße stattfindet? Enge Gassen, die in autofreie Plätze münden, dann wieder breite Boulevards, die die Aussicht nach außen öffnen – es sind die autofreien Ecken und Räume, die eine Stadt lebenswert machen.
Konkrete Vorbilder gibt es ja: Venedig zum Beispiel, Europas größte, gänzlich autofreie Stadt. Kleinere Städte in der Schweiz sind ähnlich radikal, Zermatt im Wallis beispielsweise. Dort dürfen nur Elektroautos fahren. Wer nach Zermatt will, muss seinen Wagen in dem davor liegenden Ort Täsch abstellen und mit Bus oder Bahn in die Stadt fahren. Dieses Modell bewährt sich seit Jahrzehnten, übrigens auch wirtschaftlich.
Wenn ich bedenke, dass ich in einer nordrhein-westfälischen Kleinstadt zur Schule ging, in der sich die Geschäftsleute seit Jahrzehnten gegen eine autofreie Einkaufsstraße wehren, kann ich nur konstatieren: Die haben das Umparken im Kopf noch nicht ansatzweise geschafft. Die Geschäftsleute und Inhaber würden von attraktiveren Räumen, in denen sich die potentiellen Kunden wohlfühlen, stark profitieren. Und für die Anlieferung per Auto oder LKW gäbe es natürlich Ausnahmegenehmigungen.
Klar, es gäbe es auch Reform-Verlierer: Tankstellen im Innenstadtbereich zum Beispiel. Aber radikale Lösungen sind mittelfristig gedacht, Übergangszeiten würden Anpassungen ermöglichen, etwa die Umstellung auf „Betankung“ und Reparatur von Elektromobilen. Das Gewerbe würde eher in die straßennahen Vororte ziehen, aber das tut es ja bereits lange.
Radikale Lösungen wie in Zermatt eignen sich besonders gut für Kleinstädte, aber auch Großstädte sollten ihre Innenstadtbereiche zu autofreien Zonen erklären. Ankömmlinge könnten ihre Autos auf großen, bewachten Parkplätzen an den Stadträndern abstellen und dort direkt in (möglichst kostengünstige) Bahnen umsteigen. Innerstädtisch wären nur Elektrofahrzeuge zugelassen, die man entweder selbst besitzt oder – besser – in Form von Carsharing-Angeboten direkt auf dem Stadtrandparkplatz anmietet und wieder abgibt. Sondergenehmigungen für Alte, Kranke, Behinderte wären natürlich zu diskutieren.
Großstädte gewännen an Attraktivität. Fahrradstraßen würden weitere Radfahrer anziehen; wer unsportlich ist und partout nicht Radfahren oder laufen will, muss das auch in Zukunft nicht tun. Elektro- oder Hybridtaxis und –busse könnten den Individualverkehr weitgehend ersetzen. Und der Spaß am eigenen Autofahren, das Freiheitsgefühl und die individuelle Mobilität wären von dieser mutigen Verkehrspolitik ohnehin nicht betroffen. Denn seien wir ehrlich: Der Spaß am Autofahren kommt sowieso nur jenseits der Stadtgrenzen auf Autobahnen und Landstraßen auf.
Martin Benninghoff, Journalist in Berlin und Redakteur bei „Günther Jauch“, fährt übrigens ein Auto, das gemeinhin mit Opas und Hut auf der Ablage verbunden wird: Opel. Seine OC-Kolumne “Grenzgänger” erscheint jeden zweiten Mittwoch.