Kolumne GRENZGÄNGER bei OPINION CLUB (29.04.2015)
Von Martin Benninghoff
Der Prozess gegen den ehemaligen SS-Mann Oskar Gröning dient nicht nur der Versöhnung mit der Vergangenheit. Er ist eine praktische Lehrstunde mit Anschauungsmaterial für die Gegenwart
Wer die Frage aufwirft, ob wir den Prozess um den ehemaligen SS-Mann Oskar Gröning wirklich benötigen und vielleicht sogar weitere Prozesse gegen Ex-SS-Leute, der wird vermutlich mit dem Recht der überlebenden Holocaust-Opfer auf Gerechtigkeit antworten. Ja, und das bleibt der wichtigste Grund: Solange die Überlebenden der Nazi-Tyrannei leben, solange stellt sich die Frage ohnehin nicht, ob man einen 93-Jährigen (oder 89-Jährigen oder 112-Jährigen) vor Gericht bringen muss (strafrechtlich spielt das Alter zunächst einmal ohnehin keine Rolle).
Ein zweites Argument aber ist kaum minder wichtig: Nicht nur der Prozess in seiner Form ist entscheidend, sondern vor allem das, was der Angeklagte Oskar Gröning vor Gericht aussagte, und das ist bemerkenswert: Der 93-Jährige, dessen Reue nach Einschätzung seiner Anwälte echt ist, verfiel in den ersten Verhandlungstagen in den Nazi-Jargon seiner Jugendjahre. Über den Polenfeldzug zum Beispiel sagte er „In 18 Tagen haben wir die Polacken verhauen“, um deutlich zu machen, wie begeistert er als junger Spund von den grausigen Möglichkeiten der Wehrmacht und der Waffen-SS gewesen war.
Ob das der bloße verbale Rückfall eines alten Mannes in seine Jugendjahre war oder doch noch ein Bruchstück seiner gegenwärtigen Haltung ist, das ist per Ferndiagnose sicherlich nicht zu bestimmen – ehrlich gesagt, das ist auch gar nicht so wichtig. Viel wichtiger ist die Frage, ob dieser Hang zur ätzenden Abqualifizierung des Anderen und des vermeintlich Fremden eigentlich nur eine Sache von NS-Deutschland war, oder ob sich Muster davon sogar noch heute zeigen.
Um es gleich klarzumachen: Die Bundesrepublik im Jahr 2015 hat nur wenig mit den düsteren Jahren der Nazi-Vergangenheit zu tun. Aber es gibt nach wie vor Tendenzen – am Wohnzimmertisch, in der Öffentlichkeit, der Politik und den Medien -, zu „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“, wie der Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer etwas umständlich formulierte. Die Bandbreite des Schreckens reicht von Homophobie bis klassischem Sexismus, von Ausländerfeindlichkeit bis Islamhass, von Abwertung von Hartz-IV-Empfängern oder Asylbewerbern bis hin zu Antisemitismus.
Mechanismus des Unwesens
Sprache prägt hierbei das Bewusstsein – und andersherum: Wer einen einzelnen Menschen auf seine Zugehörigkeit zu einer Gruppe reduziert („Zigeuner“, Muslim, „Polacke“), entmenschlicht und entindividualisiert in der Konsequenz die Person. Plötzlich wird aus einem denkenden, atmenden und empfindsamen Einzelwesen ein bloßer Funktionsträger – im schlechtesten Sinne Träger angeblicher negativer Funktionen („die Ausländer sind verantwortlich für den Anstieg von Kriminalität“, „die Juden sind schuld…“). Denkt man diese Kette weiter, so erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass aus bloßer verbaler Abneigung eines Tages Gewalt gegen die Person, die keine Person mehr sein soll, erwächst.
Dieser Mechanismus treibt auch heute sein Unwesen. Wenn populistische Politiker, Stammtischbrüder oder Mitfahrer in der U-Bahn ALG-II-Empfänger als Faulenzer verunglimpfen, Reiche pauschal als Schmarotzer oder Muslime als Hinterwäldler diffamieren, sollten wir sofort einschreiten und widersprechen. Was vielleicht nur als Witz oder dummer Spruch gemeint war, ist in Wahrheit schon die erste Stufe in die Richtung, die der heute 93-jährige Oskar Gröning in Jugendzeiten einschlug, vielleicht einschlagen musste, weil die damalige Gesellschaft eben nicht einschritt, sondern, im Gegenteil, derartige Dummheiten noch adelte.
Genau das – Einschreiten, Widersprechen – ist im Vorhof der Hölle, den Jahren der Weimarer Republik vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten, zu wenig passiert. Wenn es sich erst eingebürgert hat, über bestimmte Gruppen und damit über Menschen herzuziehen, so dass die Hasserfüllten das Gefühl haben, es ist okay, was sie tun, kann es schon zu spät sein. Das könnte die wichtigste Lehre aus dem Fall des Oskar Gröning sein. Die Formel „Wehret den Anfängen“ mag abgenudelt sein, stimmt aber umso mehr. Ob der alte Mann noch ins Gefängnis kommt oder nicht, ist dann ziemlich unerheblich.
Martin Benninghoff, Journalist in Berlin und Redakteur bei „Günther Jauch“. Seine OC-Kolumne GRENZGÄNGER erscheint jeden zweiten Mittwoch.