Kolumne GRENZGÄNGER bei OPINION CLUB (21.10.2015)
Von Martin Benninghoff
Wer sich von der Globalisierung überrollt fühlt, reagiert mit Angst und Abwehr – die denkbar schlechteste Strategie. Wie es anders geht, zeigte – ausgerechnet – ein japanisches Unternehmen.
Keine Scherzfrage: Was haben Fujifilm und Deutschland gemeinsam? Antwort: Beide produzieren zeitweise zu viele Auslaufmodelle, die die Bilanz belasten. Mit dem feinen Unterschied, dass das japanische Unternehmen die dadurch ausgelöste Krise weitgehend gemeistert hat, derweil Deutschland noch laboriert. Vielleicht könnten wir von Fujifilm lernen.
Fujifilm hat seinen Umsatz jahrzehntelang mit Fotofilmen gemacht. Sie erinnern sich vielleicht, das waren diese kleinen Dinger im Zwölfer-, 24er- und 36er-Format. Eines Tages sorgte die große Digitalisierung dafür, dass aus Absatzwundern Ladenhüter wurden. Fuji blieb auf den Filmen sitzen, das Unternehmen stürzte in eine existenzielle Krise.
Mit Deutschland passiert derzeit etwas Ähnliches, und das hat auch mit Digitalisierung, vor allem aber mit Globalisierung zu tun. Die Technologie und damit die Wirtschaft internationalisieren sich zwar seit Jahrzehnten, aber in den vergangenen Jahren durch die neuen Kommunikationsformen in einem atemberaubenden Tempo. Die Folge sind immer kürzere Produkt- und Innovationszyklen, immer neue Techniken und damit immer neue Konsumverhaltensweisen.
Derlei Veränderungen ziehen einen kulturellen Wandel nach sich: Die Innenstädte verwandeln sich, alte Geschäfte sterben weg, neue Innovationen boomen. Was gestern noch hip war, ist heute schon altbacken und wird morgen wahrscheinlich von den Märkten verschwunden sein. Am Reichtum und am Boom in Europa wollen zudem Menschen verständlicherweise Anteil haben, die in armen Staaten leben, im Internet aber täglich die materiellen und immateriellen Verheißungen in Deutschland und anderswo sehen. Eine Gemengelage, die insgesamt dazu führt, dass sich Deutschland kulturell wandelt.
Wer bei diesem Wettlauf mitrennen kann, das als Bereicherung empfindet, ist fein raus. Andere bleiben auf der Strecke, mutieren zu gesellschaftlichen Auslaufmodellen. Waren Sie eben noch der Star der Produktion, so füllen sie nun die Regale: Ladenhüter.
So wird man zum Ladenhüter
Eine paar aktuelle Beispiele, wie schnell man als Mensch zum Auslaufmodell wird. So ungefähr lauten populäre Erzählungen (die nicht richtig sein müssen, die aber im Mainstream der Gesellschaft eine Rolle spielen):
• Wer heute noch linear Fernsehen schaut, sich also um 20.15 Uhr vors TV-Gerät setzt, um irgendwas zu schauen, ist schwer auslaufmodellgefährdet, denn das machen ja nur noch die Älteren. Jüngere gucken ihre Lieblingsprogramme in Mediatheken und finden die Links dazu auf Facebook oder Google Plus.
• Wer auf dem Land lebt und nicht in einer boomenden Großstadt, kommt langsam aber sicher auf die rote Liste der aussterbenden Arten. Dörfer gelten als rückständig und kulturell langweilig. Zudem sind Dorfbewohner unter dem Strich fremdenfeindlicher als Städter, weil sie keine Migranten als Nachbarn haben und via Fernsehen nur die Problemfälle, nicht aber die gelebte Normalität erleben.
• Wer kein Englisch spricht und nicht weit gereist ist, vielleicht gar nur in den Bayerischen Wald in Urlaub fährt oder, wenn es hoch kommt, nach Ibiza mit deutscher Reisebegleitung, gilt zunehmend als Hinterwäldler. Unsere Großeltern waren so – die konnten nicht anders. Unsere Eltern haben schon Europa erkundet. Sie aber – die unter Vierzigjährigen – würden sich verdächtig machen, wenn sie nur an die Ostsee fahren.
• Verdächtig macht sich noch: Wer sich für eine Partei engagiert, kein Smartphone besitzt, Google für einen Kuchen hält, Zeitung auf Papier liest, für die Kindererziehung dauerhaft zu Hause bleibt und so weiter. Die Liste ist lang.
Wer sich heute über Ladenhüter lustig macht, sollte bedenken: Schon morgen kannst Du der nächste sein. Das Gefühl, mit seinen Lebenseinstellungen irgendwie marginalisiert zu sein, mag ein diffuses Gefühl sein, aber ein wirkmächtiges. Es führt dazu, das alles, was man macht, denkt, tut, erklärungsbedürftig wird. Wer nicht per Handy und WhatsApp zu erreichen ist, wird sich die Frage gefallen lassen müssen, warum man sich verweigert. Bei technischen Geräten mag das harmlos sein, bei zentralen Fragen der Lebenseinstellung allerdings führt das zu Abwehr oder gar zu Hass auf jene, die die Fragen und Forderungen nach Veränderung stellen (so kommt die rhetorische „Gutmenschen“-Abwehr zustande).
Abwehr und Hass sind zwei Reaktionen, die dem „Unternehmen Deutschland“ – neben aller Offenheit und Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge derzeit – Sorgen bereiten müssen. Die AfD und Pegida bieten Menschen Boden, die sich in ihrer Marginalisierung in die Enge getrieben fühlen und deshalb beginnen, Demokratie, Politik und Medien zu verachten. Das Internet ist eine weitere Plattform, die die Verbreitung von Unmut oder gar Hetze fördert: Im harmlosen Falle postet jemand bei Facebook ein Bild mit blühender Wiese und Kuh und der Aufschrift „Lieber Dorf als Stadt“ – darunter ein Moloch mit zugebauten Flächen, kaputten Straßen und Luftverschmutzung. Im gefährlicheren Fall wendet sich der Hass gegen Menschen, und das sind meist die Schwächsten: Fremde.
Ausländer als Sündenböcke
Ja, der Ausländer muss bei manchen wieder mal als Sündenbock herhalten. Es ist ein Irrtum zu glauben, dabei ginge es tatsächlich um ernste Sorgen und pragmatische Fragen der Flüchtlingspolitik oder der Integration von zum Teil anders sozialisierten Menschen. Nein, der Ausländer wird – ganz diffus und allgemein – zum Sündenbock für den gesellschaftlichen Wandel erklärt, ein uralter Topos. Es stimmt ja sogar, dass Migration eine Gesellschaft verändert, aber nicht so stark und vor allem nicht negativ, wie Fremdenfeinde meinen. Der größte Wandler ist die Globalisierung und die Internationalisierung unserer Lebensgewohnheiten, und vielen „Modernisierungsverlieren“ fällt nichts Besseres ein, als mit Fremdenablehnung oder gar Fremdenhass zu antworten.
Einige mögen echte Verlierer sein, die für alle Zeiten verloren sind. Andere aber, die sich für ein Auslaufmodell halten und beim Wandel der Gesellschaft nicht mehr mitkommen und sich deshalb Fremdenfeinden in die Arme werfen, haben vielleicht bislang keine bessere Bewältigungsstrategie für sich gefunden. Ihnen müsste geholfen werden (wenn es das ist, was manche als „Sorgen der Bürger“ bezeichnen, die man ernstnehmen müsse, dann finde ich nicht, dass man die Sorgen inhaltlich unbedingt ernstnehmen muss. Man muss aber die Gemütsverfassung der Menschen ernst nehmen und ihnen gegebenenfalls helfen, da rauszukommen).
Kommen wir nochmal zurück zu unserem Beispiel Fujifilm: Angenommen, der Unternehmenschef Shigetaka Komori hätte sich damals, als die Digitalisierung das Kerngeschäft bedrohte, auf Abwehr und Schimpfen beschränkt – Fuji würde es heute nicht mehr geben. Stattdessen hat Komori Geschäftsfelder hinzugekauft – Kosmetik, Medizintechnik, Pharmageschäft sowie Nano- und Biotechnologie – und sie unter einem Holdingdach vereint. Fujifilm geht es heute wieder wesentlich besser, und die Zukunft sieht wieder rosig aus.
Als Mensch muss man gewissermaßen auch hinzukaufen. Wer das Gefühl hat, gesellschaftlich ins Hintertreffen zu geraten, sollte versuchen aufzuholen. Sollte Sprachen lernen. Sich mit fremderen Menschen auseinandersetzen. Dazulernen. Wer das nicht will, kommt aus seiner Depression niemals heraus. Dann bieten Sprüche auf Pegida-Demos vielleicht kurzfristig psychologische Entlastung (endlich sagt’s mal jemand…), aber mittelfristig wächst die Unzufriedenheit, die letztlich eine Unzufriedenheit mit sich selbst ist. Wer will so schon leben?
Martin Benninghoff ist Journalist in Berlin und Redakteur bei „Günther Jauch“. Seine OC-Kolumne „Grenzgänger“ erscheint jeden zweiten Mittwoch.