Kolumne GRENZGÄNGER bei OPINION CLUB (16.12.2015)
Von Martin Benninghoff
An politischen Talkshows im deutschen Fernsehen scheiden sich die Geister. Manche Kritik ist berechtigt, manche Missverständnisse trüben aber auch den Blick auf dieses Fernsehformat.
Braucht es politische Talkshows im Fernsehen? Wenn man den einen oder anderen TV-Kritiker liest, dann wohl eher nicht: Zu oberflächlich, zu einfach gestrickt, zu boulevardesk seien die Formate von Anne Will, Günther Jauch, Frank Plasberg und Maybrit Illner, so die Urteile mancher Schreiberlinge. Oft sind das harsche Urteile, die nur Schwarz oder Weiß kennen: Talkshows? Die brauche doch kein Mensch!
Das stimmt zunächst: Brauchen, das ist wahrlich ein großes Wort. Wir brauchen Brot, Wasser und Strom. Aber Talkshows? Es geht auch ohne, das ist klar! Allerdings sind sie sehr nützlich, wie gerade die Kritiker mit ihren harschen und unerbittlichen Reaktionen zeigen – eine psychologische Dialektik, die ihnen selbst offenbar nicht bewusst ist. Talks treffen gelegentlich wunde Punkte in der Gesellschaft, und deshalb können sie – neben dem Unterhaltungsfaktor – eine wichtige Funktion erfüllen.
Gerade weil die Talksendungen häufig polarisieren, erfüllen sie einen Zweck: In ihnen und an ihnen werden politische Grenzen verhandelt. Grenzen des Anstandes, politische Grenzziehungen, rhetorische Grenzen. Die Talkshows bieten dabei eine einfache öffentliche Arena, die die verästelte und weit verzweigte Medienlandschaft aus Zeitungen, Onlineseiten und TV-Spartensendungen nicht bieten kann.
Arena der Grenzverschiebungen
In Talksendungen werden Grenzen verhandelt. Am vergangenen Wochenende befasste sich die „Süddeutsche Zeitung“ mit der Frage, ob die deutsche Gesellschaft in Zeiten des „Pegida“- und AfD-Fremdenhasses ihre ausbalancierte Mitte verloren habe. In dem langen und umfangreichen Artikel wurde mehrmals Bezug genommen auf den umstrittenen Auftritt des AfD-Politikers Björn Höcke in der ARD-Talkshow „Günther Jauch“.
Stets schwang die Frage mit, ob man einem solchen Politiker überhaupt eine mediale Plattform bieten dürfe. Es ist die Mutter aller Fragen, die politischen Talkshows regelmäßig gestellt wird, schon als Republikaner-Chef Franz Schönhuber einst bei Thomas Gottschalk im Talk saß oder Österreichs Rechtspopulisten-Vorreiter Jörg Haider bei Erich Böhme.
Die Öffentlichkeit diskutierte danach stets über die Moderatorenleistung, dabei ging es in Wahrheit um eine ganz andere Frage: Wie gehen wir alle mit solchen Figuren der politischen Landschaft um? Erübrigt sich der Spuk, wenn wir solche Rechtskrakeeler einfach ignorieren? Oder müssen wir uns ihnen inhaltlich stellen? Und wenn ja, wie? Eine Talkshow kann für diese so wichtige Debatte eine knotenlösende Funktion haben. Nicht mehr, nicht weniger.
Es gibt keinen Grund, einen Rechtspopulisten einer unbedeutenden Kleinstpartei in die öffentliche Arena einzuladen, und es wäre falsch, Aktivisten oder Politiker einzuladen, die klar und deutlich verfassungsfeindlich eingestellt sind. NPD-Politiker braucht kein Mensch im Fernsehen (zumindest so lange diese Kleinstpartei nicht durch irgendein Unglück an Relevanz gewinnt).
Im Falle jedoch der Republikaner in den Achtziger-Jahren, der FPÖ in Österreich oder hierzulande neuerdings der AfD stellt sich aber schon die Frage, wie es sein kann, dass solche Bewegungen Erfolge bis hinein in die Mitte der Gesellschaft einfahren. Sie agieren im legalen oder legalistischen Graubereich, ihnen beizukommen ist schwer – aber es ist besser, es zu versuchen, als es zu lassen. Eine gesellschaftlich höchstrelevante Frage, die sich an Personen manifestieren kann: Sprechen wir mit den „Schmuddelkindern“ oder nicht? Wo verlaufen die Grenzen des Annehmbaren, und wo sagen wir „Schluss! Bis hierher und nicht weiter“?
Das gilt nicht nur für Einladungen an Politiker und Aktivisten des rechts- oder linkspopulistischen Spektrums. Es gilt auch für die Frage, welche Rhetorik in der Flüchtlingsfrage zum Beispiel in Ordnung ist. Wenn ein CSU-Politiker von „Zustrom“ oder „Flüchtlingswelle“ spricht oder Wolfgang Schäuble von „Lawine“ – muss man dem widersprechen oder nicht, wäre Widerspruch in der Sache inhaltlich begründet oder bloße „politische Korrektheit“, um einmal diesen Kampfbegriff politischer Rhetorik zu nutzen?
Das Format nicht überschätzen
Die Talkshow als Fernsehformat kann hierbei allerdings nur ein Debattenbeitrag unter vielen sein, im besten Falle der erste, der Anstoß. Manchmal betrachten Kritiker jedoch eine Talkshow als Hochamt, das sie danach selbstredend in nicht minder pathetischer Weise abkanzeln. Mein Gott, lasst die Kirche mal im Dorf – es ist nur ein TV-Format!
Hingegen sehr differenziert hat der Kollege Falk Heunemann hier im Opinion Club die Rhetoriktricks der AfD-Chefin Frauke Petry in der Sendung „Hart aber fair“ seziert und zugleich die Fallstricke und Schwierigkeiten im Umgang mit solchen rhetorisch begabten und schwer beizukommenden Talkgästen aufgezeigt. Aber auch hier klingt eine grundsätzliche Kritik am Talkformat an, die auf einem Missverständnis beruht: Statt eines „Kreuzverhörs“ habe keiner nachgefragt, man sei „ja schon beim nächsten Thema“. Im Einzelfall ist eine solche Kritik ja berechtigt. Aber ein Kreuzverhör? So dass danach die Kritik hagelt, man habe Frau Petry zu viel Raum gegeben? Richtig nachfragen – nicht zu viel und nicht zu wenig Redeanteil zu geben – ist ein Balanceakt.
Immer wieder gibt es Situationen, in denen die Moderatoren nochmal hätten nachhaken können, vielleicht sogar sollen. Die Kritik aber ist grundsätzlicher: Talker fragten nie nach! Kein Erkenntnisgewinn! Bisweilen liegt das Missverständnis darin, dass eine einstündige oder anderthalbstündige Sendung nur ein Debattenbeitrag sein kann, dem im besten Falle eine Diskussion im Netz gleich zur Sendezeit und später in den langsamerem Medien Tages- und Wochenzeitungen sowie im Fernsehen folgt. Übrigens taugen dazu Talksendungen ganz gut, weil sie politische Themen mit Köpfen verbinden. Ein Problem des so wichtigen Themas Klimawandel ist doch, dass kaum prominente Persönlichkeiten mit diesem Thema verbunden werden (in den USA wenigstens ansatzweise Al Gore). Personen, die für ein Thema stehen, ziehen mitten in die Materie rein. An Personalisierung ist nichts Schlechtes!
Ein Format für Otto-Normal-Zuschauer
Die Maßstäbe verrutschen manchmal auch beim eingeklagten Erkenntnisgewinn. Ein Talk im Mainstream-Fernsehen zur besten oder zweitbesten Sendezeit muss die Dinge auf dem Niveau der durchschnittlichen Zuschauer erklären und ansiedeln und dies bei der Gästeauswahl berücksichtigen (anders sieht es natürlich im Spartenprogramm aus). Ein Problem hat da die Wissenschaft, denn in deutschen Universitätshörsälen wird rhetorische Brillanz leider immer noch als Anschlag auf Seriosität gewertet, während im angelsächsischen Raum Forscher ihre Erkenntnisse einfach und unterhaltend darlegen müssen, wenn sie in der Öffentlichkeit gehört werden wollen. Das gehört dort durchaus zum Jobprofil.
Vielleicht sitzen deshalb häufig – vielleicht zu häufig – Journalisten in den deutschen Talkrunden. Manche von ihnen können zuspitzen und gut erklären, und wenn sie auch noch Expertise und viel Herzblut für ein Thema mitbringen, ist dagegen nichts zu sagen. Es sollte nur nicht zu häufig geschehen. Zudem: Nicht jeder Printjournalist ist dafür gemacht, schon gar nicht jene, die sich für viel klüger als ihre Leser halten.
Klagt also ein Berliner Hauptstadtjournalist, dass er nie Talkshows einschalte, weil dort nichts Neues zu erfahren sei, dann ergeben sich daraus zwei Fragen: Erstens, wie kann man Dinge beurteilen, die man nicht kennt, noch dazu als recherchierender Journalist? Und zweitens, könnte es sein, dass solche Journalisten ihre Adressaten aus dem Blickfeld verlieren? Bei Talks ist der Durchschnitts-Fernsehzuschauer der Adressat, nicht in erster Linie die Politikexperten oder andere Koryphäen. Es wäre keinem geholfen, wenn die Fernsehzuschauer abschalten, weil sie nichts mehr verstehen. Gleiches gilt ja auch für Zeitungen: Wer hier an seinen Lesern vorbei leitartikelt, kann die Druckerpressen gleich bei Ebay zum Verkauf anbieten.
Gästevielfalt statt Talkshow-Touristen
Ein weiteres Klischee besagt, in den Talkrunden säßen immerzu die gleichen Gäste. Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen, ja, es sitzen dort noch viel zu häufig Talkshow-Touristen, die von einem Format ins nächste hüpfen. Das zu kritisieren ist richtig, und jede gute Talkredaktion wird täglich versuchen, genau das zu verhindern und eine bessere Runde aufzustellen.
Wahr ist aber auch: Talkshows leben von Kontroversen und klaren Pro- und Contra-Diskussionen. Dazu braucht es zumindest als Ankergäste erfahrene Streiter, die in der Lampenfieber-Situation vor einem Millionenpublikum durchhalten und sich nicht von der Prominenz und der Eloquenz der Debattengegner einschüchtern lassen. Klare Kontroversen mit Erkenntnis- und Unterhaltungsfaktor entstehen durch erfahrene Diskutanten, die in der Fernseh-, womöglich sogar in der Livesituation „funktionieren“.
Im besten Falle gelingt eine Neuentdeckung. Ein unprominenter Aktivist beispielsweise, der in der Flüchtlingsfrage einen klaren Standpunkt vertritt und sich auch nicht von prominenten Kabinettsmitgliedern einschüchtern lässt. Solche Entdeckungen müssen das Ziel sein, keine Frage! Trotzdem kann es selbst dann richtig sein, noch zwei erfahrene Politiker mit in die Runde zu nehmen, die der Diskussion Halt und Ankerpunkte geben.
Das wird als „erwartbar“ abgetan, andererseits sieht man häufig bei politischen Podiumsdiskussionen, was passiert, wenn schlecht ausgesuchte Diskussionspartner aufeinandertreffen: Die Zuschauer schlafen ein, oder sie gehen gar nicht erst hin. Manche wünschen sich weniger Gäste in einer Runde; und auch das kann richtig sein, sofern die wenigen Gäste (im Einzel, Duett oder Trio) in der Lage sind, angeregt, klug und für die Zuschauer nachvollziehbar länger als eine Stunde zu diskutieren. Das wiederum – die Dinge wiederholen sich – können am besten die Profis, von denen es wiederum heißt, die wolle man nicht mehr sehen. Ein Dilemma.
Oft liegt die Kritik im Auge des Betrachters. Wenn ein Kritiker schreibt, die Sendung sei zu lax gewesen, kann es passieren, dass aus der Reihe der Zuschauer ganz andere Reaktionen kommen: So hart könne man doch den Gast XY nicht angehen! Auch das zeigt die Funktion von Talkshows: Hier wird verhandelt, was geht und was nicht geht im menschlichen Umgang.
Zu guter Letzt: Fairness
Die Ziele sind also gesteckt, aber wie überall gelingt es nicht immer, sie in die Wirklichkeit zu überführen. Wenn es dem Talk gelingt, spannende und neue Akzente in der politischen Diskussion zu setzen, dann ist er nützlich. Wenn er zudem unterhält, umso besser. Aber selbst wenn mal nur Durchschnittsware darunter ist, dann ist das auch nicht der Untergang des Abendlandes – vergessen wir nicht: Es ist nur eine Fernsehsendung!
In der Bewertung von politischen Talks braucht es manchmal etwas mehr Augenmaß und vor allem mehr Kompetenz und Hintergrundwissen. Es ist daher sicherlich eine Überlegung wert, Kritikern und Medienjournalisten mehr Einblicke in die Arbeitsweisen und die Zwänge der Talkshowredaktionen zu bieten. Das sollte durchaus schon früh starten, etwa in den Journalistenschulen mit Informationsveranstaltungen und vielleicht einem Blockseminar zum Talkformat. Es ist bisweilen erschreckend, wie wenig Journalistenkollegen über die Entstehung von Talkshows wissen.
Martin Benninghoff, freier Journalist in Berlin, kennt beide Seiten: Er war Printjournalist beim „Kölner Stadt-Anzeiger“ und der „Financial Times Deutschland“, und danach ging er als TV-Redakteur zum ARD-Format „Günther Jauch“. Seine OC-Kolumne „Grenzgänger“ erschien bislang jeden zweiten Mittwoch. Jetzt legt er erst einmal eine Pause ein.