Jetzt erst recht: Warum Sigmar Gabriel unsere Unterstützung verdient hat
Ein Debattenbeitrag zur derzeitigen Verfasstheit der SPD – Quelle: Karl Adams Blog „Im Gegenlicht“
Von Karl Adam
Es hätte so schön sein können. Seit Jahren wartet die SPD auf den Moment, in dem die Kanzlerin den Nimbus der Unbesiegbarkeit verliert. Die zahlreichen Nachrufe auf Helmut Schmidt (und auf Egon Bahr) führten der Republik wieder vor Augen, dass Sozialdemokraten das Land in schweren Zeiten erfolgreich geführt haben. Auch die Rede von Gerhard Schröder am Donnerstag wurde von den Delegierten mit lang anhaltendem Applaus gewürdigt. Man konnte sich vorstellen, wie es in zehn Jahren oder später sein wird, wenn die Grabenkämpfe der Agenda-Jahre ebenso in Vergessenheit geraten sind, wie der Kampf um den NATO-Doppelbeschluss. Dann kam die Rede des Parteivorsitzenden. Sie wurde in der Presse weithin als „staatsmännisch“ und „nachdenklich“ gepriesen. Schon zuvor war vielerorts die Regierungsarbeit der SPD und auch die Arbeit des Parteivorsitzenden, der mittlerweile nach Willy Brandt die längste Amtszeit vorweisen kann, gewürdigt. Hoffnung kam auf, dass sich die mittlerweile festbetoniert erscheinenden 25% Zustimmung in den Umfragen irgendwann wieder Richtung 30% bewegen. Sogar auf das hundertfach abgeschriebene, lediglich postulierte und vollkommen inhaltsleere Prädikat „sprunghaft“ wurde zunehmend verzichtet. SPIEGEL Online kommentierte sogleich: „Er will es“ und man sah Gabriel langsam in die Rolle des Kanzlerkandidaten wachsen.
Und dann: 74,3% der Stimmen. Ohne Gegenkandidaten. Das schlechteste Ergebnis eines amtierenden Vorsitzenden aller Zeiten. Man muss schon sagen: Wenn es eine Partei gibt, die sich immer wieder zum ungünstigsten Zeitpunkt und verlässlich selbst ins Knie schießt, ist es die SPD. Steht SPD womöglich für „Selbstzerstörerische Partei Deutschlands“?
SPD-Mitglieder und -Anhänger sind, gerade in den letzten zehn Jahren, wirklich leidgeprüft: Heide-Mord, vorgezogene Neuwahl 2005, Münteferings Rücktritt vom Parteivorsitz, das Platzeck-Zwischenspiel, das Beck-Drama samt Finale am Schwielowsee, die Causa Ypsilanti, die Dienstwagen-Affäre, die Kanzlerkandidatur-Sturzgeburten Steinmeier und Steinbrück sowie die Vorträge des Letzteren – all diese Vorgänge waren wahrlich nicht vergnügenssteuerpflichtig. Und auch wenn die SPD in den Ländern wieder die meisten Ministerpräsidenten stellt und in nahezu allen deutschen Großstädten regiert, scheint es auf Bundesebene einfach nicht zu klappen.
Das Ergebnis Sigmar Gabriels vom Freitag zeigt: Die SPD fremdelt mal wieder mit ihrem Vorsitzenden. Immerhin hat ihn jeder Vierte nicht gewählt. Offenbar muss jede Generation ihre eigenen Fehler machen, denn sonst könnte man ja langsam mal auf den Gedenken kommen – siehe Schmidt, siehe Schröder – dass die Demontage der eigenen Führung letztlich immer der Union hilft.
Worauf ist das schlechte Ergebnis zurückzuführen? Sicher war es nicht klug, wenn auch verständlich, die Jusos vor der Wiederwahl so zu beschimpfen. Das dürfte Stimmen gekostet haben. Wichtiger aber war, wieder einmal, das Unbehagen mit der Regierungspolitik. Die Agenda 2010 als vermeintliches Rahmenprogramm für vieles, was heute noch Beschlusslage ist, wurde immer noch nicht verdaut. Es bleibt das diffuse Gefühl, einmal für etwas anderes angetreten zu sein. Mittlerweile dreht sich die Welt jedoch weiter und andere Themen drängen aufs Tapet. Das Erstarken autoritärer Kräfte in Ost- und Mitteleuropa, aber auch des Front National in Frankreich, der Aufstieg der AfD und die unsäglichen Pegida-Demos, brennende Flüchtlingseinrichtungen, aber auch der Hass und die Häme in so vielen Kommentaren im Internet, die einem manchmal den Glauben an die Kraft des öffentlichen Diskurses verlieren lassen.
Und während eine starke SPD mehr denn je gebraucht wird, wurden auf diesem Bundesparteitag die Schlachten von gestern geschlagen und das bei schrumpfendem Einfluss auf Bundesebene. Zu was diese Art der Realitätsverweigerung führen kann, lässt sich bei unseren Nachbarn beobachten: Mit Jeremy Corbin wurde in Großbritannien ein Hinterbänkler zum Labor-Vorsitzenden gewählt, der die Partei geradewegs in die Erfolglosigkeit der 1980er zurückführt. Francois Hollande ging 2012 mit einem ultralinken Programm in den Wahlkampf. Die Enttäuschung nach dem Wahlsieg war umso größer. Kein Präsident war je unpopulärer.
Es stimmt: Die SPD hat sich weitgehend von den Utopien ihrer Anfangszeit verabschiedet. Das ist zu weiten Teil paradoxerweise ihrem Erfolg zu verdanken. Die Republik, in der wir heute Politik machen, ist zu weiten Teilen sozialdemokratisch geprägt. Die Lektüre der Schröder-Biographie von Gregor Schöllgen macht deutlich: Das Update des Betriebssystems BRD, welches von 1998-2005 installiert wurde, ist auch heute noch aktuell. Seither gab es – um in der IT-Sprache zu bleiben – keine größeren Release-Wechsel mehr. Auf dem damals eingeschlagene Pfad wurden fehlende Pakete nachgesteuert (z. B. der Mindestlohn) und einige Bugs beseitigt (Missbrauch der Leiharbeit). Bei der Gleichstellung der Ehe gibt es nach wie vor anachronistische Defizite. Dennoch kann sich die Bilanz, gerade auch nach 2013 sehen lassen!
Sigmar Gabriel hat sich zu allen aktuellen Themen klar positioniert. Insofern war es ein ehrliches Ergebnis, das er bekam. Und er gab eine ehrliche Antwort darauf: Jetzt wird es aber dann auch so gemacht, wie es drei Viertel der Delegierten beschlossen haben. Das ist gut und richtig. Denn der SPD lässt man Ambivalenzen nicht durchgehen. Auch wenn Willy Brandt einmal gesagt hat, die SPD müssen die Partei des „donnernden Sowohl-als-auch“ sein, trifft das heute eher auf CDU/CSU zu. Der Union ist es gestattet alle möglichen Meinungen zu einem Thema gleichzeitig zu vertreten. Und während die Kanzlerin das eine sagt, ihre Minister jeweils das Gegenteil vertreten, die CSU sich gänzlich anders positioniert, und Wolfgang Bosbach in den Talkshows noch mal etwas anderes behauptet – am Ende wirkt das integrierend, weite Teile der Bevölkerung finden sich irgendwie wieder, und man erreicht Ergebnisse über der 40%-Marke.
Der SPD lässt man inhaltliche Unklarheiten weniger durchgehen. Sobald zwei prominente Sozialdemokraten inhaltlich auseinanderliegen, wird die Regierungsfähigkeit abgesprochen. Zur Not findet sich auch immer eine Juso-Vorsitzende, die sich kritisch äußert. Und doch war es richtig, dass Sigmar Gabriel sich mit Leuten unterhalten hat, die zu Pegida gehen. Bei TTIP/CETA vertritt er einen im besten Sinne reformerischen Kurs, der die Vorteile des Freihandels sieht, ohne die Gefahren zu verkennen. Bei der Vorratsdatenspeicherung kam es zu einem Kompromiss, der für viele schmerzhaft zu akzeptieren war, aber der extra auf einem Parteikonvent beschlossen wurde. Warum hier immer noch nachharken? Auch in der Griechenland-Krise gab es Momente, in denen ein Grexit als sinnvolle Alternative erschien – nicht als Strafe für die Griechen sondern in ihrem eigenen Interesse! Und zur Zahl der Flüchtlinge: Die Menschen erwarten, „dass wir nicht so tun, als ob wir jedes Jahr noch eine Million Flüchtlinge aufnehmen könnten, sondern die Geschwindigkeit der Zuwanderung pro Jahr verringern”. Wie sähe hierzu eine Alternative aus?
Zu all diesen Themen kann man unterschiedlicher Meinung sein. Es wird am Ende immer um Kompromisse gehen. Aber gar kein TTIP-Abkommen, wie es Leute fordern, die munter ihrem Antiamerikanismus frönen, gar keine Vorratsdatenspeicherung, wie es Leute fordern, die Freiheit ohne Sicherheit denken, immer weitere Hilfskredite für Griechenland ohne substantielle Reformen, oder auch einfach nur „Refugees welcome“ rufen, ohne sich mit der Situation in den Kommunen ernsthaft zu befassen und am besten auch nichts an den Fluchtursachen zu ändern, weil man sich dabei die Hände schmutzig machen könnte – all das kann nicht im Sinne einer Regierungspartei sein, die bereit ist Verantwortung zu übernehmen.
Sigmar Gabriel hat die Partei 2009 nach einer desaströsen Niederlage langsam wieder konsolidiert und zumindest auf Landesebene zu neuen Erfolgen geführt. 2017 ist noch lange hin und zumindest das Programm bis dahin ist jetzt klar. Packen wir es an!