Erschienen bei FAZ.NET am 17.02.2016 und in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG am 18.02.2016
Von Martin Benninghoff, Paris
Ein Paar aus Köln hat den Terrorangriff auf das Pariser Bataclan überlebt. Nun kehren sie zurück, um zu beenden, was damals jäh abgebrochen wurde: ihren Besuch des „Eagles of Death Metal“-Konzerts.
Zurück in der Stadt, in der ihre noch junge Ehe beinahe ein tragisches Ende genommen hätte: Julia und Thomas Schmitz aus Köln sind in dieser Woche wieder in Paris, zum ersten Mal seit dem 13. November 2015, als ihr Leben für einen Moment aufs Überleben schrumpfte und zu implodieren drohte, weil sie mitten hinein geraten waren in den blutigen Wahnsinn einer islamistischen Raserei in der Konzerthalle Bataclan. Aber sie leben noch, jetzt erst recht, sagen sie, und um dieses Gefühl mit den anderen Überlebenden zu teilen, ja auch ein Stück weit der Welt zu zeigen, sind sie wieder nach Paris gekommen, um die „Eagles of Death Metal“ zu feiern, die Band, die am Abend des Attentats auf der Bühne stand. Ihr erster Auftritt in Paris nach dem Terrorakt.
Es ist der Dienstagabend in dieser Woche, das Bataclan ist noch immer geschlossen, und das Gebiet um die Ausweichhalle Olympia weiträumig abgesperrt. Ein großes Presseaufgebot, überall Polizei, Security-Leute. Nie haben sich so viele Menschen für die Musik der amerikanischen Garagenrockband interessiert, aber jetzt steht die Gruppe um den Frontmann Jesse Hughes im Fokus der Weltöffentlichkeit. „Das ist schon krass hier“, sagt Julia, die gerade den vierten Sicherheitscheck über sich ergehen lässt, dieses Mal soll in Paris offenbar nichts dem Zufall überlassen werden.
Die Band hat die beiden und alle anderen Überlebenden der Tragödie im Bataclan eingeladen, das Leben zu feiern und der Toten zu gedenken. Hughes will das abgebrochene Konzert vom Bataclan „zu Ende spielen“, wie er kürzlich in einem Interview sagte. Wie viele dem Ruf gefolgt sind, lässt sich schwer schätzen, es werden nicht alle sein: „Ich verstehe, was die Leute fühlen, die nicht kommen können“, sagte Hughes. „Aber ich weiß in meinem Herzen: Das Richtige zu tun, bedeutet, das Schwerste zu tun.“ Insgesamt fasst die Halle wohl um die 2500 bis 3000 Menschen.
Bis heute nicht verarbeitet
Für die beiden Kölner ist der Dienstag eine Wiederkehr mit ungewissem Ausgang. Nach dem Attentat im November sprachen sie viel mit Freunden und Verwandten, waren im Fernsehen bei „Günther Jauch“ und „Stern TV“, um über ihre Erlebnisse zu berichten und sich auch ein wenig Erleichterung zu verschaffen, und nach dem ganzen Trubel flogen sie nach Australien, eine lange geplante Reise, die nun umso wichtiger zur Auszeit wurde. Abgeschlossen und verarbeitet allerdings waren die Erlebnisse nie.
Am Nachmittag fahren sie zum Bataclan. „Das ist erstaunlich okay“, sagt Julia. Der Ort an sich weckt nur bedingt Erinnerungen. Aber dann gehen die beiden in die Seitenstraße und sehen das Fenster, hinter dem sie in einem kleinen stickigen Raum stundenlang um ihr Leben fürchten mussten, als sich die Attentäter durch die Konzerthalle schossen. „Man sieht die Einschusslöcher“, sagt Julia. „Schrecklich.“ Die Erinnerungen kommen wieder hoch an den 13. November 2015:
„Wir hatten wirklich einen perfekten Tag“, sagt Julia. In Paris schien die Sonne, die beiden erklommen den Eiffelturm, aßen in einem Restaurant, besichtigten danach die Katakomben. Es war Thomas‘ Geburtstag, die Reise nach Paris ein Geschenk, nichts sollte diesen Tag trüben. Am Abend machten sie sich zum Bataclan auf, einer altehrwürdigen, besonders stimmungsvollen Konzerthalle im XI. Arrondissement, die als Theater, zwischenzeitlich als Kino und heute als Rock- und Poplocation einen Namen hat. Die Band spielt am Abend, beide mögen ihre Auftritte und ihren puren Rock’n Roll.
Erinnerung an ein Kind im Saal
Vor Beginn des Konzerts sprachen sie noch kurz mit einem anderen deutschen Pärchen, dann trennten sich die Wege im Getümmel. Das Paar vom Niederrhein schlug sich in den Innenraum durch, Julia und Thomas indes verließen die Bar im Erdgeschoss entgegen ihrer sonstigen Gewohnheiten und suchten sich ein Plätzchen auf dem Oberrang. Julia schoss noch ein Panoramafoto von oben, darauf zu sehen ist ein kleiner Junge mit seiner Mutter. Sie meint sich zu erinnern, dass der Junge noch vor Konzertbeginn den Saal wieder verließ. Sie ist sich nicht ganz sicher – hofft es aber inständig. Das Pärchen vom Niederrhein konnte später ins Freie flüchten und überlebte.
Irgendwann im ersten Drittel des Konzerts, als der Gitarrist gerade ein Solo ablederte, hörte Julia plötzlich Schüsse. Ein Geruch von Silvesterböllern kam auf, zumindest schien ihr das so, und es ging ein Ruck durch die Menge unten im Innenraum, Unruhe entstand. „Wir dachten zunächst, das sei Teil der Show“, erinnert sich Julia. Allerdings beschlich sie ein ungutes Gefühl, auch Thomas war sich unsicher. Ein makabrer Scherz mit Schüssen und Waffengeruch, und das in der aufgeheizten Stimmung nach dem Charlie-Hebdo-Attentat in Paris wenige Monate zuvor? Selbst als Julia einen Attentäter unten in der Menge sah, beschwichtigte sie sich innerlich. Zu unwirklich klangen die Knall-Geräusche. „So hört sich das im Film ja nicht an“, sagt Julia.
Es waren Sekunden, und doch kam es ihnen wie eine Ewigkeit vor, bis sie merkten, was hier über sie hereinbrach. Julia packte Thomas am Arm, zog ihn hinaus in einen Gang hinter dem Oberrang. Unten im Saal schrien die Menschen plötzlich in Panik, Julia und Thomas wussten zunächst nicht, wohin. Sie gelangten in ein Treppenhaus, rannten um ihr Leben, irgendwohin in dem unbekannten Gebäude, nur weg.
Julia spürte den Einschlag einer Kugel in ihrer Nähe, der Putz flog von der Wand. Sie zogen sich beide gegenseitig weiter, trieben sich an, und wenig später fanden sie einen Raum. „Wir sind in einen Backstage-Raum hinein gerannt und haben einen Kühlschrank, Sofa und alles, was schwer und sperrig war, vor die Tür gestellt und auf den Boden gelegt“, erinnert sich Thomas. „Dann kam das Schlimmste: Die Terroristen haben versucht reinzukommen, und wir haben dagegen gedrückt.“
Zweieinhalb Stunden verbarrikadiert
Den Terroristen gelang es nicht, einzudringen. Ungefähr zweieinhalb Stunden harrten die beiden mit anderen Konzertbesuchern in dem stickigen Raum aus. „Wir haben wirklich gedacht, wir sterben jetzt. Hoffentlich geht es schnell und tut nicht weh“, sagt Thomas. Und Julia erinnert sich: „Man schließt ab.“ Schon bald wurde die Luft knapp, zum Schneiden dick, aber sie trauten sich nicht, das kleine Fenster zur Straße zu öffnen. Draußen hörten sie Schreie der Attentäter und Rufe der Einsatzkräfte, die zu dieser Zeit wohl die Halle stürmten, aber sie verstanden sie nicht, weil sie kaum Französisch sprechen. Die Situation schien ausweglos. Julia und Thomas kauerten weiter auf dem Boden.
Als die Einsatzkräfte sie endlich erreichten und evakuieren wollten, traute sich keiner im Raum, die verbarrikadierte Tür zu öffnen – aus Angst, es könnten in Wahrheit die Attentäter sein. Schließlich erhob sich ein Franzose, um mit der Polizei draußen auf der Straße in Kontakt zu treten. „In dem Moment hat man gesehen, dass überall auf seiner Brust rote Punkte leuchteten“, sagt Thomas. Zielpunkte der Scharfschützen.
Dann ging alles rasend schnell: Vermummte Einsatzkräfte öffneten mit Gewalt die Tür und führten Julia, Thomas und die anderen in Windeseile heraus, vorbei an Dutzenden Leichen und Blutspuren ins Freie. Ihnen wurde geraten, die Köpfe gesenkt zu halten, um nicht jedes grausame Detail zu sehen. Draußen warteten Anwohner und Psychologen, die sich rührend kümmerten, aber die Verständigung fiel ihnen schwer.
Ohnehin wollten sie nur noch weg, am liebsten gleich nach Köln, aber das ging im Chaos der Ausnahme-Nacht in Paris sowieso nicht. Die restlichen Stunden schlossen sie sich in ihrem Hotelzimmer ein, bis sie am nächsten Tag Julias Bruder Stephan mit dem Auto aus Paris abholte. Den gebuchten Fernbus ließen sie stehen, Menschenaufläufe auf engem Raum konnten sie da noch nicht vertragen.
Heilsames Treffen
Am Dienstag ist das anders: Nach ihrem Besuch am Bataclan treffen sich Julia und Thomas in einer Kneipe mit anderen Überlebenden. Kurz nach dem Attentat gründeten einige eine Facebook-Gruppe, darüber verabredeten sie sich. Die beiden wollen sich gerne alleine mit ihnen treffen, keine Reporter, keine Journalisten sollen dabei sein. Es ist für sie emotional, es wird sich viel umarmt und versichert, wie schön es sei, sich endlich mal persönlich kennenzulernen.
Bislang haben die beiden sich mit den anderen Überlebenden aus der Pariser Nacht nur geschrieben. Sich aber zu treffen, das hat für die beiden eine „andere Qualität“, irgendwie eine heilsame. Zumal sie zwei Leuten gegenüberstehen, mit denen sie ihre schlimmsten Stunden in dem kleinen Räumchen verbracht hatten. Das schweißt zusammen.
Gemeinsam nehmen sie später die U-Bahn zum Konzert. Die Halle ist voll ausgebucht, „eine unglaublich gute Stimmung“, sagt Julia. Viele Fans haben irgendetwas mitgebracht, ein T-Shirt mit Aufschrift, Schals, Blumen, Plektren. Frenetisch feiert das Publikum den Moment, als die Musiker die Bühne betreten. Frontmann Jesse Hughes, ein umstrittener Musiker, der mit seiner Vorliebe für Waffenbesitz gerade in diesen Tagen außerhalb der Halle abermals für Schlagzeilen sorgt, saugt die Sympathiewelle der Zuschauer sichtlich auf. Er nimmt die Schals und Blumen an, zeigt sie dem Publikum, lässt betont Pausen und sogar eine halbe Schweigeminute zu, um dann mit Uptempo-Nummern den Saal zum Kochen zu bringen. It’s only Rock’n Roll. Und den lassen wir uns nicht verbieten. Das funktioniert.
Ein Konzert wie zehn Wochen Therapie
„Ein tolles Konzert“, resümiert Julia an diesem Abend. „Die haben richtig Party gemacht, und das war total ansteckend.“ Sie ist gefasst, die emotionale Schwere des Nachmittags ist verflogen. Gemeinsam mit den anderen aus der Facebook-Gruppe ziehen sie nach dem Konzert weiter in die Pariser Kneipenwelt. „Irgendwie war das wichtig“, sagt Julia spätabends. „Als Abschluss oder um dem Ganzen einen Deckel zu geben.“ Wenige Tage nach der Tragödie hatte sie noch im Fernsehen gesagt, dass sie „jetzt erst recht“ ihr Leben leben und sich bestimmt nicht einschüchtern lassen wolle.
Aber das Leben ging nicht einfach so weiter: Thomas, der beruflich mit Gefahrgütern hantiert, war längere Zeit krankgeschrieben. Julia ging bald wieder arbeiten, klagte aber über Konzentrationsschwierigkeiten. Vor lauten Knall-Geräuschen fürchteten sich beide, die Vorfreude auf Silvester war dadurch getrübt. Das „Jetzt erst recht“ der ersten Tage war nicht falsch, aber vielleicht auch nur die halbe Wahrheit. Deshalb ist das Konzert wichtig für die beiden: „Der Abend heute hier bei dem Konzert ist für uns wie zehn Wochen Intensivtherapie“, sagt Julia. Das Leben kann nun weitergehen.