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Schrecklich! Faszinierend!

Essay und Storytelling, erschienen bei FAZ.NET (09.03.2016)

Von Martin Benninghoff, Pjöngjang/Chongjin

Nordkorea: Kim Jong-uns Diktatur wirkt noch bizarrer, wenn man im Land unterwegs ist. Fünf Motive der Faszination für Nordkorea – und ein Erklärungsversuch.

Darf eine schreckliche Diktatur faszinieren?

Auch wenn die Antwort negativ ausfällt: Nordkorea fasziniert viele in einer eigentümlichen Mischung aus Abscheu und Interesse. Hier das totalitäre Regime, das zuletzt mit einem Langstreckenraketentest und der Hinrichtung eines hohen Militärs seine kriegslüsterne und brutale Seite zeigte, dort ein Land, das sich einigelt, zugleich schrill propagandistisch inszeniert, und so natürlich erst recht die Blicke auf sich zieht.

Zwei Mal habe ich das Land bereist. Ausländer werden kaum von der Kette der staatlichen Aufpasser gelassen, die einen rund um die Uhr bewachen. Nur in der Hauptstadt Pjöngjang darf man sich etwas freier bewegen. Ansonsten ist ein organisiertes Besuchsprogramm zu absolvieren, wie früher in China oder der Sowjetunion.

 

Flüchtiger Blick durchs Schlüsselloch

Mit Einheimischen gerät man dabei fast nur in durchorganisierten Begegnungen in Kontakt (ich hatte allerdings etwas mehr Glück, dazu später mehr). Zugegeben, das gleicht eher einem flüchtigen Blick durchs Schlüsselloch, aber immerhin: Es ist wenigstens ein Blick ins Innere, der einem von außen verwehrt bleibt, da man sonst vollends auf die Darstellung der staatlichen nordkoreanischen Auslandspropaganda angewiesen ist.

Es sind vor allem die Propagandabilder der Pjöngjanger Nachrichtenagentur, die uns das Land als popkulturelles „Disneyland des Totalitarismus“ (taz) präsentieren.  Ein Land in einer surrealen Dauerschleife, mit einem Mann an der Spitze, Kim Jong-un, der seiner eigenen Karikatur gleicht und laufend Grotesken produziert. So wie am 15. August 2015, als er die offizielle Uhrzeit eine halbe Stunde zurückdrehen ließ, um mit dem Erzfeind Japan zeitlich zu brechen. Eine Posse wie aus einem Don-Camillo-Film.

Solche Kuriositäten, die uns die staatliche Propaganda regelmäßig bietet, in Verbindung mit den Schreckensmeldungen von Menschenrechtsorganisationen und den Vereinten Nationen über Konzentrationslager und Hinrichtungen, schaffen in unseren Köpfen das Bild eines in jeder Beziehung extremen Landes. Extrem in seiner Inszenierung, in der Unterdrückung der Bevölkerung und der selbstgewählten Isolation.

 

Den Rest erledigt unsere Fantasie

Was das Regime in Pjöngjang nicht schon selbst tut, erledigt unsere Fantasie. Das Schrille wird in unserer Wahrnehmung noch schriller, das Extreme noch extremer. Wir Journalisten nehmen Nordkorea deshalb gerne auf: In vielen Medien reihen sich Extreme an Extreme, und eine Kuriosität jagt die andere; und mittendrin reitet der schrille Diktator Kim Jong-un die Atomrakete.

In dieses „Freakistan“ (Stern) zieht es jedes Jahr rund 4500 westliche Besucher (und weitaus mehr Chinesen), schätzt der Marktführer unter den Reiseanbietern, „Koryo Tours“ in Peking. Die meisten sind abenteuerlustige Männer zwischen 20 und 50, vor allem Amerikaner, Briten, Deutsche und Amerikaner. Sie eint die Faszination an einem Land, das schrecklich und faszinierend zugleich ist.

 

Motiv 1: Das Land ist so anders!

Für Nordkoreaner ist der Tumen, der Fluss, der sich unter Sebastians und meinen Füßen schlängelte, ein Notausgang aus ihrer Heimat. Wenn er im Winter gefriert, rückt das chinesische Ufer in erreichbare Nähe, und wer es dorthin übers Eis geschafft hat, hofft nur noch, den chinesischen Häschern zu entkommen.

Wir gingen in die andere Richtung. Wir wollten in den kargen und besonders armen Nordosten des Landes, eingeklemmt zwischen China und Russland, um das ländliche Nordkorea besser kennenzulernen.

Meinen Mitreisenden Sebastian, einen deutschen Touristen, hatte ich tags zuvor im Zug von Peking an die Grenze kennengelernt. Und nun marschierten wir über eine lange steinerne Brücke in das kalte, als dunkel empfundene Land am anderen Ufer. Ein wenig plauderten wir, und zwischendurch schrieb ich eine letzte SMS an meine Frau, bevor wir vollends in die kommunikative Stille glitten.

Für Sebastian (der in Wirklichkeit anders heißt, weil er weiterhin ein Visum bekommen möchte) war es bereits die zehnte Reise: Seit er das Land 2007 zum ersten Mal betrat, lässt es ihn nicht mehr los, obwohl seine Freunde und Familie mit Kopfschütteln auf seine Leidenschaft reagieren.

Sebastian ficht das nicht an, für ihn ist Nordkorea weiter voller weißer Flecken auf der ansonsten gut erschlossenen touristischen Weltkarte, ein Land, das sich von fast allen anderen Zielen der Welt extrem unterscheidet. Es ist einfach: anders.

Nordkorea ist so anders, weil es sich weitgehend der wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierung entzieht. Der Korea-Forscher Rüdiger Frank, einer der kundigsten Kenner des Landes im deutschsprachigen Raum, erkennt darin ein wichtiges Motiv: „Vielleicht braucht der Mensch einfach das Andere, um sich selbst besser definieren zu können.“

Es stimmt, wo immer die Reise in der Welt hingeht, ob in den Busch Tansanias oder in den indischen Himalayastaat Sikkim, Coca-Cola ist an jeder Bretterbude zu kaufen. In Nordkorea ist das Symbol westlichen Lebensstils kaum zu bekommen. Garantiert findet man auch keinen Big Mac im Land (in Vietnam öffnete 2014 der erste McDonald’s), die Straßen sind fast frei von kommerzieller Werbung, und die Siegesparade der Unterhaltungselektronik findet in Südkorea statt, nicht im Norden. Internet ist für Einheimische unerreichbar, an den Universitäten gibt es ausschließlich Zugänge zum landeseigenen Intranet.

Wie also zuhause Bescheid geben, dass es einem gut geht? Als wir in Chongjin ankamen, der großen, völlig maroden Industrie- und Stahlstadt im Nordosten, bat ich unseren Reiseführer, mir eine Postkarte zu besorgen. Nach einigen Stunden brachte er mir eine Karte (mit Soldaten als Motiv), die ich sofort in seinem Beisein ausfüllte und mit der Heimatadresse in Deutschland versah.

Dann wurde es kompliziert: Meinem Reiseführer war es offenbar unangenehm, zuzugeben, dass Kartenschreiben in Nordkorea keine leichte Sache ist. Auch hatte ich etwas zu schnell geschrieben, so dass er meine Handschrift nicht gut lesen konnte. Also schrieb ich ihm die Adresse in schönster Handschrift auf einen Zettel, woraufhin er sie abschrieb: auf Deutsch, um zu überprüfen, dass er alles richtig entziffert hat, und in koreanischen Lettern für die staatliche Post, die Übersetzung.

Die Karte kam übrigens nach rund zehn Tagen zuverlässig in Deutschland an. Sie steckte in einem Kuvert mit koreanischer und deutscher Adresse. Es ist wahrscheinlich, dass der Inhalt in Pjöngjang gelesen wurde von den Deutsch-Übersetzern des Geheimdienstes. Sie werden ihre Freude gehabt haben: Ich lobte das Wetter und das gute Essen.

Wahrscheinlich ist Kommunikation an jedem Ort zu jeder Zeit das augenfälligste Charakteristikum unserer Moderne. Selbst in Nordkorea konnte die ägyptische Holding Orascom ein Handynetz aufbauen, aber die Menschen dürfen nur innerhalb des Landes telefonieren. Einen Nordkoreaner aus Deutschland anzurufen, das ist noch immer so gut wie unmöglich.

So zynisch das sein mag (weil sich Nordkoreaner ihr Leben im Tal der Ahnungslosen nicht aussuchen können), für Touristen wie Sebastian ist die Abgeschiedenheit ein Reisemotiv, eine Art Entschleunigungstrip in den toten Winkel der Globalisierung.

 

Motiv 2: „Hier kann man noch Kolumbus sein!“

In Nordkorea kann man Pioniermomente erleben. Aber es muss einem klar sein, es sind fast nur Dinge zu sehen, die man staatlicherseits sehen soll. Dabei gibt es Spielräume: Sebastian ließ sich einen exotischen Sonderwunsch erfüllen, den Besuch am Grab von Mao Anying, einem im Koreakrieg gefallenen Sohn Mao Tse-tungs. Ein Kriegsheld.

Selbst im Vergleich zu den sonstigen ländlichen Buckelpisten sei diese Rumpeltour eine besondere Strapaze gewesen, so Sebastian. Der Friedhofswärter habe ihn angeschaut wie einen Marsmenschen, er hatte zuvor noch nie einen leibhaftigen Europäer gesehen. Danach checkte Sebastian in einem Hotel ein, als einziger Gast. Umso aufgeregter seien die Concierges und die Rezeptionisten gewesen. Ein Gast. Und dann noch aus Europa. „Hier kann man noch Kolumbus sein“, sagt Sebastian.

Selbst im riesenhaften Hotelklotz „Yanggakdo“ in Pjöngjang – wo die meisten Westler auf einer Insel im Fluss isoliert werden –, herrscht eine gespenstische Atmosphäre der Leere, die Abenteuer-Fantasie anregt oder alte „Shining“-Ängste reaktiviert. Im Aufzug fehlt der Knopf für den fünften Stock, was im Netz seit Jahren heiß diskutiert wird. Sitzen hier etwa die Geheimdienstler, die die Hotelgäste abhören? Mittlerweile aufgetauchte Bilder im Netz zeigen leerstehende Technikräume in fünften Stock. Das gibt wieder neue Fragen.

Es sind solche Puzzlestücke, die zum Weiterforschen animieren, und doch wird das Bild nie fertig, weil entscheidende Teile fehlen oder sich gar das Gesamtmotiv wandelt. Seit vorvergangenem Jahr dürfen Ausländer ihre Handys mit ins Land nehmen, zuvor wurden diese am Flughafen oder Bahnhof weggeschlossen. Pjöngjangs Skyline präsentiert sich heute bunter. Neue Hochhäuser mit klassisch-koreanischen Dächern setzen der Schäbigkeit der heruntergekommenen Plattenbauten etwas entgegen. Die Männer tragen bunte Hemden, und die Kinder laufen in pinken Trainingsanzügen herum und düsen auf chinesischen Rollschuhen über den Asphalt.

Leider gelingt es kaum, tiefere Einblicke in den Alltag der Menschen zu erhaschen. Zwar durfte ich eine Nacht bei einer angeblich authentischen nordkoreanischen Familie schlafen. Aber das war in einem Vorzeigedorf, das – weithin isoliert – offenbar nur dem Zweck diente, dem Ausländer Nordkoreas soziale Errungenschaften zu präsentieren. Das Haus im koreanischen Stil war ein Neubau, die Familie hatte einen Fernseher und Fahrräder. Der Strom lief den ganzen Abend. Die „echten“ Dörfer sah ich nur im Vorbeifahren, aber es war offensichtlich, dass die Menschen dort in bitterer Armut lebten in ihren maroden Häusern an den schlammigen Straßen. Fotografieren der echten Dörfer war übrigens streng verboten.

Dennoch gelang es – ungeplant – Kontakt mit Einheimischen aufzunehmen: Es war Nationalfeiertag, und unser Bus hielt in dem Städtchen Kyongsong im Nordosten, nicht weit von der Küste entfernt, wo es eine Therme gibt. Uns fiel schon bei der Anfahrt auf, dass sich viel mehr als sonst die Menschen auf den Straßen und Plätzen aufhielten. Einige hatten einen Ghettoblaster aufgestellt und tanzten zu klassischen koreanischen Volksliedern. Auf der Straße saßen, spielten und lachten Dutzende Anwohner, ihre Kinder kurvten auf Rollschuhen herum.

Sie wichen zurück, als wir aus dem Bus stiegen. Wir müssen ihnen wie Marsmenschen vorgekommen sein, das zumindest ließen ihre Gesichtsausdrucke vermuten. Aber wie so häufig siegte bei den Kindern zuerst die Neugier über die Scheu. Sie pirschten sich langsam an uns heran, und ich schoss ein paar gemeinsame Selfies mit ihnen, die wir auf dem Monitor der Spiegelreflex betrachteten. Nach ein paar Minuten legten die Kinder ihre Arme auf meine Schultern, die anfängliche Distanz wich einer fröhlicheren Atmosphäre, die auch die Erwachsenen zusehends ansteckte: Ein Mann holte Badmintonschläger aus dem Haus, ein anderer eine Frisbeescheibe. Also spielten wir Frisbee auf der Dorfstraße.

Unseren staatlichen Aufpassern war das zunächst gar nicht recht, ihnen stand sichtbar der Schweiß auf der Stirn, weil solche spontanen Momente normalerweise vermieden werden. Nordkoreaner, die ungeplant und unausgewählt mit Ausländern sprechen, können in Schwierigkeiten geraten – Entwicklungshelfer, die längere Zeit im Land waren, berichteten von Leuten, die vom Geheimdienst offenbar zu Verhören abgeholt worden seien. Ein perfider Trick auch zur Disziplinierung von Ausländern: Zwar fühlte ich mich persönlich nicht bedroht, aber der Stress, der den Nordkoreanern ins Gesicht geschrieben stand, sobald etwas nicht nach Plan lief, veranlasste mich dazu, ihnen möglichst solchen Stress zu ersparen. Eine sehr effektive Strategie, um Ausländer an die Kette zu nehmen. Es sind solche Momente der Begegnung, die eine Nordkorea-Reise trotzdem lohnend machen.

Aber es sind auch die Momente der Frustration, etwas nicht zu Gesicht zu bekommen, die einem immer wieder in das Land treiben. Sebastian erzählte, wie sehr ihn die an sich lapidare Frage beschäftige, wie die Müllabfuhr im Land funktioniere. Mir war das gar nicht aufgefallen, aber es stimmte: Nie habe ich Müllmänner gesehen oder einen Müllwagen – dennoch funktioniert das System. Nur wie? Sebastian, der sich derzeit auf seiner elften Reise im Land befindet, will dem nachgehen.

Es geht längst nicht nur um solche an sich belanglosen Fragen: Wir wissen ja nicht nur aus den Augenzeugenberichten entflohener Bürger, dass Nordkorea entgegen der eigenen Propaganda kein Staat der Glückseligkeit ist, im Gegenteil: Es ist ein Freiluftgefängnis mit Folterkellern. Die Vereinten Nationen werfen dem Regime Mord und Folter an der eigenen Bevölkerung vor, einem Bericht von 2014 zufolge existieren mehr als ein Dutzend Straflager mit bis zu 200.000 Gefangenen. Pjöngjang verneint zwar die Existenz solcher Lager, ließ die Beobachter jedoch gar nicht erst ins Land. Die UN legte daraufhin zum Beweis Satellitenaufnahmen vor.

Als Sebastian und ich von der Grenze am Tumen in Richtung Chongjin fuhren, passierten wir mutmaßlich zwei dieser Konzentrationslager. Recherchen vor Ort waren nicht möglich. Wenigstens unsere beiden Aufpasser zu fragen, wäre überall vernünftig gewesen; in Nordkorea erfährt man auf diese Weise nichts, zumal die Reise dann womöglich beendet gewesen wäre. Mehr als einmal ließen sie uns wissen, dass sie nicht über die „Propagandalügen“ der Amerikaner Auskunft geben würden, die beiden waren, wenig überraschend, streng auf Staatslinie. Selbst eine an sich harmlose Debatte, welche Seite im Kalten Krieg eigentlich den Korea-Krieg begonnen hat, gerät so zur aussichtslosen und ganz und gar unversöhnlichen Angelegenheit.

 

Motiv 3: Das Land ist so extrem!

In Nordkorea ist spätestens seit dem Amtsantritt Kim Jong-uns die Rakete mit Atomsprengkopf das propagandistische Highlight schlechthin. In den Schulen und Kindergärten malen die Kleinen Raketen, im Staatsfernsehen starten Raketen zu jedem Anlass, unterbrochen von pathetischen Ansagen und untermalt mit dröhnender Marschmusik.

Die Rakete steht für die Größe und Stärke des Diktators, der die Erbmonarchie in dritter Generation führt und sich nach und nach zum Fixstern am Propagandahimmel aufschwingt. Immer unter der Sonne seines Großvaters, des Staatsgründers Kim Il-sung, dessen Geburtsjahr 1912 zum Startpunkt für die heute zumindest offiziell geltende Zeitrechnung erklärt wurde. In nahezu jeder Kleinstadt leuchtet ein großes Denkmal des verblichenen Führers, selbst wenn ein Stromausfall sämtliche Wohnhäuser in Dunkelheit taucht.

Extrem heißt: Das Regime in Pjöngjang zieht den Personenkult bis über die Schmerzgrenze hinaus durch. In nahezu jeder Kleinstadt dominieren große Denkmäler und mannshohe Porträts die öffentlichen Plätze und Gebäude. Im Kumsusan-Palast in der Hauptstadt liegen die beiden verblichenen Staatsführer aufgebahrt, neben Kim Il-sung noch dessen Sohn Kim Jong-il; eine Pilgerstätte für Schulklassen und Betriebsgruppen.

Als ich mir den kuriosen Riesenschrein anschaute, wurde ich auf langen Rolltreppen durch marmorne Flure und Säle transportiert, und zur Krönung dieser absurden Ressourcenverschwendung blies mir ein mannshoher Fön den letzten Staub vom Anzug, um ja keinen Straßendreck in die Halle der Despotenverehrung zu tragen. Dann musste ich um den Sarkophag schreiten und drei Mal dem Leichnam ehrfurchtsvoll zunicken. Die Nordkoreaner um mich herum waren ergriffen, wenn man ihren Gesichtszügen trauen konnte. Nicht zu wissen, was Fassade und was ernste Trauer ist – das verunsicherte mich als Besucher.

Als Kim Jong-il 2011 starb, wiederholten sich die Fernsehbilder hysterisch weinender Menschen auf den Straßen Pjöngjangs, die 17 Jahre zuvor beim Tod des Vaters um die Welt gingen. Selbst die Fernsehansagerin brach in Schluchzen aus, als sie die Todesnachricht mit Pathos und Vibrato in der Stimme über die Lippen brachte. Wir Zuschauer wissen nicht, wir ahnen nur. Und darin steckt der Antrieb für die Faszination, aber noch mehr der Kern der Verunsicherung. Was können wir glauben, was ist nur vorgetäuscht?

Darauf habe ich nur einen Hinweis: Anders als in der DDR zu Zeiten des Mauerfalls hat in Nordkorea heute nur noch die alte Generation Erinnerungen an eine Zeit vor den Kims. Die Begeisterung für ihre Führer mag unterschiedlich ausgeprägt sein; Fakt ist aber, dass die vergleichsweise jüngeren Menschen, die seit den fünfziger Jahren erzogen wurden, der Staatspropaganda permanent ausgesetzt sind.

In Chongjin konnte ich eine Schule besuchen, die eigens für „Staatskunde“, also Propagandaunterricht, einen eigenen Raum eingerichtet hatte, mit allerlei Plakaten und Postern über die Großartigkeit ihrer Führer. Auf einem Bild, das offenbar von einem Kind gemalt war, bohrte sich ein spitzer Füllfederhalter durch die Körper dreier Soldaten – der erste ein Amerikaner, der zweite ein Japaner und der dritte ein Südkoreaner.

Eine für mich erschütternde Erfahrung war, dass man bereits nach einigen Tagen propagandistischer Dauerberieselung durch Museumsführer, Reiseleiter und Fernsehprogramme beim Mittagessen langsam beginnt, die angebliche Sorge Kim Jong-uns um sein Volk tatsächlich für bare Münze zu nehmen. Zwar nicht im rationalen Sinne, aber im emotionalen: Man bekommt ein Gefühl dafür, wie Gehirnwäsche funktioniert. Nicht auszudenken, wenn man nicht wieder abreisen kann nach einigen Tagen.

Die Menschen, die dem tagtäglich ausgesetzt sind, verhalten sich freilich anders. Der extreme Pathos, mit dem Nordkoreaner über ihre Führer sprechen, ist uns – heutzutage zumindest – völlig fremd. Ein wenig wirken die auswendig gelernten Propagandasprüche roboterhaft, und es erscheint mir zwangsläufig, dass Nordkoreaner bei uns häufig als uniformiert und wenig individuell wahrgenommen werden. Aber auch vor allem deshalb, weil wir nicht hundertprozentig wissen, wie sie denken und fühlen.

Der Autor Christian Eisert, der für seinen Bestseller „Kim & Struppi“ ins Land reiste, beschreibt dieses Bild, das auch ich gut kannte, so: „Zum ersten Mal in unserem Leben berührten wir Nordkoreaner. Sie fühlten sich warm an.“ So als ob er vorher dachte, die Menschen dort seien in Wahrheit Maschinen. Für ihn dekonstruierte sich das Bild allmählich, und an seine Stelle rückten: Menschen, für die, sollten sie einmal nass werden, „auch mal das Wetter schuld“ ist und „nicht der böse Amerikaner“.

Aber solche Normalität wäre natürlich langweiliger. Ist es nicht die Mischung der Bilder von Massenhysterien, von im Stechschritt marschierenden Soldaten, aufsteigenden Raketen und eines immer dicker werdenden Diktators im Land der schlechten Lebensmittelversorgung, die bei uns reißenden Absatz findet? Verwackelte, aus der Hüfte geschossene, angeblich geheim gedrehte Videos, die das „echte“ Leben der Nordkoreaner zeigen sollen, generieren „jenen Wiedererkennungseffekt, der ein Land zur Marke macht“, schreibt Rüdiger Frank in seinem Buch „Nordkorea – Innenansichten eines totalen Staates“. Ausgerechnet das offiziell antikapitalistische Nordkorea wird somit zu einer Marke.

 

Motiv 4: Blick in den Rückspiegel

Früher oder später zieht man als deutscher Besucher Parallelen zur eigenen Geschichte: Denkmäler heldenhafter Reiter, Aufmarschplätze und riesenhafte Monumente auf bewaldeten Hügeln sind der Stein und Asphalt gewordene Ausdruck einer politisch-repräsentativen Übersichtlichkeit, die dem demokratischen Deutschland fremd geworden ist; aber noch Erinnerungen weckt. Erinnerungen an die gigantischen Albert-Speer-Pläne einer Reichshauptstadt namens Germania, an die Inszenierungen der NSDAP auf dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände, an die einfältig-klaren Linien, die Symmetrien und Pomp und Pathos der sozialistischen Prachtstraßen-Architektur im Osten Berlins.

Christian Eisert fühlte sich in Nordkorea an die eigene Kindheit in Ost-Berlins Plattenbauten erinnert. 1988 hatte er erste Erfahrungen mit dem Land gesammelt, als er an seiner Schule zu Ehren einer Pjöngjanger Gästedelegation Arbeiterkampflieder singen musste. Der Leipziger Rüdiger Frank kommt in seinen Schilderungen immer wieder auf seine eigene Geschichte in der DDR zurück; für ihn ist Nordkorea offenbar auch eine Begegnung mit der eigenen Vergangenheit. Wer heute durch Nordkoreas Städte fährt, fühlt sich unweigerlich an die DDR erinnert: an die fehlende Werbung, die grauen Häuserfassaden, die tristen Betonklötze und die Denkmäler der sozialistischen Heldenverehrung.

 

5. Motiv: Auszeit von der Komplexität

Europa 2015 ist da ein diametraler Gegenentwurf: Mit dem totalen Sieg über Nazi-Deutschland trieben die Alliierten den Deutschen den Hang zum militaristischen Pomp mitsamt der pathetischen und stets nationalistisch aufgeladenen Symbolik aus. Zumindest im Westen konnte sich auf den Trümmern eine politische Kultur aufbauen, die das Regieren eben nicht mehr zum heroischen Akt verklärt, sondern als komplexes demokratisches Verfahren begreift.

Politik in Nordkorea läuft ganz anders, wie die Internetseite „Kim Jong-un is looking at things“ plastisch vorführt (es gibt mehrere Seiten dieser Art): Zu sehen ist Kim Jong-un, wie er bei seinen Vor-Ort-Anleitungen, flankiert durch eine stets mitschreibende und über seine Witze lachende Entourage, Fabriken oder Schulen besucht, und wie er scheinbar interessiert auf getrockneten Fisch starrt oder Plastikbälle inspiziert. Der Diktator gibt hier und da ein paar Anweisungen, wie die Qualität der Fischtrocknung verbessert werden könne. Die staatliche Nachrichtenagentur verkauft das als wegweisende politische Handlung und berichtet ausführlich.

Politische Repräsentation wird hier auf ein ikonografisches Vater-Sohn-Verhältnis reduziert: Hier der Patriarch, dort die unmündigen Kinder, die Anweisungen empfangen. Ein Gespräch auf Augenhöhe, gar eine Diskussion findet selbstredend nicht statt. Für Europäer ist diese Inszenierung kurios, weil sie diametral der fein verästelten Zivilgesellschaft mit ihrem diskursiven Charakter entgegensteht.

Unser Patchworkleben und unsere Wahlmöglichkeiten bilden die Kontrastfolie zu Nordkoreas patriarchalischer Top-down-Politik. Selbst in einem Land wie Weißrussland, das fast wie eine alte Sowjet-Republik regiert wird, ist der Bürger um ein Vielfaches freier. In Kuba existiert eine bunte Zivilgesellschaft, eine aktive Opposition, und derzeit öffnet sich das Land ohnehin.

Wenn bei uns die Familie die kleinste politische Gruppeneinheit ist, so steht in Nordkorea eine Familie ganz oben – die Familie des Diktators. In der Propaganda weiß sie alles, sie kennt alles, und sie steht wie selbstverständlich an der Spitze des Staates, selbst wenn die Macht von einer an die andere Generation weitergereicht wird.

Nordkorea ist nicht nur eine Diktatur, es ist die bisher einzige sozialistische Erbmonarchie der Welt. Was für ein Widerspruch: Feudalismus meets Karl Marx.  Dieses Konzept baut auf Homogenität, selbst an der Staatsspitze. Ausländische Minderheiten sind nicht vorgesehen, und mit Ausnahme einer kleinen chinesischen Minderheit ist Nordkorea ethnisch homogen. Integration von Ausländern lehnt das Regime ab, im Gegenteil: Während in Deutschland große Anstrengungen unternommen werden, um Einwanderer zu Deutschen zu machen, setzt im Gegenzug Nordkorea alles daran, Ausländer permanent an ihren Duldungsstatus zu erinnern. Multikultureller Austausch bis hin zur binationalen Ehe gilt als Gefährdung der gesellschaftlichen Ordnung.

Ein solcher Gegenentwurf zu allem, was wir kennen, lässt einen das Eigene schätzen und das Andere interessant erscheinen. Nordkorea bietet uns ein Spiegelbild. Seitenverkehrt, wie Spiegelbilder nun mal sind.

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