Reportage aus Berlin, erschienen bei FAZ.NET (19.09.2016)
Von Martin Benninghoff
Am östlichen Rand Berlins, in Marzahn-Hellersdorf, hat die AfD bei der Wahl in Berlin teils kräftig abgeräumt. Ein Besuch am Tag nach der Wahl in einem Bezirk, der zwischen Hoffen und Bangen schwebt.
Wenn das so weiter geht, dann gibt es hier einen Aufstand. Und der wird nicht so friedlich sein wie 1989.“ Thomas Hermenau spricht diese Worte ganz ruhig aus, ohne Aggression. In seinen Augen kann man Enttäuschung lesen, vielleicht sogar etwas mehr: Hoffnungslosigkeit. Der 55 Jahre alte gelernte Koch und Einzelhandelskaufmann jobbt derzeit auf 450-Euro-Basis in einem Discounter in einem Einkaufszentrum in Marzahn. Einen Vollzeit-Job bekommt er schon lange nicht, obwohl er, wie er sagt, „ständig Bewerbungen“ schreibt. Rücklauf: null. Von der Politik erwartet Hermenau schon lange nichts mehr. Außer vielleicht von der AfD, die er am Sonntag bei der Wahl in Berlin gewählt hat. Ein langjähriger Linke-Wähler, der mit der „etablierten“ Politik, wie er sagt, nichts mehr anfangen kann.
Marzahn-Hellersdorf, am Tag nach der Wahl. Hier, am nordöstlichen Rand Berlins, haben die Wähler bei 61 Prozent Wahlbeteiligung zu rund 23 Prozent ihr Kreuz bei der AfD gemacht. Dazu muss man wissen: Der Bezirk ist nicht nur „Platte“, also geprägt durch Großsiedlungen aus DDR-Zeiten, sondern durchaus auch durch Eigenheimsiedlungen, in denen die CDU teilweise gewinnen konnte. Im Wahlkreis 1 jedoch, wo Hermenau wohnt – und wo sich im Laufe des Gesprächs mit dem Reporter noch andere AfD-Wähler einfinden und lautstark mitreden –, hat der AfD-Kandidat Gunnar Lindemann mit mehr als 30 Prozent Erststimmenanteil sogar ein Direktmandat geholt. Aus dem Stand. Am Sonntagabend bedankte Lindemann sich auf Facebook für das Vertrauen seiner Wähler. Viel tun musste er dafür wohl nicht.
„Die Straßen sind kaputt, und keiner tut was“
Hermenau kennt Lindemann nicht persönlich, am Wahlkampfstand an der Niemegker Straße hat er ihn neulich mal gesehen. Aber das ist ihm nicht so wichtig, er will, „dass sich was ändert“. „Schauen sie sich um“, sagt er. „Die Straßen sind kaputt, und keiner tut was.“ Seine Tochter absolviert zurzeit eine Ausbildung zur Verkäuferin in einem nahegelegenen Supermarkt, aber der mache „wahrscheinlich demnächst sowieso zu“. Sein Enkel – „der bekommt keinen Kitaplatz“. Kiezthemen über Kiezthemen, doch dann schlägt Hermenau doch den Bogen ins Kanzleramt: „Und dann sieht man, was die Politik alles für die Flüchtlinge tut. Wobei ich nichts gegen die Flüchtlinge habe – aber die Gewichtung ist falsch: Man tut nichts für Einheimische.“
Zumindest sind die Probleme des Stadtteils mit dem bloßen Auge erkennbar. Die Niemegker Straße ist typisch für diesen Teil Marzahn-Hellersdorfs: eine lange Straße, umrahmt von riesigen Plattenbauten, zwischendrin jahrzehntealte Einkaufspassagen mit teils erheblichem Leerstand. Mehr als 250.000 Menschen leben hier im Bezirk mit neun Stadtteilen, in denen die Linke traditionell stark ist. Bei der Abgeordnetenhauswahl am Sonntag allerdings musste sich die Partei erstmals geschlagen geben, wenn auch denkbar knapp mit 23,5 Prozent zu den 23,6 Prozent der AfD beim Zweitstimmenanteil.
Der große Wahlsieger, die AfD, ist an diesem Tag nur schwer zu erreichen. Lindemann, ein Eisenbahner, der sich am Sonntag das Direktmandat geholt hat, ist am Montag nicht zu sprechen – er arbeitet, wie die meisten anderen AfD-Leute im Bezirk. Immerhin Jeanette Auricht geht ans Telefon, AfD-Kandidatin für den Marzahn-Hellersdorfer Bezirk 5, die es in ihrem eher bürgerlich geprägten Wahlkreis nicht geschafft hat, den vergleichsweise prominenten CDU-Kandidaten und Senator Mario Czaja ernsthaft zu gefährden. Die kaufmännische Angestellte hat nicht viel Zeit, aber eine Meinung zu Herrn Lindemanns Sieg: „Schauen Sie sich den Wahlkreis von Herrn Lindemann an, die hohe Arbeitslosigkeit und die kaputte Infrastruktur“, sagt sie, muss dann aber schnell auflegen, weil ihr jemand im Hintergrund offenbar Dampf macht. „Wir arbeiten heute, wir sind keine Berufspolitiker“, sagt sie noch und lacht, dann ist das Gespräch zu Ende.
Die AfD wird sich professionalisieren müssen
Auch das macht für manche im Bezirk offenbar den Charme der AfD aus: das Anderssein, das Nicht-zum-Establishment-Gehören. Doch wann nutzt sich das ab? Die Partei wird sich professionalisieren müssen, schon am Montag kämpft sie mit den neuen Aufgaben, etwa den Anrufen von Journalisten. Nach der Feierlaune am Sonntagabend haben sie sich für Dienstag verabredet, um zu besprechen, wie es weitergeht, wer sich wo aufstellt, wie die neue politische Macht eingesetzt werden kann. Der politische Alltag beginnt, und die politischen Sprüche auf den Plakaten haben erst einmal Pause.
Das gilt natürlich ebenso für die anderen Parteien, auf deren Reden und Wahlslogans jemand wie Thomas Hermenau mittlerweile allergisch reagiert. „Alles Sprüche. Aber was wird hier gemacht?“ Ein anderer Passant, ein Rentner, mischt sich ein, erzählt von Einbrüchen und davon, dass die Polizei und die Politik angeblich nichts dagegen täten. Die Presse bekommt auch ihr Fett weg, das Wort „Lügenpresse“ fällt, alle berichteten das Gleiche, warum würden denn die Nationalitäten von Straftätern nicht genannt? Eine Diskussion hat keinen Sinn, denn auf die Gegenbeispiele reagiert der Mann nicht. Er will Dampf ablassen, dem Reporter mal ordentlich Bescheid geben. Hermenau schaut sich das an, im Gegensatz zu dem Rentner ist er aber einem Gespräch interessiert, nicht nur an Dampfablassen. Inhaltlich verstehen sich die beiden: Auch Hermenau vertraut den großen Medien nicht, seine Informationen holt er sich in einer Pegida-Gruppe bei Facebook und verschiedenen anderen Seiten im Internet.
Ehrenamtler geben Lebensmittel in der Kirche aus
Aber kann das alles sein? Ist Marzahn-Hellersdorf wirklich nur desolat und ein Wohnort von Menschen, die längst alle Hoffnungen aufgegeben haben? Wo sind denn die Gutmeinenden, die Hoffnung haben, die etwas tun?
Wenige hundert Meter weiter in der Evangelisch-lutherischen Missionsgemeinde: Wer die vergleichsweise reichen Kirchen in Westdeutschland kennt, wundert sich ein wenig über diese Gemeinde. Die Kirche ist ein schmuckloser Betonbau, mittendrin stapeln sich Gemüse- und Brotkörbe. „Laib und Seele“ ist hier untergebracht, eine Ausgabestelle für arme Menschen, die zu dem Verein „Tafel“ gehört. Zwei Mal die Woche geben hier Ehrenamtler Lebensmittel aus, die die Geschäfte sonst auf den Müll gekippt hätten. Wegen der großen Nachfrage im Bezirk dürfen immer nur 50 Kunden auf einmal kommen.
„Es herrscht eine große Unzufriedenheit“
Norbert Täubert koordiniert die Arbeit der Organisation. Er spricht mit vielen Hartz-IV-Empfängern, kann sich ein Bild ihrer Nöte machen: „Es herrscht eine hohe Unzufriedenheit“, sagt er, „es ist keine Postbank mehr da, und auch kein Drogeriemarkt. Wenn man sich die Spielplätze so anschaut – es liegt viel brach. Statt einladenden Geschäften finden Sie vielerorts nur noch ein, zwei Imbisse, das war’s.“ Aber deshalb gleich AfD wählen? „Klar, da kann man aus Protest die AfD wählen. Aber ich bin sehr schockiert über das Ergebnis.“ Täubert hält das für die falsche Antwort, er selbst hat die Linke gewählt.
Täubert war früher einmal technischer Mitarbeiter, seine 30-Stunden-Stelle bei „Laib und Seele“ ist jetzt eine staatliche Fördermaßnahme. Reich wird man da nicht, und auch die Bedingungen sind alles andere als optimal. Ihm und seinen Mitstreitern ist es aber gelungen, etwas daraus zu machen; das Haus, in dem Kirche und Essensausgabestelle untergebracht sind, nach einem Verkauf an einen privaten Investor doch weiter nutzen zu dürfen. Die Miete war plötzlich mehr als verdoppelt worden, die Ausgabestelle vor dem Ende. Auch mit Unterstützung der örtlichen Linke-Politiker habe man mit dem Neubesitzer, einen Investor, reden können, so Täubert.
Die steigenden Mieten sind ein Thema im Bezirk, und Täubert, der auf die „Platte“, also das Leben in der Großsiedlung schwört, musste vor Jahren aus Berlin-Mitte an den Stadtrand ziehen, um sich noch eine Wohnung leisten zu können. Doch mittlerweile steigen auch hier teilweise die Mieten: „Vor sechs Jahren habe ich für 68 Quadratmeter noch 470 Euro gezahlt, jetzt 680 Euro“, sagt er. Für Menschen, die in Hamburg-Blankenese oder Berlin-Zehlendorf wohnen, dürfte das kaum eine schlechte Nachricht sein. Für Bewohner der Siedlungen hier im Osten schon.
„Lebensmittel für zwei Euro! Und Ihr beschwert Euch?“
Dann kommt Herr Bomke hinzu, ein ehemaliger Hausmeister im Vorruhestand, der nun für einige Stunden bei „Laib und Seele“ aushilft. Er stellt die Frage, ob „die AfD-Wähler eigentlich darüber nachdenken, ob die Partei Lösungen für diese Probleme hat“. Er spricht regelmäßig mit solchen, die zur Ausgabestelle kommen und „nur motzen“. „Denen sage ich dann: Ihr bekommt hier eine dicke Tüte mit Lebensmitteln für zwei Euro und beschwert Euch nur. Was soll das?“ Einige wenige beschwerten sich über die Flüchtlinge, die nun ebenfalls zur Ausgabestelle kommen würden. Aber insgesamt seien die meisten entspannt, betont Bomke, und Täubert sekundiert: Es seien ohnehin nur 20 Flüchtlinge von vielleicht 400 Kunden. Außerdem würden schon seit Jahren die Russlanddeutschen im Bezirk zu ihnen kommen – eine gewisse Vielfalt sei also eingeübt.
Trotz dieser niedrigen Zahlen hat das Thema Flüchtlinge im Bezirk offenbar mobilisiert. Die Nachwahlbefragung der „Forschungsgruppe Wahlen“ zeigt, dass sich die Berliner AfD-Wähler besonders stark nach der Politik im Bund gerichtet haben, Landesthemen waren für sie eher nachrangig. Die stichprobenartigen Gespräche mit mehreren AfD-Wählern bestätigen das: Die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung ist Dreh- und Angelpunkt der Kritik an den „etablierten Parteien“. Oftmals in Verbindung mit der Frage, warum „hier für uns Einheimische nichts gemacht wird“.
Trotz aller Kritik, die Täubert selbst an der teilweise maroden Infrastruktur oder den steigenden Mieten hat, hält er die Vorwürfe, was die Politik denn für Einheimische tue, für mindestens überzogen, wenn nicht gar falsch: „Es tut sich durchaus was, auch durch die Politik, und vor allem dank der vielen Vereine und Organisationen“, sagt er. Der Kulturring Berlin wolle zum Beispiel den Barnimplatz, einen etwas spröden und als „Steinwüste“ verspotteten Platz im Quartier Marzahn Nord, mit Veranstaltungen beleben. Überall seien solche Initiativen aktiv, erzählt Täubert. Offenbar komme das bei den Nörglern aber nicht an, zumindest noch nicht.
Für Thomas Hermenau sind solche Nachrichten allenfalls Tropfen auf die heißen Steine in den Betonwüsten der Großsiedlungen. Er erwartet von den „etablierten“ Parteien nichts mehr – und schon gar nicht von der Linkspartei, die er früher regelmäßig gewählt hat. Spätestens als Linke-Politiker im Wahlkampf verkündeten, im Falle von AfD-Kandidaten in den Bezirksversammlungen sich mit den anderen „demokratischen“ Parteien gegen die AfD verbünden zu wollen, hat er mit der Partei abgeschlossen – und offenbar mit der Lösungskompetenz der Demokratie: „Die AfD hat jetzt Aufmerksamkeit, und ich hoffe, die tut was.“ Sonst könne bald Schlimmeres passieren.
Da mischt sich wieder ein Rentner ein: „Die Presse lügt nur! Und die Polizeistatistiken sind gefälscht! Das ist doch alles am Ende hier!“