Von Martin Benninghoff
Im November 2015 töteten Terroristen fast 90 Menschen im Pariser Bataclan. Julia und Thomas Schmitz aus Köln überlebten – und kehren nun zum ersten Mal dorthin zurück.
Paris, im Oktober. Können Mauern und Böden Geschichten erzählen? Oder anders gefragt: Können gespachtelte Mauern, erneuerte Böden und überstrichener Beton Geschichten vergessen machen?
Nichts soll in der Konzerthalle Bataclan mehr an die Schreckensnacht vom 13. November 2015 erinnern, als islamistische Terroristen Dutzende Rockfans töteten und viele weitere möglicherweise für ein Leben traumatisierten. Die alte Bestuhlung, teils blutverschmiert und zerschossen, wurde rausgerissen, Putz und Böden sind erneuert, die Einschusslöcher an den Wänden gespachtelt und überstrichen, die Türen ausgetauscht. Es ist der Versuch, die Vergangenheit wegzusanieren und dem einstmals stimmungsvollen Bataclan im elften Arrondissement von Paris ein wenig Unschuld zurückzugeben.
Der Horror dieser Nacht allerdings bleibt, weil er nicht nur im Mobiliar oder im Beton des Bataclan steckt, sondern in den Köpfen der Überlebenden.
Knapp ein Jahr nach der Tragödie, an einem sonnigen Oktobertag in 2016, sind Julia und Thomas Schmitz an den Ort zurückgekehrt, an dem sie fast gestorben wären. Der Verein „Life for Paris“, ein Zusammenschluss überlebender Attentatsopfer, hat einen Besuch des Bataclan organisiert. Erstmals wird es für die damaligen Konzertbesucher geöffnet. Auch das Ehepaar aus Köln ist eingeladen.
In Kleingruppen mit Dolmetscher dürfen sie in das kernsanierte Gebäude gehen. Fotos oder Videos sind verboten, der Außenbereich ist von der Polizei abgesperrt, die Einlasskontrolle ist streng. Das Bataclan, das zur Todesfalle für knapp 90 Menschen wurde, soll zwar Ende November wieder für ein Konzert die Pforten öffnen, bis dahin aber vor allem ein Ort der Erinnerung und der Trauer sein.
Im Bataclan herrscht eine eigenartige Stimmung
Drinnen herrscht eine eigenartige Stimmung. Julia hat ein mulmiges Gefühl, Thomas wird später froh sein, wieder ins Freie treten zu können: „Es kommt mir alles so klein vor. Ganz anders als in der Erinnerung.“ Sie stehen auf dem Balkon schräg gegenüber und oberhalb der Bühne.
Hier saßen sie vor einem Jahr, als das Inferno plötzlich mitten im Gitarrensolo der amerikanischen Rockband „Eagles of Death Metal“ losbrach: Schüsse knallten durch den Saal, ein eigentümlicher Gestank wie von Feuerwerk breitete sich aus. Als die Panikwelle die Zuschauer ergriff und das chaotische Geschrei anzeigte, dass das hier nicht Teil der Show sein kann, zog Julia Thomas am Arm, und die beiden rannten los, mitgerissen von den anderen, liefen in den Flur hinter dem Balkon, durch ein Treppenhaus, und landeten in einem Raum, der sich später als Backstage-Raum der Band entpuppte.
Keine Zeit zum Nachdenken, einen Plan gab es nicht, es ging ums Überleben. Thomas half, die schwere Tür mit einem Kühlschrank und einem Sofa zu verbarrikadieren, dann kauerten die beiden mit anderen Überlebenden zweieinhalb oder drei Stunden in Todesangst im Halbdunkel. Als die Terroristen schließlich versuchten, in den Raum einzubrechen, schlossen Julia und Thomas mit ihrem Leben ab: „Wir haben wirklich gedacht, wir sterben jetzt. Hoffentlich geht es schnell und tut nicht weh“, sagt Thomas. Doch die Tür hielt dem Ansturm stand.
Ihr Fluchtweg in den Backstage-Raum versank nach dem Attentat im Nebel der Erinnerung. Wie lange dauerte die Flucht? Wie weit war der Weg vom Balkon in den Raum?
Julia und Thomas gehen ihn bei ihrem Besuch mit der Dolmetscherin ab, erkunden jedes Detail, gleichen Treppenstufen, Wände, Beleuchtung mit ihren Erinnerungen ab. Nach wenigen Minuten erreichen sie den Backstage-Raum, dessen schwere Tür durch eine leichtere Holztür ersetzt wurde. Thomas kann es nicht fassen: „Wäre die damals schon da gewesen statt der schweren Tür, wären wir heute tot.“
Heilsame Rückkehr an den Ort der Tragödie
Zurückzukehren an den Ort der Tragödie, das Erlebte und lückenhaft Erinnerte zu rekonstruieren, ist für sie heilsam: „Für uns ist das ein wichtiger Schritt, um das, was wir erlebt haben, besser zu verarbeiten“, sagt Julia. „Wir haben das alles ganz gut verkraftet.“ Ihnen geht es besser als anderen Überlebenden, die an diesem Oktobertag zur gleichen Zeit im Bataclan sind, und deren Schluchzen und Wimmern für die beiden Kölner nur schwer zu ertragen ist. Darunter Angehörige getöteter Konzertbesucher. „Es ist schlimm, die anderen Leute so zu sehen“, sagt Julia. „Das geht einem nahe, auch weil man weiß: Das hätte man selbst sein können.“
Dass es Julia und Thomas heute vergleichsweise gut geht, war direkt nach dem Terroranschlag nicht ausgemacht. Am Tag danach, am 14. November, holte Julias Bruder Stephan sie aus Paris zurück nach Köln. Schnell merkten sie: Der Schock ist das eine, aber es ist wichtig, darüber zu sprechen. Also folgten sie einer Einladung in die ARD-Talkshow „Günther Jauch“, nur 48 Stunden nach dem Anschlag. Es war ein Wagnis, weil Julia und Thomas nicht wussten, wie die Reaktionen des Publikums sein würden.
Wäre es nicht besser, erst einmal in der Anonymität und im Kreise von Freunden und Familie Kraft zu tanken? Was wäre, wenn sie beschimpft würden? Oder blöde angemacht von Fremden – in der Anonymität des Internets ja keine Seltenheit? Es ging aber gut. „Uns hat der Auftritt gut getan, die Möglichkeit, über das Erlebte zu sprechen“, sagt Julia. Auf dem Rückflug von Berlin nach Köln erkannte sie ein anderer Passagier: „Das war ein super Auftritt“, sagte er. Das habe Kraft gegeben.
Der Weg zurück in den Alltag war steinig: Thomas war in den ersten Wochen krankgeschrieben. Als Logistiker, der normalerweise mit Gefahrstoffen hantiert, durfte er nicht arbeiten. Der Job aber fehlte ihm, zu Hause kam er mehr ins Grübeln als ihm lieb war. Auch Julia trat bei ihrem Beruf in einer Kölner Werbeagentur kürzer, sie klagte über Konzentrationsschwierigkeiten. Aber anders als Thomas wollte sie alles über die Attentäter wissen, recherchierte stundenlang im Internet, saugte jedes Fitzelchen Information auf. Thomas war desinteressierter und zuckte mit den Achseln, wenn Julia wieder einmal mit neuen Infos kam. Wenige Tage später, als Julia ihre Stiefel vor der Haustür der Kölner Wohnung aufhob und anziehen wollte, bemerkte sie geronnenes Blut an den Sohlen, wahrscheinlich vom blutverschmierten Bataclan-Boden. Plötzlich war Paris wieder nah.
Zwei Wochen darauf, kurz vor ihrer lange geplanten Australien-Reise, suchten sie eine Psychotherapeutin auf. Prophylaktisch, um am anderen Ende der Welt keine böse Überraschung, eine Art Backflash, erleben zu müssen. Die Expertin für Traumata bestärkte die beiden: „Sie sagte, dass wir es gut schaffen werden, weil wir bisher ganz gut stabil sind“, erzählt Julia. Das gab Sicherheit. Silvester verbrachten sie am Hafen von Sydney, unweit der Oper, in Menschenmassen und Feuerwerkskrach. Als sie das überstanden hatten, wussten sie: Es geht aufwärts. Nach der Australien-Reise fing Thomas wieder an zu arbeiten. Sein Chef bat die Kollegen, ihn anfangs nicht auf das Geschehene anzusprechen, was Thomas durchaus recht war. Nicht immer, nicht zu jeder Zeit, und schon gar nicht auf irgendwelchen Partys will er über das Erlebte reden.
Im Februar 2016 fuhren sie dann zum ersten Mal nach der Tat nach Paris, um sich ein Konzert der „Eagles of Death Metal“ in einer Ausweichhalle anzuschauen – die Band war zurückgekommen, um den im November so jäh abgebrochenen Gig zu Ende zu spielen. Es war eine große Feier, und Sänger Jesse Hughes flogen die Sympathien nur so zu. Die Liebe zur Band kühlte allerdings danach ab, weil der Frontmann, ein umstrittener Waffennarr, in einem Interview krude Verschwörungstheorien zur angeblichen Verwicklung des Sicherheitsdienstes des Bataclan entwickelt hatte. Im Netz erntete er daraufhin einen ordentlichen Shitstorm enttäuschter Fans – auch Julia und Thomas sind nicht mehr gut auf ihn zu sprechen.
Vielen geht es schlechter als Julia und Thomas
Bei dieser Gelegenheit trafen sie andere Überlebende, einige sehen sie im Oktober wieder, in einer nahegelegenen Kneipe: Als Thomas den Raum betrat, stürmte ein junger Mann auf ihn zu und bedankte sich bei seinem „Lebensretter“. Thomas weiß nicht, wie er reagieren soll. Was will der Mann? Wie sich dann herausstellt, kauerte er damals mit den beiden im Backstage-Raum – und ist dankbar dafür, dass Thomas die Tür mit verbarrikadieren half.
Vielen geht es schlechter als Julia und Thomas, manche sind in Therapie. Eine Frau aus Nordrhein-Westfalen, die damals mit ihrem Partner auf Hochzeitsreise in Paris war, hatte sich auf der Flucht verletzt. Sie wollen sich bald persönlich treffen. Einige andere sind seit November 2015 krankgeschrieben. Julia berichtet von Leuten, die sich bis heute schwer tun, aus dem Haus zu gehen oder die Kinder zum Kindergarten zu bringen. Die Unsicherheit hat sich in ihr Leben geschoben.
Es ist auch den Fernsehauftritten zu verdanken, dass andere Überlebende auf Julia und Thomas aufmerksam wurden und den Kontakt suchten. Andererseits haben die beiden neben den guten einige schlechte Erfahrungen mit Medien gesammelt: Ein Privatsender war bei Julia unangemeldet bei der Arbeit erschienen, um sie abzupassen. „Es gab Sender, die bei uns zuhause Sturm geklingelt haben“, erinnert sie sich. „Bis wir sie weggeschickt haben.“
Am Anfang, kurz nach dem Anschlag, interessierten Julia und Thomas vornehmlich als Überlebende einer einzigen Tat. Im Laufe dieses Jahres bestimmten weitere Anschläge die Schlagzeilen – in Brüssel und Nizza. Julia und Thomas wurden daraufhin in Fernseh-Talkrunden eingeladen, wo es allgemein um Terror gehen sollte. Sie lehnten ab. „Wir können über unsere Erfahrungen sprechen, aber keine fundierten Aussagen zur Vermeidung oder Prävention machen.“
So schnell wird man nicht zum Terror-Experten, selbst wenn man ihn erlebt hat.
Viele in Deutschland sind verunsichert, wegen der angeblich ausufernden Flüchtlingsströme, wegen des Aufstiegs der AfD, wegen der pauschalen Islam-Ablehnung. Sie haben Angst, obwohl sie nichts Schlimmes erlebt haben. Aber der Terror kommt über die Medien herein.
Wie ist bei das denen, die von Islamisten um ein Haar getötet worden wären? „Wir nehmen unsere Erlebnisse nicht als Grund für Hass“, sagt Julia. „Die Menschen, die sich jetzt einen Anschlag als Grund nehmen, um gegen Ausländer zu wettern, haben das vorher auch schon getan.“ Jetzt Flüchtlinge zu unterstützen statt sie unter „Terror-Generalverdacht“ zu stellen, sei umso wichtiger, sagt Thomas. „Wir können besser verstehen, was Terror ist. Wir haben ihn erlebt und wissen: Genau deshalb flüchten die Menschen ja aus Syrien.“
„Wir lassen uns den Spaß nicht von irgendwelchen Idioten verderben“
Bleibt nichts hängen? „Wir bleiben dabei, wir lassen uns den Spaß nicht von irgendwelchen Idioten verderben, die meinen, Leute terrorisieren zu müssen“, sagt Thomas.
Mitte Oktober sitzen die beiden in der Küche ihrer Kölner Wohnung, auf dem Tisch: Papiere, Schreiben, ein Aktenordner. Es sind Briefe der deutschen und französischen Polizei, Auskunftsbögen und Beschreibungen des Tathergangs. Julia und Thomas beteiligen sich als Nebenkläger am Prozess gegen den mutmaßlichen Bataclan-Attentäter Salah Abdeslam. Bei der Polizei haben sie ausgesagt. Der Papierkram für die Opferentschädigung ist erledigt.
Aber ihr Leben bestimmen soll der 13. November 2015 nicht. Die nächsten Konzertkarten liegen schon bereit auf dem Küchentisch: „Green Day“, „Peter Pan Speed_rock“ und „Ugly Kid Joe“. „Wir sind von Anfang an wieder auf Konzerte gegangen“, sagt Thomas. „Aber wir schauen jetzt schon eher nach den Notausgängen.“
Quelle: FAZ.NET