Reportage aus Berlin zur Silvesternacht, erschienen bei FAZ.NET (01.01.2017).
Von Martin Benninghoff, Berlin
Silvester in Berlin. Besuch in einer Stadt, die sich knapp zwei Wochen nach dem Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt um Normalität bemüht.
Breitscheidplatz, nahe der Gedächtniskirche im Berliner Westen: Hier, wo vor noch nicht einmal zwei Wochen der mutmaßliche Attentäter Anis Amri einen Lkw in ahnungslose Weihnachtsmarktbesucher steuerte und so 12 Menschen tötete, erhellen unzählige Kerzen die Silvesternacht. Blumen liegen auf dem Boden, dazwischen einige Schilder mit Aufschriften der Anteilnahme: „Wir trauern mit den Deutschen“ oder einfach nur „Warum?“.
Es ist still, obwohl hinter der Gedächtniskirche, stadteinwärts, die Raketen empor steigen, der Krach der detonierenden Böller in den Häuserschluchten hin und her geworfen wird, und sich die Luft langsam mit dem typischen Silvesterfeuerwerkgeruch füllt. 0 Uhr. Silvester.
Aber die Menschen sind weggerückt, weg vom Anschlagsort hin zu den wenigen Buden, die noch auf haben, zur Champignonpfanne wenige Meter weiter in Richtung Kirche etwa oder zur Kneipenbude, aus der der laute Hans Albers schallt – „auf der Reeperbahn nachts um halb eins“…
„Es muss ja weitergehen“
Marcus steht mit seiner Freundin und einem befreundeten Pärchen an einem nahegelegenen Getränkestand. Sie trinken Sekt, prosten sich zu, schießen ein paar Fotos. Marcus wohnt nicht weit von hier am Adenauerplatz, war am späten Abend eigens zum Breitscheidplatz gekommen, um die Gedenkkerzen zu fotografieren und „an die Opfer zu denken“, sagt er. Jetzt aber wolle er das Feuerwerk sehen. Weg von den Blumen und den Kerzen und den schlechten Gedanken sein. „Wir wollen ja feiern“, sagt er, „es muss ja weitergehen.“
So wie Marcus tickt die ganze Stadt am Silvesterabend. Irgendwie geht es weiter nach dem verheerenden Anschlag. Die Feste wurden nicht abgesagt, alles soll wieder so normal wie nur möglich ausschauen.
Doch schon am Breitscheidplatz erinnern nun dicke Betonklötze an die Verwundbarkeit dieser Stadt mit ihren fast wöchentlichen Massenveranstaltungen. Die Betonklötze sollen nicht nur einen ähnlichen Anschlag mit einem Fahrzeug verhindern – sie sollen der Bevölkerung und den vielen Tausend Touristen, die an Silvester die Stadt bevölkern, das Gefühl von Sicherheit geben. Zurückgeben.
Dabei ist der Breitscheidplatz an diesem Abend ohnehin nicht der Magnet für Feiernde. Deutschlands größte Silvesterparty findet auf der gut zwei Kilometer langen Partymeile zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor statt. Mehrere Hunderttausend Menschen feiern hier am Abend und der Nacht unter dem Motto „Willkommen 2017“, das Bühnenprogramm mit Musikern wie Jermaine Jackson und Ray Wilson wird live im ZDF übertragen. Um Mitternacht läuten am Brandenburger Tor rund 6000 Raketen das neue Jahr ein.
Eine Herausforderung für die Polizei
Für die Berliner Polizei ist das Spektakel eine besondere Herausforderung – das Gelände gleicht einer Hochsicherheitszone: An einigen Eingängen sind – wie am Breitscheidplatz – Betonklötze angebracht, zudem sichern Panzerwagen die Zufahrtswege. Rund 1700 Polizisten sind im Einsatz, teils schwerbewaffnet, dazu Hunderte Helfer und Sicherheitskräfte privater Dienstleister. Die Eingänge werden rigoros kontrolliert, was mitunter zu längeren Wartezeiten führt. Zwischenzeitlich schließen die Veranstalter Eingänge – das Gelände ist gut gefüllt. Die Besucher sehen es gelassen.
Später meldet die Polizei, dass die Silvesternacht „weitgehend friedlich“ verlaufen sei, ein „wunderbarer und gelungener Rutsch“ ins neue Jahr. Dennoch kommt es zu Zwischenfällen: Auf der
Partymeile habe es Festnahmen wegen Rangeleien, Drogen und Waffenbesitz gegeben. Auch zu sexuellen Belästigungen sei es gekommen. Die Polizei twitterte: „Es wurden vereinzelt Frauen auf der #Festmeile sexuell belästigt. Wir gehen selbstverständlich jedem Fall nach und berichten.“
Trotz dieser Fälle: Insgesamt Entwarnung in einer sensiblen Situation nach den Ereignissen in der Kölner Silvesternacht 2015/2016, als Frauen massenweise begrapscht und angegangen worden waren. Die Berliner Polizei hatte die Bürger vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen ihrer Kölner Kollegen im Vorfeld eindringlich gewarnt: „Weisen Sie klar und unmissverständlich darauf hin, dass Sie bestimmte Dinge, wie z.B. zu dichtes Herankommen oder Anfassen, nicht wünschen. Machen Sie in einem solchen Fall auf sich aufmerksam. Sprechen Sie andere Feiernde an und bitten um Hilfe.“ Sicherheitshalber rechneten die Behörden offenbar mit dem Schlimmsten.
Beschäftigte Feuerwehr
Dabei hat die Feuerwehr in der Silvesternacht mehr als die Polizei zu tun. Alleine in der ersten Stunde nach Mitternacht rückt sie zu 760 Einsätzen im ganzen Stadtgebiet aus. Häufig brennen Balkone, weil sich Raketen und andere Feuerwerkskörper dort verfangen und Materialen entzünden.
Der abendliche Spießrutenlauf vom Neuköllner Hermannnplatz zum Kottbusser Tor in Kreuzberg lässt erahnen, wie es dazu kommt: Aus den Wohnungen schießen manche Raketen quer über die Straße in die gegenüberliegenden Häuserblocks, andere werfen extrem laute Böller auf den Gehweg. Mit dem Blick nach oben lässt es sich hier sicherer spazieren gehen.
„Hier kann man noch alles machen“
Neukölln und die Gegend um das Kottbusser Tor, „Kotti“ genannt, sind nicht nur durch soziale Probleme geprägt, durch Kriminalität und Negativnachrichten, sie sind auch das Ausgehviertel für Jüngere, für Studenten und Jugendliche aus der ganzen Welt. Ahmed wohnt hier, ein 25-Jähriger, der den gleichen Weg entlang des Kottbusser Dammes nimmt auf dem Weg zu einer Party – und einfach einen guten Rutsch wünscht. „Ist das nicht geil hier? Das gibt’s nicht in Köln, auch nicht in…Bayern“, ruft er, „hier kann man alles machen“.
Die Gegend hier ist eine andere Welt als die offizielle Partymeile am Brandenburger Tor, wo viele Touristen feiern – und wo Berlin an diesem Abend besonders verletzlich ist. Als dort ein Besucher noch vor Mitternacht „Bombe, Bombe, Bombe“ ruft, fackeln die Sicherheitskräfte nicht lange. Festnahme und Anzeige. „Er feiert nun #Welcome 17 bei uns“, twittert später die Polizei. Auf der Suche nach Normalität ist in Berlin wieder vieles erlaubt – makabre Scherze gehören knapp zwei Wochen nach dem tödlichen Anschlag auf den Weihnachtsmarkt noch nicht dazu.