Artikel erschienen bei FAZ.NET (09.05.2017)
Von Martin Benninghoff
Verwirrung durch den Wahlzettel: Wo kommt das Kreuzchen hin, was will uns die Erststimme sagen, was die Zweitstimme? Wir klären zur Bundestagswahl auf – in unserem Lexikon für Erstwähler. Teil 1. Mit der Initiative „80 Prozent für Deutschland“ ruft die F.A.Z. Erstwähler auf, ihre Stimme bei der Bundestagswahl abzugeben. Stellen Sie uns Ihre Fragen zur Wahl, egal wie vermeintlich peinlich sie erscheinen – F.A.Z.-Redakteure recherchieren und antworten fundiert. Schreiben Sie an: Initiative-80-Prozent@faz.de.
Wofür hat man eigentlich die Erststimme, was soll die Zweitstimme auf dem Zettel zur Bundestagswahl? Für jeden Wähler ist das die erste Frage, manchmal gar nicht so leicht zu durchschauen – und das betrifft nicht nur Erstwähler. Kurz erklärt: Mit der Erststimme auf der linken Seite des Zettels wählt man den Abgeordneten des Wahlkreises, in dem man seine Stimme abgibt, und mit der Zweitstimme auf der rechten Seite der Wahlunterlagen wählt man die Landesliste der Partei.
Das klingt ziemlich abstrakt und öde – ist es aber nicht: Denn hinter dem System mit einer Erst- und einer Zweitstimme steckt eine spannende Mischung aus kleinen politischen „Fürstentümern“, in dem ein direkt gewählter Abgeordneter „regiert“, und den Parteien, die Listen mit Kandidaten aufstellen, die später im Bundestag sitzen sollen. Beide Ebenen arbeiten zusammen, korrigieren und helfen sich gegenseitig, manchmal bekriegen sie sich, was in der Mischung gut für die Demokratie ist.Und das funktioniert so: Deutschland ist derzeit in 299 Wahlkreise eingeteilt. Das sind mehr oder minder große Gebiete, manche ländlich, manche städtisch geprägt. Die großen und manchmal auch die kleinen Splitterparteien stellen in jedem dieser Wahlkreise einen Direktkandidaten auf. Der Name der Frau oder des Mannes ist auf dem Wahlzettel mit der Partei, für die sie oder er antritt, eingezeichnet.
Dafür ist die Erststimme gut
Manchmal ist es gar nicht so leicht, geeignete Kandidaten zu finden, erst recht in einem Gebiet, in dem es eine Partei besonders schwer hat: Im Wahlkreis Dessau-Wittenberg in Sachsen-Anhalt zum Beispiel war es für die SPD gar nicht leicht, einen Kandidaten für die kommende Bundestagswahl im September zu finden – also wurde ein SPD-Politiker aus Berlin, der rheinische Wurzeln hat, gefragt. Stefan Stader tritt dort nun an. In der Eifel, in Bitburg-Prüm, schaltete die SPD sogar eine Stellenanzeige, weil sich kein geeigneter Kandidat fand. Im anschließenden Casting setzte sich schließlich Jan Pauls als Direktkandidat durch. Ein Auftrag in schwieriger Mission: In Bitburg hat seit 50 Jahren immer der CDU-Kandidat gewonnen, seit 2009 sitzt der CDU-Politiker Patrick Schnieder für den Eifel-Kreis im Bundestag.
Bewerber für den Job des Wahlkreisabgeordneten müssen mindestens 18 Jahre alt sein. Die Parteien im Wahlkreis küren ihren Kandidaten in einer geheimen Wahl. Manchmal, wenn sich mehrere Bewerber finden, kann es zu Kampfabstimmungen kommen. Es ist auch möglich, ohne Partei im Rücken anzutreten. Wer das vorhat, muss mindestens 200 Unterschriften zusammenbringen und wissen, was er sich antut: Denn Direktkandidaten opfern viel Freizeit und auch Geld für ihre Kandidatur. Ohne eine Partei zur Unterstützung ist das noch anstrengender.
Fleiß ist wichtig, Geduld – und Standvermögen im wahrsten Sinne des Wortes: Die Kandidaten stehen während des Wahlkampfes häufig an den Supermärkten, um Flyer zu verteilen und mit potentiellen Wählern ins Gespräch zu kommen. Nicht jede Begegnung ist sympathisch, gerade Kandidaten, die neu im Politgeschäft sind, müssen erst lernen, was es heißt, an einem Wahlkampfstand auch mal beschimpft zu werden. Wahlkreisabgeordnete werden dabei von manchen Wählern für sämtliche Themen in Haftung genommen, selbst wenn sie als Bundespolitiker wenig Einfluss auf den verschleppten Ausbau einer Umgehungsstraße haben dürften.
Sei’s drum, letztlich bekommt derjenige einen Platz im Bundestag, der die meisten Erststimmen in seinem Wahlkreis erhält. Für die Wähler ist der Abgeordnete damit der Vertreter „der Politik“ und muss möglichst alle Themen drauf haben, die die Menschen bewegen – vom G8- oder G9-Abitur (eigentlich Ländersache) über eine funktionierende Müllabfuhr (eigentlich Sache der Kommunen) bis hin zur Flüchtlingspolitik (Querschnittsaufgabe) und Verteidigung (Bund). Eine Mammutaufgabe für Allrounder. Fluch, aber auch Reiz in der Vielfalt der Aufgaben.
Die Freiheit der direkt gewählten MdBs
Wer es dann geschafft hat und offiziell seinen Platz in Berlin eingenommen hat, darf sich endlich „Mitglied des Deutschen Bundestags, MdB“ nennen. Direkt gewählte MdBs haben den Vorteil, dass sie besonders legitimiert sind, nämlich direkt durch den Willen der Wähler. Das kann man ihnen auch nicht so leicht nehmen, was die Partei der Kandidaten oftmals zu spüren bekommt, wie man am Beispiel von Christian Ströbele sehen kann.
Ströbele zog erstmals in den Achtziger-Jahren in den Bundestag ein und dann wieder Ende der Neunziger: 2002 trat er als Direktkandidat im Berliner Innenstadt-Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg an – und gewann. Mit einem extrem personalisierten Wahlkampf, mit Plakaten, die ihn Fahrrad fahrend zeigten, setzte er sich wiederholt in dem links-grün geprägten Wahlkreis durch, auch weil er sich bisweilen auf Kosten seiner Partei, den Grünen, absetzte. Als die rot-grüne Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer am Ruder war, zog Ströbele öffentlichkeitswirksam gegen den außenpolitischen Kurs der Bundesregierung zu Felde. Legendär sein Spruch: „Ströbele wählen heißt Fischer quälen.“
Mit solcher Forschheit gegen die eigene Partei schaufeln sich Abgeordnete, die über die Landeslisten in den Bundestag ziehen, mit hoher Wahrscheinlichkeit ihr politisches Grab. Sie sind weitaus abhängiger von der Gunst ihrer Partei, denn diese stellt in ihrem Bundesland eine Landesliste auf – die großen Parteien 16 Landeslisten für alle 16 Bundesländer. Spezielle Parteitage oder Delegiertenkonferenzen stimmen über die Namen der Landeslisten ab, und hierbei wird es mitunter kompliziert: Persönliche Sympathien spielen da eine Rolle, Loyalität zur Partei, manche wie die Grünen haben eine Frauenquote, die SPD wählt ihre Kandidaten teils nach regionaler Herkunft innerhalb des Bundeslandes aus.
Ganz vorne auf die Listen setzen die Parteien meist ihre politischen Schwergewichte, um auf Nummer sicher zu gehen, dass sie es in den Bundestag schaffen: In Baden-Württemberg kandidiert für die Wahl im September Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), Deutschlands dienstältester Abgeordneter. Seit 1972 sitzt er im Bundestag. Nicht dass er die Absicherung auf der Landesliste nötig hätte, denn in seinem Wahlkreis Offenburg holte er stets mit den Erststimmen das Direktmandat. Aber die CDU Baden-Württemberg will nicht das Risiko eingehen, Schäuble als MdB zu verlieren, sollten es sich die Wähler im Wahlkreis anders überlegen.
Dafür ist die Zweitstimme gut
Mit der Zweitstimme auf dem Wahlzettel stimmen die Wähler über die Landesliste ihres jeweiligen Bundeslandes ab. Sie ist entscheidend für die Frage, mit wie vielen Abgeordneten eine Partei im nächsten Bundestag sitzt – je mehr Stimmen, desto mehr Sitze. Zuerst werden dabei die Direktmandate berücksichtigt – nur wenn danach noch Sitze übrig sind, werden auch Kandidaten von der Landesliste gezogen. Das heißt zum Beispiel: Wenn einer Partei nach der Wahl 17 Sitze im Bundestag zustehen und sie in den Wahlkreisen 8 Direktmandate gewonnen hat, ziehen zusätzlich die ersten 9 Kandidaten von der Landesliste ein. Wenn ein gewählter Abgeordneter keine Lust mehr hat, sein Mandat, aus welchen Gründen immer, nicht mehr antreten kann oder gar verstirbt, dann rückt der nächste auf der Liste nach.
Auf die Art – mit der Erst und Zweitstimme – kommt der Bundestag auf seine mehr als 600 Abgeordneten (die Zahl variiert, was mit den Überhang- und Ausgleichsmandaten zu tun hat, aber das ist eine andere Geschichte). Stärkste Gruppe, im Bundestag nennt man das ab einer bestimmten Größe Fraktion, ist in der aktuellen Legislaturperiode die CDU/CSU, gefolgt von SPD, Linke und Grünen. Mit der Mehrheit der Großen Koalition, dem Zusammenschluss von CDU, CSU und SPD, haben die Abgeordneten die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gewähl
Mit der Erst- und Zweitstimme hat unser Wahlsystem also zwei wichtige Säulen: Einerseits bestimmen die Parteien über die Auswahl der Kandidaten, andererseits bestimmen die Bürger über die Stärke der Parteien und die Wahl der Wahlkreisabgeordneten. Da kann man durchaus kreativ sein: Wer meint, die FDP ist die Partei der Wahl, aber der Wahlkreiskandidat der Grünen gefällt mir gut, kann seine Stimme splitten: Zweitstimme für die FDP, Erststimme für die Grünen. Wer den CSU-Kandidaten toll findet, aber doch eher der SPD zuneigt: Erststimme für die CSU, Zweitstimme für die SPD. Sollen wir das noch weiter durchspielen? Ach was, geht selbst zur Wahl und probiert es aus!