Von Martin Benninghoff
Was macht eigentlich ein Volksvertreter den ganzen Tag? Und wieso ist er nur einzelne Wochen in Berlin und ansonsten zuhause? Wir klären zur Bundestagswahl auf – in unserem Lexikon für Erstwähler.
Wer sich Bundestagsdebatten im Fernsehen, im Livestream oder von der Besuchertribüne im Reichstag anschaut, sieht häufig leere Ränge. Nur vereinzelt sitzen einige Abgeordnete auf den blauen Stühlen der Fraktionen, nur manche lauschen dem Redner vorne, manchmal angestrengt interessiert, manchmal belustigt, andere unterhalten sich, tippen auf ihrem Tablet herum oder suchen das Weite. Der oberflächliche Eindruck: Die tun nichts, die Abgeordneten, die sind ja nie da, und wenn sie im Plenum hocken, dann interessieren sie sich für alles, nur nicht für das Thema der Debatte.
Ein solches Fazit wäre allerdings voreilig und – so pauschal – falsch: Die meiste Arbeit erledigen die Bundestagsabgeordneten in den Fachausschüssen, die Pflicht sozusagen. Die Debatten im Plenum sind die Kür, bei denen sich die Fraktionsredner mal mehr, mal weniger heftige Schlagabtausche liefern. Das hängt immer vom Thema ab, und von der öffentlichen Aufmerksamkeit, die das Parlament zum Beispiel bei einer Aussprache nach einer Regierungserklärung der Kanzlerin genießt. Die „alltägliche“ Ausschussarbeit hingegen ist sachlich und weniger konfrontativ. Oftmals erreichen die Politiker hier Kompromisse mit ihren Gegnern, mit denen sie im Plenum, Fernsehtalkrunden oder in den Zeitungen unversöhnlich streiten.
Und das ist beileibe noch nicht alles. Die Terminkalender der mehr als 600 Mitglieder des Deutschen Bundestages (MdB) sind in den Sitzungswochen, in denen sie in Berlin zugegen sind, meist prall gefüllt. Mit Büroarbeit, Sitzungen, Interviews, Besprechungen mit ihren Mitarbeitern und abendlichen Veranstaltungen. Ein gehöriger Teil geht für inhaltliche Vorbereitungen drauf, denn die Abgeordneten stimmen im Parlament über Gesetze ab, die sie wenigstens in den Grundzügen verstanden haben sollten – was bei komplexen Vorhaben wie beispielsweise dem Euro-Stabilitätsmechanismus, über den der Bundestag 2012 abgestimmt hat, gar nicht so leicht ist. Im persönlichen Fachbereich müssen sie sich ohnehin gut auskennen und die neuesten Entwicklungen im Schlaf drauf haben
Eine typische Berlin-Woche
So verschieden die Themen, so verschieden sind auch die Abläufe einer Sitzungswoche. Dennoch: Die Arbeitstage der Abgeordneten ähneln sich. Eine typische Berlin-Woche der saarländischen CDU-Abgeordneten Nadine Schön könnte in leicht abgewandelter Form für viele andere MdBs gelten: „Meine Arbeitswoche in Berlin beginnt meist montags um 4 Uhr“, schreibt sie auf ihrer Homepage. „Um frühzeitig im Büro zu sein, nehme ich meist den ersten Flieger von Saarbrücken in die Bundeshauptstadt. In meinem Büro angekommen erwarten mich Akten, Einladungen, Briefe, Dokumente und Fachzeitschriften“ – zur Vorbereitung auf die anstehende Sitzungswoche.
Am Dienstagmorgen stehen bei Schön Treffen mit anderen Abgeordneten in Arbeitsgruppen an, um die kommenden Ausschuss- und Plenarsitzungen inhaltlich und strategisch vorzubereiten, am Nachmittag folgt eine Sitzung der CDU/CSU-Fraktion, oftmals mit der Kanzlerin. Am Mittwoch finden Ausschusssitzungen statt, am Donnerstag Plenarsitzungen im großen Saal mit den blauen Stühlen und dem Bundesadler, zudem tagen weitere Ausschüsse. Freitags folgen häufig weitere Debatten im Plenarsaal, wobei viele Abgeordnete schon die Uhr im Blick halten dürften: „Je nach Arbeitslage erwische ich dann noch knapp das Flugzeug um Viertel nach drei zurück ins Saarland“, schreibt Nadine Schön, „oder ich nehme die Maschine abends um Viertel vor neun.“Abends erwarten die Abgeordneten dann noch Podiumsdiskussionen, Sitzungen fraktionsinterner Gruppen oder Veranstaltungen von Organisationen, für die sie sich engagieren oder mit denen es inhaltliche Schnittmengen gibt. All das wäre nicht zu schaffen, ohne die Zuarbeit der wissenschaftlichen Mitarbeiter, die der Deutsche Bundestag jedem Abgeordneten mit knapp 20.000 Euro im Monat bezahlt: Von dem Geld sind die Mitarbeiter im Berliner Büro ebenso zu entlohnen wie die Kräfte in den Wahlkreisen und den Gemeinschaftsbüros der Partei-Landesgruppen. Dazu kommen eine steuerfreie Kostenpauschale von rund 4.300 Euro, unter anderem für die Büroausstattung, die Übernahme von Dienstreisen und eine Netzkarte der Deutschen Bahn. Der Abgeordnete selbst bezieht eine monatliche Vergütung von rund 9.300 Euro, die noch zu versteuern sind.
Das klingt zunächst einmal üppig und sorgt seit Anbeginn des Nachkriegs-Parlamentarismus in Deutschland bei jeder Bezugserhöhung für öffentliche Aufregung – wozu der Euphemismus „Diäten“ sicher seinen Anteil beiträgt. Seit Ende der Siebziger Jahre haben sich die Abgeordneten deshalb 14 Mal Nullrunden verordnet, um die Debatten zu beruhigen. Seit 2016 sorgt ein Automatismus für eine regelmäßige Angleichung der Diäten an die Lohnentwicklung im Land – seitdem weithin ohne öffentliche Aufregung.Nicht nur die Diäten sorgen für Kritik, der Bund der Steuerzahler moniert zum Beispiel, dass die kostenlose Bahn-Fahrkarte für private Reisen genutzt werden dürfe, sogar für Urlaubsreisen: „Die Kosten trägt der Steuerzahler.“ Das ist zweifellos richtig, allerdings lässt sich zwischen „dienstlich“ und „privat“ beim Job des Abgeordneten auch nicht immer unterscheiden. Das spürt man nirgendwo deutlicher als im Wahlkreis, wo die gewählten MdBs einen großen Teil ihrer sitzungsfreien Zeit einsetzen, um den Kontakt zu Wählern und lokalen Akteuren zu halten und auszubauen, inklusive Besuch beim Schützenverein oder den Kaninchenzüchtern. Freizeit ist das nicht unbedingt.
Hoher Freizeiteinsatz im Wahlkreis
Aber man kann die vielen Verpflichtungen für sich selbst auch positiv interpretieren, wie es beispielsweise der SPD-Abgeordnete Sebastian Hartmann aus dem Rhein-Sieg-Kreis in Nordrhein-Westfalen macht: „In meinem Heimatwahlkreis sammelt man Ideen und Anreize für die politische Arbeit.“ Und die holt er sich bei einem Besuch der Kindertagesstätte „Wirbelwind“ der Arbeiterwohlfahrt in Hennef, bei einem Unternehmen in Siegburg oder bei einem Abstecher zur „Lebensgemeinschaft Eichhof“, einem Wohnprojekt für geistig behinderte Menschen. Zwischendrin gibt es Besprechungen mit seiner Wahlkreismitarbeiterin und abends, kurz vor der Kreisvorstandssitzung seiner Partei, noch ein Vorbereitungsmeeting mit dem SPD-Kreisgeschäftsführer. Ein typischer Arbeitstag im Wahlkreis.
Dass die Abgeordneten ihre vollgepackten Terminkalender so bereitwillig mit der Öffentlichkeit teilen, hat mit dem vielfach schlechten Image von Berufspolitikern zu tun, nicht nur in der Frage der Diäten, sondern auch der Arbeitsbelastung und letztlich der Ehrlichkeit. Das Negativbeispiel der ehemaligen Essener SPD-Abgeordneten Petra Hinz, die nach Mobbingvorwürfen und einem manipulierten Lebenslauf 2016 ihr Mandat abgeben musste, hat das Bild einer entrückten Politiker-Kaste verstärkt. Hohe Nebeneinkünfte, wie beispielsweise beim ehemaligen CSU-Abgeordneten Peter Gauweiler, tragen zum Image eines Politikers bei, der sich selbst am nächsten ist. Seit einiger Zeit müssen sie deshalb ihre Nebeneinkünfte teilweise offenlegen, der „gläserne Abgeordnete“ will das Vertrauen der Wähler zurückgewinnen.
MdBs versuchen zudem, ihre Arbeit in Berlin im mitunter weit entfernten Wahlkreis irgendwie sichtbar zu machen, auf teils verschlungenen Pfaden. Die klassische Pressearbeit stößt da vielfach an Grenzen, da die Themen des Wahlkreises – Müllabfuhr und Umgehungsstraße – Sache der Lokalpolitiker sind. Eine Möglichkeit für einen Berliner MdB, sich in diese Politikfelder einzuklinken, ist, einen zuständigen Bundesminister in den Wahlkreis zu locken, der, im besten Falle, gleich ein Bündel Fördergeld aus einem Bundestopf mitbringt. Der gemeinsame Pressetermin an der neu geplanten Umgehungsstraße ist dann leicht zu organisieren und ein echtes Heimspiel für den Wahlkreisbundestagsabgeordneten.
Anders als Lokalpolitiker, die sich manchmal von den bundesweiten Negativtrends ihrer Parteien absetzen können, trifft harter Wind die MdBs meist als erstes. Politische Großwetterlagen – Flüchtlinge, Islam, Populismus, Brexit und Trump – spielen derzeit bei jeder Wahl eine Rolle, und erfolgreich hochgezogene Wahlkampfthemen können einen Wahlkampf in relativ kurzer Zeit drehen, wie am Beispiel Armin Laschets (CDU) in Nordrhein-Westfalen zu sehen ist, der das Thema innere Sicherheit schnell zu seinem Wahlkampfschlager aufbauen konnte.
Der persönliche Fall eines scheidenden Abgeordneten kann nach den nervenaufreibenden Wahlkampftagen mit hohem Einsatz umso tiefer sein – und ist für viele in psychischer und existenzieller-materieller Hinsicht eine Herausforderung. Erst recht, wenn man nicht die eigene Leistung als Grund für die Niederlage sieht, sondern die schlechte Strategie seiner Partei. Besser dran ist, wer sich als MdB deshalb von Anfang an klar macht: Das Mandat ist nur für eine Legislaturperiode vergeben und kein Amt fürs Leben. Dann fällt der Abschied leichter – und der Neuanfang in einem anderen Beruf auch.