Kolumne erschienen bei FAZ.NET (16.06.2017)
Von Martin Benninghoff, Berlin
Aus dem Zusammenhang gerissene Zitate sind ein beliebtes Kampfwerkzeug in politischen Debatten – da unterscheidet sich ein Erdogan-Anhänger kaum von einem AfD-Sympathisanten. Eine Begegnung.
Neulich habe ich endlich meinen Nachbarn kennengelernt, dem ich bislang immer nur von weitem zugewinkt habe. Ein netter Kerl, mit dem ich ein bisschen geplaudert habe. Unverfängliches, was man eben so plaudert, über die Kinder und den Sandkasten in der Siedlung und die Sandkastenbude, die er für seine Kinder aus Pappmaché gebaut hat, und über die anderen Nachbarn in Berlin-Charlottenburg, wo wir beide wohnen.
Das lockere Geplänkel ging eine ganze Zeit so, bis zu dem Punkt, als wir uns gegenseitig nach den Berufen fragten. Als er hörte, dass ich Journalist bin, ging es los. Warum die deutsche Presse so gegen Erdogan sei? Mein Nachbar ist nämlich türkischstämmig, eine Information, die bis dato keine Rolle spielte. Warum auch? Er ist in Deutschland geboren, besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit, arbeitet seit vielen Jahren in der Werbebranche. Plötzlich steht seine türkische Herkunft im Zentrum des Gesprächs, und das gipfelt in seinem Satz: „Ich bin stolzer Türke“.
Berliner mit Bekenntnisdrang
Dem Berliner an sich ist so viel Bekenntnisdrang ja nicht ganz fremd, allerdings bin ich – im Gegensatz zu meinem Nachbarn – ein Zugezogener und Wahl-Berliner. Jedenfalls beklagte er sich massiv über die Einseitigkeit der deutschen Presse bei seinem Lieblingsthema Erdogan. Zum „Beweis“ seiner These lenkte er das Gespräch auf den in der Türkei inhaftierten Korrespondenten einer deutschen Zeitung, der „Welt“, Deniz Yücel, der in dieser Woche zum ersten Mal vom deutschen Botschafter Martin Erdmann besucht wurde. Erdogan, der türkische Staatspräsident, hatte Yücel als deutschen Spion bezeichnet.
Mein Nachbar hielt also Yücel für die personifizierte Niedertracht des deutschen Journalismus. Den er allerdings kaum kennt, da er auf Nachfrage einräumte, nur türkische Medien zu konsumieren. Aber sei’s drum. Als „Beweis“ für seine These hielt er mir sein Smartphone mit einem Zitat Yücels unter die Nase: „Der baldige Abgang der Deutschen aber ist Völkersterben von seiner schönsten Seite.“ Nur dieses eine Zitat, sonst nichts. Siehst Du, so deutete ich den Blick meines Nachbarn, was das für einer ist, dieser Yücel? So einem sei doch alles zuzutrauen. Meine einzige ungelenke Retourkutsche: Hast Du die Quelle gecheckt? Woher kommt der Satz?
Kontext? Interessiert doch keinen!
So ist das eben mit den aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten, die sich viral verbreiten. Keiner weiß mehr den Kontext, keiner kümmert sich darum, ob das Zitat stimmt oder nicht. Also marschiere ich in meine Wohnung und schaue nach: Yücels Satz entstammt einer satirischen Kolumne mit dem Titel „Super, Deutschland schafft sich ab“. Der Text ist sechs Jahre alt und bezog sich offenbar im Titel auf Thilo Sarrazins Untergangsszenario „Deutschland schafft sich ab“, das damals in aller Munde war. Die Glosse ist vielleicht nicht sonderlich witzig, aber sie ist so gemeint. Hallo, Nachbar?
Mein Nachbar hat den satirischen Satz offenbar für bare Münze genommen, aber das ist nicht nur eine Spezialität von Erdogan-Jüngern. Auch AfD-Leute haben den besagten Satz fleißig geteilt, natürlich aus anderen Motiven. Für Rechtspopulisten dient das Ganze als „Beleg“ für die Verdorbenheit eines deutsch-türkischen Journalisten, der den Deutschen ans Zeug flicken will. Für die ist Yücel ein „Deutschlandhasser“, ein „Linksterrorist“, einer, der eine „Umvolkung“ herbei schreibe.
AfD-Leute und Erdogan-Anhänger, in der Propaganda vereint? Da bilden sich interessante und vor allem unerwartete Koalitionen in der Wahl der propagandistischen Mittel. Ob sich mein Nachbar überzeugen lässt, dass er einer Satire aufgesessen ist? Ich vermute nein. Vielleicht sprechen wir doch beim nächsten Mal wieder lieber über die Qualität des Sandkastens hinter unserem Haus.