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Sampler für den simplen Geschmack

Artikel erschienen bei FAZ.NET (16.02.2018).

Von Martin Benninghoff, Elena Witzeck, Philipp Krohn, Felix Hooß, Laura Henkel, Patrick Bernau

An diesem Freitag erscheint die „Bravo Hits 100“. Die Compilation-Serie hat Generationen mit ihren wilden musikalischen Mischungen geprägt und gegruselt. Sechs Redakteure erinnern sich.

Und schon wieder Bravo Hits! Jahrelang, ja jahrzehntelang war diese Wortkombination aus meinem aktiven Wortschatz verschwunden – und dann das: Vor einigen Tagen fiel in einem Gespräch mit einem guten Freund, eher beiläufig, der Titel: Bravo Hits. Der Freund, mit dem ich viele Jahre in einer Band gespielt habe, wollte sich, warum auch immer, von seinem Musikgeschmack in Teenagerjahren distanzieren. Er wusste, in meinem Kopf ist er fast unwiderruflich verknüpft mit Bravo Hits, der Scheibe, die er in zigfacher Ausführung im CD-Regal stehen hatte. Er hatte sie sogar immer wieder aufgelegt.

Ich weiß nicht mehr, ob ich der Scheibe unrecht tue, aber ich erinnere mich an eine Vielzahl nervtötender Eurodance-Nummern darauf. Wer sich nicht erinnert: Das waren meist ziemlich simple Songs rund um eine weibliche Stimme, die die Hookline sang, und einen Rapper, der dazwischen den harten Kerl mimen durfte. Culture Beat, 2 Unlimited, Dr. Alban, Snap. Na, klingelt’s?  Mir zumindest in den Ohren, und das noch immer. Wobei: Nicht alles war schlecht, „Mr. Vain“ von Culture Beat hatte Potential. Musikalisch überlebt hat aus dieser Zeit eigentlich nur DJ Bobo (und Scooter). Ausgerechnet er. Bravo Hits, für mich heute noch immer die Chiffre meiner schweren musikalischen Kindheit und Jugend. Und deshalb irgendwie auch: wertvoll.
(Martin Benninghoff)

Zuhause hörten wir Dire Straits und Commodores, und ich war stolz darauf, nicht zu denen zu gehören, die sich in der siebten Klasse schon dem Mainstream beugten. Nie, hatte ich mir vorgenommen, würde eine dieser peinlich-bunten CDs in meine Sammlung gelangen. Wenn mir jemand von der aktuellen Neuerscheinung erzählte, verkündete ich, auch dieser Trend werde vorübergehen. Bis zu einem einwöchigen Skiausflug mit der Schulklasse, als meine Freunde jeden Abend ekstatisch zu „Oops – I did it again“ und „Teenage Dirtbag“ tanzten und grölten. Am Tag nach unserer Rückkehr hörte ich mich unter handtellergroßen Kopfhörern im Drogeriemarkt in meine ersten Bravo Hits hinein. ‎Es war die Nummer 31. Sie begann mit Ronan Keatings überragend schnulzigem „Life is a Rollercoaster“ und blieb für die nächsten drei Songs, „She’s Got That Light“ und „Dancing in the Moonlight“, beim Thema. Nach „We Will Rock You“ fiel die Qualität zugegebenermaßen etwas ab. Nachmittagelang schloss ich mich mit dem Gefühl, etwas Neues, Unerhörtes zu entdecken, in meinem Zimmer ein.

Die nächste Ausgabe, die ich mir kaufte, war die 33. Die Zeit der Skikurse und Schullandheime war vorbei und meine Freunde hatten angefangen, Kurt Cobain zu hören. Ich musste in der Nähe der Stereoanlage bleiben, um bei den Songs, die mich nervten, weiter zu drücken. Es blieb bei diesen beiden Bravo Hits: mehr kaufte ich mir nicht. Aber sie stehen noch in meiner Sammlung. Manchmal gibt es sie noch, die „Teenage Dirtbag“-Momente. Und zum Mitgrölen findet sich dann auch immer jemand.
(Elena Witzeck)

Mit 13 oder 14 änderte sich die Welt schlagartig. War man bei jemandem eingeladen, ging es nicht mehr darum, wie man mit ihm spielen konnte, sondern ob er Geschmack hatte. Zählten vorher Kletterqualitäten, Einbildungskraft und die He-Man-Burg, musste man jetzt mit der richtigen CD-Sammlung glänzen. Was aber, wenn man (noch) keinen Musikgeschmack hatte? Dann schienen die Bravo Hits ein Ausweg zu sein. Das hat auf den ersten Partys die Meinungsführer zur Verzweiflung getrieben: Das Volk wollte tanzen, keine Musik war vorhanden.

Wie viele Feiern hat es gegeben, in denen sie sich durch das, was man heute Playlists nennt, quälten und versuchten, aus CD-Boxen Honig zu saugen? Für zwei Stunden Tanzen musste man bei drei bis vier brauchbaren Songs unter 40 angebotenen schnell auf den Wiederholungseffekt setzen. So unkultig diese Boxen waren, hier heilt die Zeit keine Wunden: Sie werden auch mit den Jahren nicht besser. Die Flohmarktkisten sind und bleiben voll davon. Zwei Drittel der Lieder hatte man vergessen, und sie wiederzuentdecken macht auch keine Freude.
(Philipp Krohn)

Matthias, der Freund aus dem Nordseeurlaub, war ein Jahr älter als ich, konnte gut kicken und besaß die Bravo Hits 8. Darauf: „No Good“ von The Prodigy. Es war wie eine Erweckung: Ich wollte plötzlich nicht mehr nur Mamas Beatles-Platten hören, sondern lieber diese übertriebene, adrenalinhaltige Techno-Hymne. Die 30 D-Mark waren gut investiert, denn obendrein enthielt die Doppel-CD weitere aktuelle Hits des Spätsommers 1994: Mo-Dos „Eins, zwei, Polizei“, Whigfields „Saturday Night“ und das Lied aus der Levis-Werbung, „Inside“ der Grungerock-Gruppe Stiltskin. Ein fairer Deal also, der einen auch fragwürdige Interpreten (Joshua Kadison, Pur, Die Toten Hosen auf Englisch) verschmerzen ließ.

Beim Studieren der Trackliste überkommt mich heute leichte Nostalgie nach einer Jugend, in der die deutsche Musik so schlecht war wie der deutsche Fußball – Stefan Raabs WM-Song „Böörti Böörti Vogts“ erinnert mahnend an beides. Nicht alle Lieder von damals sind gut gealtert. The Prodigy gehen aber immer noch.
(Felix Hooß)

Meine erste Bravo-Hits-CD, die Nummer 26, war eigentlich gar nicht meine. Wie es das Schicksal so mancher kleinen Geschwister ist, habe ich viel teilen müssen und manches auch nur ausleihen dürfen. Als meine älteren Schwestern mal besonders gütig waren, wurde „Mambo No. 5“ von Lou Bega zu meinem langjährigen Lieblingslied. Erst 2003 brach bei uns in der Grundschule dann der Bravo-Hits-Boom aus. Plötzlich waren die CDs mehr als gefeiert und die Gelegenheit, eine gebrannte Scheibe bei einer Freundin abzustauben, das größte Glück. Zwischen 2003 und 2009 liefen die Bravo Hits 50 bis 70 dann rauf und runter, bis eigene CDs von Rihanna und Co. irgendwann interessanter wurden.

Viele Songs wie Avril Lavignes „Sk8er Boi“ und Hoobastanks „The Reason“ habe ich noch Jahre später an Karaokeabenden mit Freunden in Singstar-Mikrofone gegrölt. Die Tatsache, dass wir Gwen Stefani mit „Hollaback Girl“ und Banaroo mit „Dubi Dam Dam“ hemmungslos abgefeiert haben, ist mir heute ein bisschen peinlich. Aber das war immer das Besondere an den Bravo Hits – aus dem Sammelsurium der schönsten, langweiligsten und verrücktesten Lieder, die ein halbes Jahr Musikgeschichte hervorgebracht hat, die eigenen Favoriten herauszupicken und in Dauerschleife zu hören.
(Laura Henkel)

„Was wünschst du dir denn zu Weihnachten?“, fragte meine Patentante Helga in den frühen Neunzigern. Leider kannte ich das Wort „Sampler“ noch nicht, also sagte ich nur: „So eine CDs mit aktuellen Hits drauf.“ Helga nahm sich’s zu Herzen, und in ihrem Weihnachtspaket kam – liebevoll verpackt – ein Album von Joe Cocker. Der hatte immerhin gerade sein Lied „Summer in the City“ in die Charts gebracht, das heißt: bis auf den sagenhaften Platz 23. Was war ich enttäuscht

Heute liegen sowieso alle CDs in einer Kiste im Keller, Joe Cocker einträchtig versammelt mit den diversen Bravo Hits, die danach noch kamen. Die Musik fließt aus dem Internet. Aber es gibt mir ein stolzes Gefühl, dass in dieser Kiste statt der „Bravo Hits 8“ Joe Cocker liegt. Ihn hat mir die CD immer näher gebracht, seine Musik höre ich heute immer noch gelegentlich. Whigfield und Marusha würden mir nur die Spotify-Algorithmen versauen.

Danke, Helga!
(Patrick Bernau)

 

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