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„In Deutschland gehe ich nicht mehr schwimmen“

Teil 2 der Mini-Serie über muslimische Schüler (erschienen am 26.04.2018 bei FAZ.NET)

Von Martin Benninghoff und Martin Franke, Wuppertal

Wie leben muslimische Kinder ihre Religion? Wie klappt das Zusammenleben im Klassenzimmer? Wir haben Schülerinnen und Schüler eines Gymnasiums gefragt, wie sie es mit Beten, Fasten und Heiratsplänen halten. Ein großes Problem liegt bei deren Eltern. Teil 2 der Mini-Serie.

Wann darf ich Sex haben? Darf ich vor der Ehe wenigstens küssen? Kann ich einen Christen heiraten? Oder einen Atheisten? Dass Jugendliche oft mehr Fragen als Antworten haben, ist keine Spezialität von Muslimen, und doch kann eine muslimische Jugend verdammt kompliziert sein. Die Zwillinge Lara und Sahra (alle Namen der Schülerinnen und Schüler geändert), die im Wuppertaler Stadtteil Vohwinkel in die neunte Klasse des Städtischen Gymnasiums gehen, finden Antworten bei Youtube, genauer: dem deutsch-muslimischen satirischen Jugendkanal „Datteltäter“. Hier erfahren sie zum Beispiel, dass Sex vor der Ehe eigentlich nicht erlaubt ist, Küssen aber irgendwie schon. Und vor allem, dass auch andere Muslime nicht nur die reine Lehre leben, sondern versuchen, sich in einem Dickicht aus weltlichen und religiösen Regeln irgendwie durchzuschlagen.

Für die religiös erzogenen Kinder und Jugendlichen unter den 795 Schülern am Wuppertaler Gymnasium ist das eine besonders schwere Aufgabe. Rund jeder vierte Schüler ist muslimisch, das Gros sind Protestanten und Katholiken, 128 kommen ohne Bekenntnis aus. Rund 330 Schüler haben einen Migrationshintergrund, viele stammen aus der Türkei, aus arabischen Ländern und Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Was viele Schüler eint, mit denen wir haben sprechen können: Sie sind religiös, beten regelmäßig und kennen sich mehr oder minder gut mit den Grundregeln ihrer Religionen aus. Das gilt auch für die Christen, die zum Teil evangelischen Freikirchen angehören.

Und so ist auch der Islam für die 205 muslimischen Schüler Alltag. Mara geht in die fünfte Klasse, ihre Eltern stammen ursprünglich aus dem Libanon. „Bei uns spielt Religion eine große Rolle, weil wir sollen ja die Regeln befolgen, die Gott uns in den Koran geschrieben hat“, sagt sie. Ein Mädchen aus der siebten Klasse: „Im Koran steht, dass Gott schon alles vorbestimmt hat.“ Ein anderes Mädchen, das die neunte Klasse besucht, sagt: „Ich bin sehr religiös und tue alles, was ein Muslim tun sollte. Fünf Mal am Tag Beten, dazu Spenden und Fasten.“ Die Kinder spenden teilweise Geld aus ihren Spardosen für wohltätige Zwecke – die soziale Abgabe, Zakat, ist eine der fünf religiösen Grundpfeiler des Islam. Eine Pflicht für gläubige Muslime. Einen islamischen Bekenntnisunterricht gibt es an der Schule nicht. Die muslimischen Kinder gehen entweder in den Philosophiekurs oder nehmen am evangelischen oder katholischen Religionsunterricht teil. Ein Schüler habe gesagt, der Religionsunterricht einer anderen Religion sei besser als der atheistische Philosophieunterricht, erzählt Schulleiter Kai Hermann.

Auffallen in der Multi-Kulti-Stadt Wuppertal?

Da auch christliche Kinder wie die Fünftklässlerin Olga, deren Mutter aus Kasachstan und deren Vater aus Griechenland stammt, beten und in die Kirche gehen, fällt Religiosität am Gymnasium nicht weiter auf. Anders aber sieht es in der Außenwelt aus, selbst in der Multi-Kulti-Stadt Wuppertal, die einen Migrantenanteil von gut einem Drittel hat. Als die 14 Jahre alte Mara, die in die neunte Klasse geht, ein Praktikum in einer Arztpraxis absolvieren wollte, verbot ihr die Chefin das Kopftuch. Also suchte sie sich einen anderen Platz. Für Max aus der fünften Klasse ist das Leben in dieser Beziehung leichter. Weder an seinem Vornamen noch seinem Aussehen kann man erkennen, dass seine Eltern aus der Türkei stammen. „Das merkt halt niemand“, sagt er.

Das Thema Beten hat es in sich: Am benachbarten Johannes-Rau-Gymnasium war im vergangenen Jahr ein Streit mit riesigem Medienecho ausgebrochen, nachdem die Schulleitung ein Bet-Verbot erlassen hatte. Zuvor waren muslimische Schüler beim angeblich provozierenden Beten in den Schulfluren zur Mittagszeit gesehen worden. Solche Probleme gibt es am Städtischen Gymnasium bislang nicht, was wohl auch an den Schülern selbst liegt. Ali, für den der Islam „genauso wichtig wie Essen und Trinken ist, fast noch wichtiger“, holt nach der Schule am Abend das Mittagsgebet nach. Auch das erlaubt der Islam, es kommt immer auf die Interpretation an. Ein Mädchen aus der siebten Klasse findet es „cool“, wenn es einen Gebetsraum an ihrer Schule geben würde. Am Johannes-Rau-Gymnasium entschied man sich nach dem Streit gegen einen fest eingerichteten Gebetsraum. Dort wird einem Schüler bei Bedarf am Mittag ein freier Raum aufgeschlossen – so soll Grüppchenbildung vermieden werden. In Vohwinkel scheint es dafür noch keinen Bedarf zu geben.

Konfliktträchtiger gestaltet sich die Frage des Fastens im Ramadan. Je nachdem, auf welche Jahreszeit und damit Sonnenscheindauer der Ramadan fällt, können die Tage ohne Essen und Trinken lang werden, bis abends endlich das Fasten gebrochen werden kann. „Die Lehrer sagen, wir sind müde“, erzählt Ali und grinst: „Ich kann mir vorstellen, dass die Lehrer sich damit nicht so gut auskennen. Viele finden, das ist schlecht, aber das ist es nicht, es ist ja ein Dienst an Gott“, sagt er. Andererseits zeigen sich hierbei die Schüler sehr flexibel: Fast alle wissen, dass kranke Menschen, Stillende oder auch Reisende vom Fasten befreit sind, es allerdings nachholen sollten. Fast jeder kann berichten von der Oma, der Mutter oder dem Bruder mit Krankheiten wie Diabetes, die das Fasten unmöglich machen. Ein Mädchen verzichtet zwar aufs Essen, nicht aber aufs Trinken. Kompromisse sind eher die Regel denn die Ausnahme.

Die Burkinis hängen wieder im Schrank

Außer der Frage des Kopftuches erhitzt ein anderes Thema die Gemüter in der öffentlichen Debatte: der schulische Schwimmunterricht. Wer den Islam konservativ auslegt, hält sich an das Verhüllungsgebot, und das bedeutet auch, im Schwimmbad möglichst keine freie Haut zu zeigen. Etliche der befragten Mädchen haben sich in der Vergangenheit Burkinis gekauft, also Ganzkörperschwimmanzüge, die nur Füße, Hände und Gesicht freilassen. Fast keines zieht die Burkinis noch an, fast keines geht mehr schwimmen in Deutschland.

Ein Mädchen aus der siebten Klasse, Aleyna, erzählt, dass sie in der Türkei im Urlaub immer so gerne schwimmen gehe. In einem Bad nur für Frauen, wo Männer nicht hineinschauen können. Und in Deutschland? „Wenn ich ehrlich bin, gehe ich hier nicht mehr schwimmen“, sagt sie. Am verpflichtenden Schwimmunterricht hat sie allerdings teilgenommen. Der wird in Wuppertal in der fünften Klasse erteilt, „da war ich noch offen“, sagt sie, das heißt: noch ohne Kopftuch. Ein Mädchen sagt: „Ich hatte auch einen Burkini gekauft. Aber je älter ich werde, desto weniger wird das akzeptiert. Man wird schief angeguckt.“ Ein anderes ist nach eigenen Angaben einmal aus einem Freibad fast hinausgeworfen worden, weil der Bademeister ihre Schwimmkluft für Straßenklamotten gehalten habe. Sportunterricht scheint hingegen für die befragten Kinder weniger ein Problem zu sein: „Man stopft das Kopftuch etwas fester in den Pulli, damit das hält, und dann ist das gut“, sagt ein Mädchen aus der siebten Klasse.
Die Männer sind die „Chefs im Hause“

Im Verhältnis der Kinder untereinander scheinen solche Konflikte kein besonders großes Problem zu sein. Der Fünftklässler Torben, der aus einer christlich-bosnischen Familie stammt, hat „viele Freunde unter den Muslimen“. Eine Siebtklässlerin mit kroatischen Wurzeln spricht mit ihrer muslimischen Freundin gerne über „unsere Religionen, über ähnliche Propheten – und wir haben ja auch Wallfahrtsorte und so“. Nur bei der Partnerwahl spielt die Religion plötzlich wieder eine große Rolle: „Ich habe neulich meinen Papa gefragt, und der hat gesagt, es ist so, im Islam müssen die Frauen einen muslimischen Mann heiraten, weil der Mann hat ja die Regeln im Haus“, sagt die zwölfjährige Mayla . Muslimische Männer hingegen dürften auch deutsche Frauen heiraten, weil die ja „Chefs im Hause“ seien. Solche patriarchalen Denkmuster finden sich immer wieder in den Erzählungen der jungen Mädchen. Aische fand das „am Anfang unfair, aber dann habe ich gesehen, dass es irgendwo auch Sinn hat.“ Sie hat ihren Umgang damit gefunden: „Also, ohne die Regel würde ich meinem Geschmack nach trotzdem einen muslimischen Mann heiraten.“

Die Lehrer sind im Umgang mit solchen Aussagen gespalten. Sascha Becker, der als Philosophie-Lehrer die „großen Fragen“ mit den Schülern behandelt, sagt, dass Religion eine „riesige Rolle“ spiele, unabhängig der Konfession. „Man merkt, dass die Kinder am Anfang in der fünften und sechsten Klasse noch relativ unkritisch mit ihrem eigenen kulturellen Hintergrund umgehen.“ Becker stellt immer wieder fest, dass die Schüler im Laufe der Jahre verblüfft sind, wenn sie neue Blickwinkel auf Kulturen und Religionen bekommen. Schüler in der achten und neunten Klasse würden ihre eigenen Überlieferungen mit einem Mal hinterfragen. Ihm fällt aber auch auf, dass bei den Jugendlichen ein hohes Bedürfnis vorhanden ist, in ihrer eigenen religiösen Gemeinschaft den herrschenden Normen und Werten entsprechen zu wollen. „Die wollen nicht auffallen, sie wollen als normales Mitglied in der Gruppe wahrgenommen werden.“

„Bestimmte Sachen muss man in Kauf nehmen“

Themen wie Ramadan sieht der Lehrer daher nicht als problematisch an: „Wenn ich mir angucke, mit welchem Aufwand gerade in Köln und Düsseldorf Karneval gefeiert wird, da wird sich bestimmt auch keiner die Frage stellen, ob das ein unzulässiger Eingriff in den Schulalltag ist. Es sind kulturelle Traditionen, und wenn man als ein weltoffenes Land dazu bereit ist, solche unterschiedlichen Traditionen als Gewinn zu begreifen, dann gehört es hinzu, dass man bestimmte Sachen in Kauf nehmen muss.“

Eine Lehrerin, die nicht namentlich genannt werden möchte, fühlt sich hingegen unbehaglich: „Als ich jung war, spielte Religion keine Rolle mehr. Jetzt ist das wieder ein richtiges Thema.“ Ein Thema, über das sie gerne mehr mit den Eltern der Kinder sprechen, ja debattieren würde. Aber die erreiche man kaum, die Elternarbeit sei ein „riesiges Problem“. Sogar jene, die schon lange in Deutschland leben, meldeten sich oftmals nicht, gingen nicht ans Telefon und reagierten nicht auf Schreiben.

Vielleicht gibt es aber Hoffnung: Ali Akin, der Vater eines Schülers, ist mit zwei Jahren aus der Türkei nach Wuppertal gekommen, und engagiert sich in der Klassenkonferenz, will in der Schulpflegschaft mitarbeiten. Das könne auch für die anderen Familien mit Migrationshintergrund ein großes Vorbild sein, sagt eine junge Lehrerin. Eines ist sicher: An den offenen und wissbegierigen Kindern liegt es jedenfalls nicht, Abschottung scheint vor allem ein Problem der Eltern zu sein.

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