Von Martin Benninghoff und Martin Franke, Wuppertal
Sascha Becker ist Lehrer für praktische Philosophie in Wuppertal. Im Gespräch mit FAZ.NET erklärt er, warum er von einem Kopftuchverbot für Schülerinnen nichts hält. Für die Gegner hat er eine klare Botschaft.
Wer weder evangelisch noch katholisch ist, geht in den Philosophieunterricht. So war es früher. Mittlerweile aber hat sich das Bild geändert, denn im Unterricht von Sascha Becker, einem Lehrer für praktische Philosophie am Städtischen Gymnasium Wuppertal-Vohwinkel, sitzen auch religiöse Schüler, darunter Muslime. Da die Schule im Gegensatz zu anderen in Nordrhein-Westfalen bislang keinen Islamunterricht anbietet, bleibt ihnen der Philosophiekurs – oder einer der beiden christlichen Religionskurse. Für Sascha Becker ein spannendes Feld, aber auch eines mit Herausforderungen.
Herr Becker, Sie unterrichten praktische Philosophie für Schüler, die nicht am konfessionellen Religionsunterricht teilnehmen. Ist das ein ganz normales Unterrichtsfach wie jedes andere?
Ein ganz normaler Unterricht ist es in Philosophie nie, weil das ja die großen Fragen sind, die für viele Schüler sehr spannend sind. Man hat aber eine sehr große Heterogenität in den Gruppen. Einige Schüler lieben diese Fächer, und es gibt auch Schüler, die sagen: „Lass mich damit zufrieden.“ Aber sie werden alle in diesem Unterricht genau wie später in der Oberstufe auch mit den fundamentalen Fragen konfrontiert, die die Philosophie seit zweieinhalbtausend Jahren auszeichnen. Und das ist immer hochspannend.
Religion spielt wahrscheinlich auch hinein.
Religion ist immer ein Thema. Natürlich nicht das einzige, aber ein immens wichtiges.
Wie sehr beschäftigt Religion die Schüler auf dem Schulhof heutzutage?
Das wage ich selber gar nicht zu beurteilen. Was ich beobachten kann oder in Gesprächen mit Schülern herausgehört habe, sind immer Einzelmeinungen. Ich kann sagen, dass für einzelne Schülerinnen und Schüler Spiritualität eine sehr große Rolle spielt. Und da ist es auch relativ egal, welche Konfession oder Religion das ist. Das betrifft christliche Schüler, muslimische Schüler, das sind aber auch hinduistische Schüler oder Schüler aus noch ganz anderen Kulturkreisen. Daneben gibt es aber noch eine andere Gruppe von Gläubigen. Ich nenne sie immer die „Weihnachts-Christen“ beziehungsweise die „Ramadan-Moslems“. Das sind die Leute, die für sich selber sagen, „Ja, ich bin religiös“, aber da sind eher Folklore und Feste wichtig. Für sie persönlich ist Religion eher ein wichtiger Teil der Kultur.
Hat sich die Begeisterung für Religion verändert? Lässt sich ein bestimmter Zeitpunkt feststellen, an dem das Interesse merklich zunimmt?
Man merkt, dass die Kinder in der fünften und sechsten Klasse noch relativ unkritisch mit ihrem eigenen kulturellen Hintergrund umgehen. Das ist das, was sie kennen, was für sie gesetzt ist. Sie sind dann immer wieder sehr verblüfft, wenn sie im Laufe des Unterrichts mehr über andere Kulturen und Religionen erfahren. In der fünften Klasse geht es eher beschreibend um die drei großen abrahamitischen Religionen. In den späteren Jahrgängen kommen die östlichen Religionen noch mit ins Spiel. Und da merkt man, dass viele Schüler, gerade in der achten und neunten Klasse, wirklich auf Sinnsuche sind. Die hinterfragen sich auch selbst. Sie wollen auch mal eine andere Perspektive einnehmen und sind sehr kritisch gegenüber ihren eigenen Überlieferungen. Die einen kommen dann ins Stahlbad und merken: „Meine eigenen Überzeugungen, die ich bisher so unkritisch gepflegt habe, halten bestimmten Dingen nicht stand.“ Wir haben in der neunten Klasse eine sehr anstrengende Phase für strenggläubige Schüler, wenn wir uns mit dem Theodizee-Problem beschäftigen, also der Frage, wie ein Schöpfergott es zulassen kann, dass es so viel Leid und Böses auf der Welt gibt. Das ist gerade für die Religiösen ein Tiefschlag. Wenn sie sich dann noch mit Feuerbachs Thesen zur Projektion auseinandersetzen, sieht man bei einigen schon die Kinnlade herunterfallen. Die einen sagen dann durchaus, sie könnten das nicht entkräften und ziehen daraus ihre Konsequenzen. Die anderen gehen aber auch gestärkt aus solchen Herausforderungen.
Wie wird das Thema Schwimmunterricht an Ihrer Schule behandelt? Gibt es den als Teil des Sportunterrichts?
Auf jeden Fall. Unsere frühere Schulleiterin war selber Sportlehrerin und hat von Anfang an durchgesetzt, dass jeder Schüler und jede Schülerin an unserer Schule wirklich an jeder Unterrichtsveranstaltung teilnimmt. Mittlerweile gibt es auch Badebekleidung, die religiösen Glaubensvorschriften entspricht. Damit hat sich diese Diskussion erledigt.
Und das Thema Ramadan? Da passiert es, dass Schüler über den Fastenmonat unkonzentriert sind. Ist das ein Einschnitt in den deutschen Schulalltag?
Wir sind ja hier in der Peripherie des Rheinlandes. Wenn ich mir angucke, wie in Köln und Düsseldorf Karneval gefeiert wird, finde ich das scheinheilig. Da fragt auch keiner, ob das ein unzulässiger Eingriff in den Schulalltag ist. Es sind kulturelle Traditionen, und wenn man als ein weltoffenes Land dazu bereit ist, solche unterschiedlichen Traditionen als Gewinn zu begreifen, dann gehört es auch dazu, dass man bestimmte Sachen in Kauf nehmen muss. Manchmal muss ich als nichtgläubiger Philosophielehrer den Kindern aber auch erklären, was ihre religiösen Rechte und Pflichten eigentlich sind. Das ist mitunter ganz amüsant.Gibt es da eine klare Altersregelung, wer fasten darf und wer nicht?
Im Islam gibt es klare Regelungen und Ausnahmen. Wir stellen den Kindern aber keine Bedingungen. Das können wir auch gar nicht machen. Das wäre ein unzulässiger Eingriff in die persönliche Religionsfreiheit und damit jedem Schüler und jeder Lehrkraft anheimgestellt. Was man aber sagen muss, ist, dass bei den Kindern und jüngeren Jugendlichen ein hohes Bedürfnis vorhanden ist, in ihrer eigenen religiösen Gemeinschaft den herrschenden Normen und Werten entsprechen zu wollen. Das ist den Schülerinnen und Schülern gerade in der sechsten, siebten und teilweise auch noch in der achten Klasse ganz wichtig. Bevor die Pubertät so richtig zuschlägt, sind viele Schülerinnen und Schüler sehr konformistisch. Sie wollen nicht auffallen, sondern als normales Mitglied in der Gruppe wahrgenommen werden – und für die Muslime gehört das Fasten dazu.
Es gibt derzeit die Debatte, die aus Österreich übergeschwappt ist: Kopftuchverbot für Kinder unter 14 Jahren. Was halten Sie davon?
Wir hatten in NRW ja ein Kopftuchverbot für Unterrichtende, also eine ähnliche Rechtsprechung, wie wir sie in Baden-Württemberg und Bayern auch haben. Diese Rechtsprechung ist gekippt worden. 2015 hat das Bundesverfassungsgericht gesagt, es ist ein nicht zu vertretender Eingriff in die persönliche Freiheit des Beamten, der Beamtin oder desjenigen, der im öffentlichen Dienst beschäftigt ist. Wenn für die Berufsgruppe, die zur weltanschaulichen Neutralität qua Amt verpflichtet ist, ein Kopftuchverbot gekippt ist, sehe ich persönlich keine Grundlage dafür, dass ich in die Religionsfreiheit eines Kindes oder der Eltern eingreifen soll. Wenn es eine religiöse Vorschrift ist, ähnlich wie das Tragen einer Kippa im Judentum oder eines Turbans bei den Sikhs, dann ist es ein eben ein Zeichen für die Ausübung der jeweiligen Religion. Ob das so ist, müssen die religiösen Gemeinschaften entscheiden, nicht ich oder der Gesetzgeber. Dann gibt es religiöse Praktiken wie zum Beispiel Beschneidungen, die deutlich vor der Religionsmündigkeit einsetzen. Daher liegt vor der Religionsmündigkeit der Ball bei den Eltern. Ich kann ja nicht so weit in die Freiheit einer Religion eingreifen, dass ich sage: „Moment mal, die Religionsausübung muss bis zum vierzehnten Lebensjahr warten.“ Ich glaube, kein christliches Elternteil würde dem zustimmen, wenn man sagen würde, wir müssen den Leuten die Taufe verbieten, weil das Kind noch nicht religionsmündig ist. Deswegen stehe ich dem sehr kritisch gegenüber.
Kommt die Debatte bei den Schülern überhaupt an?
Natürlich. Weil wir die Diskussion im Grundsatz ja auch hier haben. Wir haben an unserer Schule das gesamte Spektrum an religiösen Überzeugungen. Wir haben hier beispielsweise völlig säkularisierte Christen, völlig säkularisierte Muslime oder Menschen, für die Religion überhaupt keine Rolle spielt. Auf der anderen Seite haben wir auch strenggläubige Christen und strenggläubige Muslime an der Schule. Die Auseinandersetzungen zwischen den Gruppen gleicher Konfession sind schon erhellend. Man beobachtet, dass die streng religiösen Muslime und ihre säkularisierten Glaubensgenossen miteinander diskutieren. Das ist die Auseinandersetzung, die wirklich hart geführt wird und wo man auch merkt, dass sie sich nicht auf die Schule beschränkt. Da geht der Riss auch teilweise durch Familien.Inwiefern?
Es gibt muslimische Familien, die überhaupt gar kein Problem damit haben, wenn eine 15- oder 16-Jährige sich in einen Klassenkameraden verliebt, ihn mit nach Hause bringt und ihren Eltern vorstellt. Bei anderen ist das ein absolutes Tabuthema. Das wird eher totgeschwiegen, als dass man sich damit auseinandersetzen möchte. Das sind eher die Konflikte, die wir tagtäglich in der Schule haben. Wie gehen Familien damit um, dass ihre Kinder andere Interessen und Werte haben als sie selber? Also keine intellektuellen Debatten über Sexismus, sondern eher lebenspraktische Probleme.
Viele lehnen das Kopftuch ab, weil es angeblich nicht zu unserer Gesellschaft passt. Was sagen Sie, auch mit Blick auf Ihre Schüler, Leuten, die so argumentieren?
Was meiner Meinung nach unheimlich wichtig ist, ist eine Kultur der Anerkennung. Sie ist das A und O. Wenn ein Schüler sich wertgeschätzt fühlt, dann ist er auch bereit, Leistung zu zeigen und Verantwortung zu übernehmen. Er fühlt sich aufgehoben in einer Gemeinschaft und als echter Teil von dieser. Wenn ich einem Schüler aber ständig signalisiere, dass er nicht dazugehört, dass er das oder jenes nicht kann und kein Verständnis für etwas hat, dann wird sich auch seine Bereitschaft, sich auf neue Erfahrungen einzulassen, spürbar reduzieren. Es ist doch kein Zufall, dass die ganzen Leute, die in den letzten Jahren als islamistische Gewalttäter auffällig geworden sind, gescheiterte Existenzen waren. Das waren immer Leute, denen genau das verwehrt wurde. Ich verstehe das nicht. Wir haben in den letzten vierzig Jahren kulturell so viele Kämpfe ausgetragen, in denen es um gesellschaftliche Emanzipation ging, um Befreiung, um das Recht jedes einzelnen auf ein selbstbestimmtes Leben. Die Frage ist doch nicht, ob jemand ein Kopftuch trägt oder einen Nasenring, grüne, gelbe oder gar keine Haare hat. Das ist doch nicht das, worum es hier eigentlich geht. Wenn man mal genauer hinsieht, dann sind die Mechanismen, die bei den rechtsextremen Jugendlichen aus der Uckermark auftreten, genau die gleichen wie bei radikalisierten, jungen, muslimischen Heranwachsenden in den abgeschriebenen Ballungsregionen von Westdeutschland. Sie sind ausgeschlossen. Und dagegen muss man etwas tun.