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Kein Patentrezept, aber…Kanada!

Wer über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nachdenkt, verweist gerne auf Skandinavien. Wer über Einwanderung nachdenkt, tut gut daran, nach Kanada zu schauen. In der FAZ ein interessanter und realistischer Artikel über Kanada; das Land verfolgt seit Jahrzehnten einen pragmatischen Kurs in Sachen Einwanderung, der weitaus mehr Erfolge zeigt als die ideologisch verbrämten Diskussionen in Deutschland, die sich in letzter Zeit vornehmlich am Thema Religion abarbeiten. Ich kann den Artikel insofern empfehlen, weil er eben auch Probleme in Kanada nicht verschweigt, die ein starres Punktesystem mit sich bringen können. Es wird jedoch klar, dass Mechanismen der gesteuerten Einwanderung und die Akzeptanz von Einwanderern zwei Seiten derselben Medaille sind. Damit wird ein Mentalitätswechsel in Deutschland hin zu einer pragmatischen Akzeptanz von Einwanderung fernab von Verdammung oder positiver wie negativer Exotisierung zur Voraussetzung für eine wünschenswerte Normalisierung im Umgang mit dem Thema Einwanderung.

Und hier der Artikel:

 Stockwerk um Stockwerk schieben sich die Stahlskelette hoch in den blauen Herbsthimmel. Ein paar Blocks weiter schmiegen sich Glasfassaden an die Konstruktionen aus Stahl und Beton. Der Sonnenschein bricht sich vielfach an den uniformen Fensterbändern. Es sind keine Büros, die hier in der kanadischen Wirtschaftsmetropole Toronto entstehen sondern Wohnungen. Nicht Dutzende, Hunderte. Dieser Aufschwung aus Stein, Metall und Glas ist keine Reaktion auf einen vorhergehenden Abschwung. Die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise ist am solide wirtschaftenden Kanada anders als am großen Nachbarn im Süden weitgehend spurlos vorübergegangen.

Die Aktivitäten auf dem Wohnungsmarkt folgen einem anderen Rhythmus, dem der Einwanderung. Im kommenden Jahr, sagt Kanadas Minister für Staatsbürgerschaft und Einwanderung, Jason Kenney, sollten 250.000 Menschen nach Kanada einwandern und dort bleiben; weitere 230.000 werden als Gäste auf Zeit willkommen geheißen. Kanada ist ein Einwanderungsland, seine ganze moderne Geschichte und Entwicklung beruht darauf. Zuerst kamen nach dem Sieg der Engländer über die französischen Kolonialherren Mitte des 18. Jahrhunderts Siedler aus England, Schottland und Irland nach „Neufrankreich“. Franzosen und Osteuropäer folgten, nach dem Krieg machten sich Deutsche und andere Europäer auf den Weg über den Atlantik.

 

Zwangsehen und Ehrenmorde sind nicht mehr unbekannt

Inzwischen hat sich die Quelle des beständigen Einwandererstroms nach Süd- und Ostasien verlagert. Im Straßenbild großer Städte wie Toronto, Montreal oder dem an der Pazifikküste gelegenen Vancouver sind europäisch-kaukasische Gesichter so oft zu sehen wie asiatische, immer wieder auch welche mit afrikanischen oder arabischen Gesichtszügen. Nach amtlichen Statistiken sind von den 34 Millionen Einwohnern 5,8 Millionen nicht in Kanada geboren. Die jüngste Volkszählung im Jahr 2006 ergab, dass „die Kanadier“ aus 200 Ländern stammen.

Der Multikulturalismus ist seit 1971 das politische Begleitprogramm, 1988 wurde es im „Canadian Multiculturalism Act“ unter dem Slogan „Einheit in Verschiedenheit“ Gesetz. So wundert nicht, dass die Zeitungen des Landes, die dem außeramerikanischen Ausland sonst wenig Beachtung schenken, Bundeskanzlerin Angela Merkels Verdikt, Multikulti sei in Deutschland gescheitert, mit großen Schlagzeilen bedachten.

Das kanadische Multikulti-Modell wird gerne beschrieben als Leben in gegenseitiger Toleranz mit dem Recht auf Erhaltung der eigenen Kultur und Sprache bei gleichzeitiger Identifikation mit dem kanadischen Gesellschaftmodell und Respektierung westlich-demokratischer Werte. Dennoch sind Zwangsehen und Ehrenmorde inzwischen auch in Kanada nicht mehr unbekannt. „Kirchen ohne Glocken, Moscheen ohne Muezzin“ – so bringt ein deutscher Manager das Integrationskonzept pointiert auf einen Nenner.

Andere bevorzugen einen Vergleich in Abgrenzung zum angeblich alle Volksgruppen mischenden „Schmelztiegel“ der Vereinigten Staaten: Kanada sei wie eine Schüssel, in der die Blätter eines Salats in Harmonie neben einander längen. Wer drei Jahre (harmonisch) im Land lebt, eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis oder Flüchtlingsstatus nachweist, kann kanadischer Staatsbürger werden. „Kanada ist das einzige Land der Welt, in dem die Mehrheit der Bevölkerung Einwanderung positiv sieht“, sagt der kanadische Migrationsökonom Govind Rao. Mit Fremdenfeindlichkeit lassen sich hier keine Wählerstimmen gewinnen. Im Gegenteil: Einwanderer sind potentielle Wähler. Das hätten auch die Konservativen erkannt und den auf dem Feld lange tonangebenden Liberalen das Wasser abgegraben, analysieren kanadische Politikkommentatoren in der Hauptstadt Ottawa.

67 Punkte müssen für die Aufenthaltserlaubnis erreicht werden

International gilt das kanadische Modell als Erfolg. Andere Länder studieren es, um das Beste für sich zu kopieren. In der vergangenen Woche war auch Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) da, um sich mit „Daten und Fakten“ für die deutsche Einwanderungsdebatte zu rüsten. Den Kanadiern, wiewohl durch das Interesse geschmeichelt, gehen die Vorschusslorbeeren zuweilen etwas weit: „Auch wir haben keine perfekte Lösung für die Immigration“, sagt Kenney. Aber im Gegensatz zu anderen haben sie ein Modell, wenn auch ein kompliziertes.

Das zweitgrößte Land der Erde betreibt Einwanderung aus Eigennutz. In 70 Ländern unterhält die Regierung 85 Servicestellen, um Einwanderer auszusuchen. Wer kommen will, soll mit anpacken wollen und müssen. So „europäisch“ die Kandier in Kategorien der sozialen Sicherung durch den Staat denken, so wenig wollen sie die Sozialstation der Welt sein. Zwei von drei Einwanderern auf Bundesebene werden deshalb nach wirtschaftlichen Kriterien ausgewählt, die restlichen kommen im Wege des Familiennachzugs oder als Flüchtlinge. 2009 kamen so 125.000 hochqualifizierte Fachkräfte und Geschäftsleute ins Land, 68.000 Familienangehörige und 28.000 Flüchtlinge, denen nach drei Monaten eine Arbeitserlaubnis gewährt wird.

Doch auch diese Zahlen sagen nicht die ganze Wahrheit. Denn in die 64 Prozent der Einwanderer, die nach dem Punktesystem ausgewählt werden, seien enge Familienangehörige einbezogen, sagen kanadisch Fachleute. Faktisch ist die Zahl der qualifizierten Arbeitskräfte durch Einwanderung also geringer. Zu den Auswahlkriterien gehören: Sprachkenntnisse in Englisch oder Französisch, Alter (je jünger, desto besser), Berufsausbildung und -erfahrung, Anpassungsfähigkeit und ein vorhandener Arbeitsplatz. 100 Punkte werden maximal vergeben, 67 müssen erreicht werden, um die Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Im Internet können Bewerber schon mal vorab testen, wie gut es um ihre Chancen auf Anerkennung steht.

Einwanderer arbeiten unter ihrem Qualifikationsniveau

Wer einen Doktortitel vorweisen kann, ist im Vorteil. Er hat schon mehr als ein Drittel der notwendigen Punkte im Sack. 25 gibt es dafür. Allerdings weisen kanadische Fachleute auf Schwachstellen im Messverfahren hin: So zähle ein Abschluss an der amerikanischen Universität Harvard genau so viel wie der an einer unbekannten Universität in einem Entwicklungsland. Den ökonomischen Interessen Kanadas diene das kaum.

Es gibt weitere Einwände: Die Einwanderung von Höchstqualifizierten werde überproportional begünstigt. Es bestehe aber auch Bedarf an nicht-akademischen Fachleuten. Anderseits sei sicherzustellen, dass sich technisch vielleicht bestens ausgebildeten Einwanderer auch verständlich machen könnten. Das Punktesystem sei zu unflexibel, die Verfahren zu langwierig. Eine Folge: Gerade in den Ballungszentren arbeiten viele Einwanderer weit unter ihrem Qualifikationsniveau. Ingenieure als Taxifahrer und Ärztinnen, die ihren Lebensunterhalt als Verkäuferinnen verdienen, gibt es nicht nur in Deutschland. Jeder fünfte Einwanderer arbeitet in den ersten fünf Jahren unterhalb seiner Qualifikation, heißt es in kanadischen Untersuchungen. In Toronto sei jeder Siebte der eingewanderten Akademiker arbeitslos, von den Einheimischen nur jeder Dreiunddreißigste.

Viele Provinzen haben eigene Einwanderungsprogramme

Allerdings wird anerkannt, dass unter den Zugereisten diejenigen, die nach dem Punkte-System ausgesucht worden seien, später die geringsten Probleme hätten und verursachten. Wirtschaftsvertreter loben das Auswahlsystem sehr und empfehlen es als Vorbild für Deutschland. „Das Thema Immigration wird hier sehr professionell gehandhabt“, sagt beispielhaft der Nordamerika-Chef des deutschen Automatisierungsspezialisten Festo, Thomas Lichtenberger.

Kanada ist ein föderales Land. Deshalb haben die Provinzen viele eigene Einwanderungsprogramme aufgelegt. Das macht es auch für Fachleute nicht leicht, den Überblick zu behalten. Hinzu kommen je nach Provinz unterschiedliche Kriterien für die Anerkennung von Berufsabschlüssen. Oft sei es „leichter, einen Ingenieur aus Stuttgart zu holen, als einen Ingenieur von Vancouver nach Toronto“, klagt der Kanada-Chef von Mercedes-Benz, Marcus Breitschwerdt.

Die staatlichen Hilfen wurden verdreifacht

Die von der Landwirtschaft geprägte Provinz Manitoba fördert etwa die Einwanderung von Landwirten. Im französischsprachigen Québec, wo die Separatisten immer noch eine Rolle spielen, wird auf Französischkenntnisse der Einwanderer besonderer Wert gelegt. Weil in der Welt das Französische immer weniger gesprochen wird, beschränkt das die Zahl der Länder, aus denen Migranten kommen können. Sehr viele stammten inzwischen aus Nordafrika und den Süd-Sahara-Gebieten, und oft hielten sich deren Französischkenntnisse in Grenzen. Sprachliche, kulturelle und soziale Anpassungsprobleme seien die Folge, sagen kanadische Fachleute.

Die Regierung in Ottawa tut viel, damit die Neuankömmlinge heimisch werden. Der Zugang zur staatlichen Krankenversicherung ist zwar für viele in der ersten Zeit blockiert, doch werden hohe Millionenbeträge in Anpassungsprogramme und Sprachschulen investiert. Verdreifacht worden seien die Hilfen in den vergangenen fünf Jahren, heißt es. In diesem Jahr stehen für Integrationsmaßnahmen 632 Millionen kanadische Dollar bereit, das entspricht 442 Millionen Euro.

Ungleichgewichte im Land

Einwanderer, die permanent bleiben dürfen, können kostenfrei Sprachunterricht in Englisch oder Französisch erhalten; Kinder aus Einwandererfamilien wird vom Kindergarten bis zum Ende der High School kostenfreie Sprach-Nachhilfe gewährt. Der Zuspruch ist freilich nicht immer so, wie es sich die Anbieter wünschen. Die Gelder für Sprachkurse seien vervierfacht worden, aber die Zahl der Einschreibungen sei nur um ein Zehntel gestiegen.

Die Einwanderung führt im Land selbst zu Ungleichgewichten. Die großen Metropolen wachsen, die randständigen ländlichen Regionen tun sich weiter schwer, Zuzügler zu gewinnen. Jeder zweite der mehr als fünf Millionen Einwohner Torontos sei nicht dort geboren, heißt es. Mehr als die Hälfte der 1,1 Millionen Einwanderer, die in den ersten sechs Jahren dieses Jahrzehnts nach Kanada kamen, haben sich in Ontario mit seiner Hauptstadt Toronto niedergelassen. „So was,“ sagt ein in Deutschland geborener Geschäftsmann mit kanadischem Pass, „fördert den internationalen Handel und Wandel“. Und die regionale Bauwirtschaft.

2 Kommentare

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