Seit zehn Jahren wird in der Bundesrepublik in regelmäßigen Abständen über die Leitkultur debattiert. Anlass waren stets Folgen von Einwanderung und Auseinandersetzungen um den Integrationsstatus von Einwanderern und ihren Nachkommen. Die Forderung nach Anerkennung einer „deutschen Leitkultur“ wird stets dann laut, wenn die Analyse empirischer Realitäten zu kompliziert wird und man für populistische Forderungen verträglichere Formulierungen sucht. Schwerer scheint man vermitteln zu können, dass die Integration auch türkischer Arbeitsmigranten und ihrer Nachkommen in Deutschland weitgehend als gelungen angesehen werden kann, wie auch neueste Forschungsergebnisse belegen.
Einfacher ist es dagegen, manche ohne Zweifel problematischen Einwanderungsmilieus in sozialen Brennpunkten als Bedrohung für unser Land auszugeben und dann nach einer Leitkultur zu rufen – ohne genau sagen zu können, was das eigentlich sei. Besser wäre es, die Anstrengungen der letzten beiden Legislaturperioden zu intensivieren, eine aktivere Integrationspolitik zu betreiben und migrationspolitisch auf den Stand von aktiven Einwanderungsländern zu kommen. Die Wirtschaftsverbände sind hier weiter als die Politik oder die Bildungsadministration. Von anderen Ländern kann man lernen, dass sich Migration durchaus kreativ gestalten lässt; auch lernen könnte man übrigens, dass die Integrationskraft der Bundesrepublik offensichtlich stärker ist, als wir glauben.
Die Einwanderungsgeschichte der Bundesrepublik zeigt, dass die Institutionen des Staates und des Rechts, der Bildung und der Kultur, der Wirtschaft und sogar der Religion eine Integrationskraft entwickelt haben, ohne dass das jemand gewollt hat und ohne dass dies irgendwie leitkulturell flankiert werden musste. Die Land war integrativer, liberaler, republikanischer, als ihre politischen Stichwortgeber es wussten oder wissen wollten.
Wer die Integrationskraft unserer Gesellschaft verstehen will, muss jenseits aller Migrationsfragen zur Kenntnis nehmen, dass moderne, liberale Gesellschaften vor allem dadurch integriert werden, dass sie auf kulturelle Homogenität und einen Konsens über Lebensformen weitgehend verzichten können. Sie zehren weniger von Gemeinsinn und Gemeinschaftlichkeit, sie sind vielmehr Gesellschaften von Fremden – die ihre Fremdheit als Ressource begreifen, nicht als Problem.
Moderne, urbane Lebensformen sind nur deshalb möglich, weil sich hier vor allem Fremde begegnen. Gerade in den Ballungsräumen, in denen sowohl räumliche Nähe als auch funktionale Abhängigkeiten untereinander extrem gesteigert sind, werden die Grenzen der Gemeinschaft – die Unmöglichkeit, das gesellschaftliche Leben auf direkte persönliche und kulturelle Reziprozität aufzubauen – besonders deutlich.
Eine liberale Gesellschaft lebt vom bürgerlichen Privileg, in Ruhe gelassen werden zu können. Nur hier kann es gelingen, die Fremdheit des anderen nicht bedrohlich zu finden. Und nur hier kann es gelingen, dass auch ethnische, sexuelle, kulturelle Minderheiten von der Fremdheit und Indifferenz unserer Umgangsformen profitieren. Die Zukunft unserer Lebensformen wird sich daran erweisen, ob es gelingt, dieses bürgerliche Privileg der Fremdheit zu erhalten. Der Lackmustest dafür ist die Frage, wie viel soziale Ungleichheit sie aushält und wie viel Pluralität sie gewährt.
Letztlich lebt die liberale Gesellschaft von Unsichtbarkeit. Nicht in dem Sinne, dass man die Pluralität nicht sieht; entscheidend ist vielmehr, dass das fremde, das unvertraute, das andere Milieu nicht weiter auffällt, weil der Alltag eben nicht auf kulturelle Integration angewiesen ist.
Auch ohne Einwanderungsmilieus wäre unsere Gesellschaft kulturell außerordentlich plural. Lebensstile und moralische Standards, ästhetische Vorlieben und Glaubensfragen, Gewohnheiten und Ansprüche – all das produziert unterschiedlichste Welten, vielleicht kann man sogar sagen: Parallelgesellschaften.
Unsere Institutionen des Arbeitsmarktes, der Märkte für Produkte und Dienstleistungen, der Bildung, der Massenmedien, sogar der religiösen Praxis und der Freizeitindustrie haben sich auf diese unterschiedlichen Realitäten und Kontexte eingestellt. Wenn die Bundeskanzlerin betont, Multikulti sei gescheitert, dann hat sie im Hinblick auf naive Schwärmereien über das Fremde und Exotische recht. Aber sie blendet aus, wie plural und multikulturell unser Land auch ganz ohne Migranten schon ist, und wie sehr es uns gelingt, dies zu entschärfen.
Wer erinnert sich noch daran, wie sich vor zwei Generationen noch die beiden christlichen Konfessionen gegenüberstanden? Oder wie vor einer Generation jugendliche Subkulturen dramatisiert wurden? Wer erinnert sich noch daran, dass das Outing von Schwulen und Lesben vor kurzem noch ein Skandal war? Oder dass in den sechziger Jahren auch italienische oder spanische katholische Gastarbeiter als Bedrohung angesehen wurden? Wer erinnert sich noch an den Abscheu der braven Bürger der amerikanischen Popkultur gegenüber? Oder an die Prüderie und bigotte Sexualmoral der fünfziger Jahre?
Die Gesellschaft der Bundesrepublik hat auf eine enge Leitkultur mehr und mehr verzichtet und neue Formen der Alltagspraxis entdeckt. Es hat die liberal-republikanische Haltung Raum gewonnen, dass man sich für die Lebensformen der Menschen nur so weit interessiert, dass sie sich als Bürger nicht ins Gehege kommen. Eine solche Haltung hat nur das sozialverträgliche Nebeneinander unterschiedlicher Lebensentwürfe im Blick und kann sogar parallele Welten aushalten, solange diese sozialverträglich bleiben.
Und wenn am Ende herauskäme, dass die Leitkultur nur bedeutet, dem Recht und seinen Regeln Geltung zu verschaffen, dann braucht man folglich keine Leitkultur. Unser Rechtssystem ist neutral im Hinblick auf Lebensstile, auf religiöse Bekenntnisse, auf sozialmoralische Milieus oder ästhetische Vorlieben. Das Leitkulturgerede dagegen dient nur der Beschwichtigung eines Publikums, das sich in unrealistischen Bildern einer homogenen Gesellschaft eingerichtet hat. Diese Zeiten sind längst vorbei.
Die Gesellschaft der Bundesrepublik ist, auch im internationalen Vergleich, erfolgreich darin, unterschiedliche Milieus und Lebensformen zu integrieren – migrantische und autochthone. Darauf nicht ohne Stolz hinzuweisen, ermöglicht es auch, selbstbewusster gegen problematische Milieus und Verhaltensweisen vorzugehen, die sich gegen die rechtlichen Regeln dieser Gesellschaft abschotten. Man muss das nur politisch wollen. Die Rede von der deutschen Leitkultur dagegen ist nicht nur kleinbürgerlich, sondern geradezu unpatriotisch.
Der Autor lehrt Soziologie an der Universität München. Zuletzt erschien sein Buch „Mit dem Taxi durch die Gesellschaft. Soziologische Storys“.