Tipp: Der durchaus auch kritisch zu sehende Tariq Ramadan sagt im Interview mit der ZEIT viel Richtiges.
Von Jörg Lau
DIE ZEIT: Professor Ramadan, in Europa macht sich eine Stimmung gegen den Islam breit. Minarette, Burkas und Kopftücher werden verboten. Deutschland debattiert über integrationsunwillige Muslime. Warum diese Zuspitzung?
Tariq Ramadan: Unsere westlichen Gesellschaften sind verunsichert durch die Globalisierung. Auch die Einwanderungsströme gehören dazu. Aber entscheidend ist das Sichtbarwerden des Fremden. Darum erregen sich die Leute über Moscheebauten, Minarette, Kopftücher, andere Hautfarben, Sprachen und Gerüche in ihren Vierteln. Wenn gegen die angebliche Islamisierung der Städte protestiert wird, geht es um die Sichtbarkeit einer fremden Religion, die dazugehören will. Das ist neu. Solange das Fremde nicht dazugehört, kann man leichter damit leben.
ZEIT: Seit Jahren leben wir mit der Terrordrohung im Namen des Islams.
Ramadan: Gewalt im Namen der Religion vergiftet die Debatte. Wir Muslime können die Augen nicht davor verschließen, dass dies die Wahrnehmung des Islams beeinflusst. Doch handelt die Islam-Debatte von unserer europäischen Identität. Sie ist hochpolitisch: Auf dem ganzen Kontinent bilden sich Parteien, deren Wahlerfolg davon abhängt, Misstrauen zu schüren. Sie füttern das Gefühl der Verunsicherung, man könne nicht mehr Deutscher oder Niederländer sein wegen dieser Einwanderer.
ZEIT: Der deutsche Präsident hat gesagt, der Islam gehöre zu Deutschland. Er wurde angegriffen, auch aus dem eigenen Lager.
Ramadan: Diese Identitätsfragen übersteigen die Bindungskraft der politischen Lager. Sie können heute Menschen auf der Linken finden, die sehr scharf gegen den Multikulturalismus polemisieren, und auf der Rechten gibt es welche, die einer pluralistischen Gesellschaft offen gegenüberstehen. Ihr Präsident hat etwas Offensichtliches festgestellt: Wenn es Millionen von Muslimen in Deutschland gibt, ist der Islam natürlich auch eine deutsche Religion. Der Islam ist eine europäische Religion, er ist ein Teil von Europas Geschichte und Gegenwart. Er ist nicht das ganz andere, er ist für Europa nichts Äußerliches mehr, bei sieben Millionen Muslimen in Frankreich, drei Millionen in England, vier in Deutschland.
ZEIT: Ebendies macht vielen Angst. Wie kommt man vom Hiersein zum Dazugehören?
Ramadan: Es hilft nicht, wenn sich die Haltung breitmacht: Was auch immer diese Leute tun, sie können nicht zu uns gehören, denn ihre Werte sind nicht die unseren, ihre religiösen Dogmen und Praktiken sind anders. Den Muslimen sage ich: Ein Bürger zu sein bedeutet nicht nur, die Gesetze zu achten und die Sprache zu sprechen. Ich muss loyal zu meinem Land stehen, weil ich das Beste für es will. Nur so wird die Wahrnehmung eines unlösbaren Konflikts zwischen Muslimsein und Europäertum verschwinden.
ZEIT: Zweifeln nicht auch viele Muslime, ob man zugleich Muslim und Europäer sein kann?
Ramadan: Die erste Generation von Muslimen war ungebildet, sie waren Arbeiter und wussten wenig über ihren Glauben. Die heutige dritte Generation stellt endlich Fragen, das ist gut. Unsere Eltern sagten, ein Muslim zu sein heißt so zu sein wie wir. Und die Gesellschaft hat signalisiert: So wirst du nie einer von uns. Das Neue entwickelt sich durch diesen Konflikt. Vor 25 Jahren wurde ernsthaft gefragt, ob es in Ordnung ist, als Muslim auf Dauer unter Ungläubigen zu leben. Das ist vorbei. Ich sage jungen Muslimen: Du bist ein Westler, du gehörst zu diesem Land, engagiere dich dafür.
ZEIT: Zu wenige Muslime vertreten das offen.
Ramadan: Wir haben zwei Problemgruppen: die kleine Minderheit von Ultrakonservativen, die so genannten Salafiten, und schließlich diejenigen, die Gewalt religiös rechtfertigen. Ich kämpfe gegen beide. Diese Gruppen profitieren allerdings davon, wenn gesagt wird, der Islam könne nicht integriert werden. Ihre Führer können dann den jungen Leuten sagen: Wir haben es doch immer gesagt, die wollen euch nicht, die werden euch nie akzeptieren, weil ihr Muslime seid! Die radikalen Islamisten benutzen so den Diskurs der Islamophoben, um junge Leute zu rekrutieren. Es gibt also eine objektive Allianz zwischen Islamhassern und extremistischen Muslimen. Und dann haben Letztere immer irgendwelche Verse aus dem Koran zur Hand, in denen negativ über Christen oder Juden gesprochen wird. Und schon scheint die Ablehnung des Westens eine unabänderliche historische Tradition zu sein, seit den Tagen des Propheten. Das ist Geschichtsklitterei. Die Muslime müssen aufhören, die westlichen Gesellschaften für alle Übel verantwortlich zu machen. Kompromittieren wir unsere Religion, wenn wir uns verwestlichen? Ich sage, dass es keinen Glauben ohne Entwicklung gibt.
ZEIT: Muslimische Masseneinwanderung ist ein neues Phänomen für Deutschland. Die erste Moschee wurde 1928 erbaut, heute haben wir über 2600 islamische Gebetsstätten. Wissen Muslime, welchen enormen Wandel dies bedeutet?
Ramadan: Es ist zwar richtig, der populistischen Instrumentalisierung der Angst vor dem Fremden entgegenzutreten. Aber Muslime müssen auch die verständlichen Ängste ihrer Nachbarn respektieren! Es ist völlig normal, dass eine Gesellschaft die Frage stellt: Tausende Moscheen in wenigen Jahrzehnten – was passiert mit meinem Land? Ich war in Rotterdam als Integrationsberater unterwegs. Die Leute dort sagten mir: Ich fühle mich nicht mehr zu Hause mit all diesen Fremden. Die sprechen, essen, ja, sie riechen nicht wie wir. Das darf nicht abgetan werden.
ZEIT: Zurzeit sehen sich Muslime aber vor allem als Opfer von Vorurteilen.
Ramadan: Das ist eine Falle, auch wenn es Vorurteile gibt. Wie erzählen wir von unserem Europa? Von unserer Erfahrung hier als Einwanderer? Es mag zwar sein, dass viele von uns durch Not oder Unfreiheit gezwungen waren, auszuwandern. Dennoch ist es falsch, von Migration im bedauernden Ton zu reden, als seien Migranten lauter Opfer. Wir haben Erfolge vorzuweisen, wir sollten stolz sein und davon erzählen. Wir müssen die Opfermentalität vermeiden. Allzu schnell steigert man sich da hinein: Die Europäer mögen den Islam ohnehin nicht, es ist egal, was wir machen.
ZEIT: Muslime bilden schon die Mehrheit in vielen Vierteln. Aber sie verharren in einer Minderheitenhaltung.
Ramadan: Diese Mentalität muss überwunden werden. So stellt man sich selbst an den Rand der Gesellschaft. Das inflationäre Gerede von der Integration befördert dies leider. Der Begriff Integration greift zu kurz. Er klingt zu sehr nach Anpassung: Ich spreche lieber von Einmischung und Beitrag. Die Minderheitenmentalität bewirkt, dass man sich intellektuell abschottet. Das Gegenteil ist gefragt. Ein deutscher Muslim soll sich nicht nur für den Islam zuständig fühlen. Was immer dein Land bewegt, ist als deutscher Muslim deine Sache: Bildungsfragen Arbeitsmarktpolitik, Literatur.
ZEIT: Die Zeichen stehen eher auf Rückzug.
Ramadan: Darum brauchen wir eine intellektuelle Revolution unter den europäischen Muslimen. Sie fängt mit einer anderen Haltung zu dem Land an, in dem man lebt: Dies ist nicht das Gastgeberland. Dies ist auch mein Land. Selbst da, wo die Muslime schon de facto eine Mehrheit sind, benehmen sie sich wie Belagerte. Sie handeln nicht wie aktive, verantwortliche Bürger. Wer integriert denn da eigentlich wen? Beide Seiten in der Integrationsdebatte müssen aufhören, sich obsessiv mit der eigenen Identität zu beschäftigen. Wenn das Wort Integration wie eine Peitsche geschwungen wird, verfestigt sich der Eindruck, man lebe in einem Land als Gast, der sich anzupassen habe. Das ist das Denken von gestern: Wir müssen von der Integration zum Beitrag voranschreiten. Man kann es das Özil-Syndrom nennen: Wenn einer in einer Mannschaft spielt und einen Beitrag zum Erfolg leistet, fragt keiner, woher er kommt.
ZEIT: Özil wurde in Berlin von deutsch-türkischen Fans ausgebuht, die ihn offenbar für einen Verräter hielten, weil er für Deutschland spielt.
Ramadan: Das Gleiche passierte in Frankreich mit Zidane. Er wurde von algerischstämmigen Franzosen ausgebuht. Diese jungen Leute drücken damit aus, dass sie sich nicht willkommen fühlen. Das ist die Opfermentalität, die ich kritisiere. Aber übrigens: Zu sagen, der Multikulturalismus sei gescheitert, wie Frau Merkel das getan hat, sendet eine Botschaft an diese jungen Leute: Ihr gehört nicht zu uns. Das ist gefährlich.
ZEIT: Was Sie sagen, läuft aber auch auf die Kritik eines Multikulturalismus hinaus, der bedeutet, nebeneinanderher zu leben und sich zu meiden. Ist das nicht oft die Wirklichkeit unserer Städte: eine Anhäufung von Monokulturen?
Ramadan: Wenn Frau Merkel dies kritisieren wollte, kann ich folgen. Es ist nicht gut, wenn sich die Menschen ethnisch-religiös abschotten. In Ost-London leben viele Leute in Klein-Bangladesch ohne Kontakt zur Außenwelt.
ZEIT: In vielen Ländern mit islamischer Mehrheit werden Andersgläubige unterdrückt. Warum hat der Islam Probleme mit dem Pluralismus?
Ramadan: Ist die Religion der Grund für den Mangel an Freiheit in der arabischen Welt? Auch die säkularen arabischen Regime sind repressiv. Das Osmanische Reich hingegen hat über Jahrhunderte religiösen Pluralismus gekannt. In Indonesien und in der Türkei gibt es mehr und mehr Freiheit, auch wenn viel zu wünschen übrig bleibt. Die Muslime müssen sich fragen, wie sie in einer offenen Welt leben wollen. Sie müssen eine Philosophie des Pluralismus entwickeln. Für den Einzelnen heißt das: Welchen Status haben jene, die nicht meine Überzeugungen teilen? Sind sie Ansporn, mich selbst zu verbessern? Oder nur Objekte der Mission, potenzielle Konvertiten?
ZEIT: Lässt sich eine pluralistische Gesellschaft aus dem Islam heraus begründen? Oder ist Pluralismus immer nur solange gut, wie Muslime herrschen?
Ramadan: Im Koran heißt es, wenn Gott gewollt hätte, hätte er alle Menschen zu Gläubigen gemacht. Wie kann es also unser Recht sein, den Glauben anderen aufzuzwingen? Das ist verboten. Aber machen wir uns nichts vor: Ich kann den anderen nur respektieren, wenn ich genügend Selbstsicherheit habe. Übrigens ist das nicht bloß ein muslimisches Problem, wie die europäische Debatte über den Islam zeigt. Ich kannte Kardinal Ratzinger, bevor er Papst wurde. Ich habe ihn nach seiner umstrittenen Rede in Regensburg wieder getroffen. Er hat da etwas Bedeutendes gesagt: Was ist heute das Wichtigste für Europa? Der Dialog mit dem Islam? Oder ein Dialog mit sich selbst? Wenn man die eigene Geschichte auf die Ablehnung des anderen reduziert, wie manche Kulturkämpfer, dann ist man unsicher über sich selbst.
ZEIT: Es gibt kaum Frauen, die für den Islam sprechen. Und die Männer beschäftigen sich viel damit, die Freiheit der Frau einzuschränken.
ZEIT: Warum nicht einfach Feminismus?
Ramadan: Für gläubige Frauen ist es wichtig zu wissen, dass sie bei der Verteidigung ihrer Rechte nicht die Quellen verraten, aus denen sich ihr Glaube speist. Das stärkt ihre Position auch gegen den Vorwurf, emanzipiert zu sein bedeute unislamisch zu sein. Man kann von unterschiedlichen Wurzeln her zu gemeinsamen Prinzipien kommen, zum Beispiel beim Kampf gegen Diskriminierung. Aber: Wenn eine Frau mit Kopftuch selbstbewusst für ihre Rechte eintritt, wird sie dann von säkularen Feministinnen akzeptiert? Manche glauben, ein Kopftuch könne per se kein Ergebnis freier Wahl sein. Aber das kann so sein, und es ist sehr wohl möglich auch aus der islamischen Tradition heraus, die universalen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit zu begründen.
Das Gespräch führte Jörg Lau