Die Horrortat des Norwegers ist nicht im luftleeren Raum entstanden, sondern auf dem Boden übler Ressentiments gewachsen. Darüber muss man auch reden!
Von Martin Benninghoff
Anders Breiviks krudes Pamphlet auf 1500 Seiten, das der abscheuliche Verbrecher gerne „Manifest“ genannt wissen würde, ist durchtränkt von Anti-Islam- und Anti-Multikulti-Parolen. Schon längst sind diese Parolen nicht mehr die nur die Sache der waschechten Nazis, die marginalisiert am Rande der europäischen Gesellschaften stehen. Sie sind in den vergangenen Jahren in die bürgerlichen Mittelschichten getröpfelt, vorangetrieben durch rechtspopulistische Parteien und zurückweichende Volksparteien, die ihre sich im wirtschaftlichen Abstieg wähnenden Wähler nicht weiter verlieren wollen.
Damit eines klar ist: Ich behaupte nicht, dass es eine direkte Linie von den bekannten Rechtspopulisten Geert Wilders (Holland), Hans-Christian Strache (Österreich) und Thilo Sarrazin (Deutschland) zu Breivik gibt. Das wäre absoluter Unsinn. Aber Sarrazins Behauptungen über Einwanderung im Allgemeinen und muslimische Einwanderung im Besonderen finden sich erstaunlicherweise auch in Breiviks krudem Machwerk wieder. Und das nicht nur zwischen den Zeilen!
Breivik zum Beispiel schwadroniert von einer „demografischen Kriegsführung“, worunter er offenbar höhere Geburtenraten unter Muslimen als unter Nicht-Muslimen annimmt. Die „einheimischen Europäer“ würden „in den kommenden Jahrzehnten in den Zustand der Versklavung getrieben“, so der Verschwörungstheoretiker. So oder so ähnlich verbreitete schon Sarrazin seine Idee einer konzertierten Übernahme Deutschlands durch „die Muslime“, indem diese ihre angebliche Gebärfreudigkeit als Waffe einsetzten. Nur ganz kurz: Erstens gleicht sich die Geburtenrate von Muslimen und Nicht-Muslimen mit zunehmendem Wohlstand und Assimilation der in Deutschland geborenen Einwandererkinder an. Und zweitens funktioniert das „Wir“ und „Die“, das gegenseitige Ausspielen von Einwanderern und Nicht-Einwanderern nur noch bei älteren verbitterten Männern. Wer mit jungen Menschen um die 20 zu tun hat, sieht schon an deren Facebook-Accounts, wie viele verschiedene Herkunftsnamen mittlerweile deutsch sind. Das ist längst Normalität und zeigt, dass es ein „Wir und Die“ allenfalls zwischen den Modernen und Unmodernen gibt, aber nicht zwischen Religionen.
Aber das nur am Rande. Ich behaupte also nicht, dass es eine Mehrheit in Europa gibt, die dem Massenmord in Norwegen irgendwas Gutes abgewinnen kann, ja vielleicht sogar begrüßt. Aber es gibt, wie verschiedene Untersuchungen gezeigt haben, rechtspopulistische Behauptungen, die tief in die bürgerlichen Milieus eingesickert sind – und hier auch mittlerweile offen vertreten werden. Ein Verbrecher wie Breivik kann zwar deshalb bei der Wahl seiner grausamen Gewaltmittel keineswegs auf die stillschweigende Unterstützung größerer Bevölkerungsteile hoffen, wohl aber auf vorsichtiges und verstohlenes Nicken, was seine politischen Vorstellungen angeht. Dazu muss man nur die Kommentare von Nutzern in Internetforen lesen in diesen Tagen.
Wenn einer wie Sarrazin – wie neulich in einem Beitrag für das ZDF – mit der Kamera durch Kreuzberg rennt, um bei türkischen Markthändlern einen Eklat zu provozieren, dann stachelt er Hassgefühle auf allen Seiten an. Er wusste ganz genau, dass die Händler ihm und seiner akademischen Art überhaupt nicht gewachsen sind. Der inszenierte Eklat war nichts anderes als eine mehr oder minder kontrollierte Bombe, die Sarrazin im Fernsehen zur Mehrung des eigenen Ruhms hochgehen ließ. Dass diese Art der Auseinandersetzung – übrigens auch von krawalligen Islam-Funktionären genauso inszeniert – letztlich Wirrköpfen wie Breivik Ermutigung geben kann, sollte Sarrazin und Co zumindest zu denken geben.
Strukturell ist der islamistische Terror – der von Einzelpersonen oder Organisationen, nicht von Staaten kommt – dem Terror christlicher oder rechtsradikaler Fundamentalisten sehr ähnlich. Insofern ist Breiviks Horrortat mehr als der Amoklauf eines einzelnen Verirrten. Er ist Symptom eines herbei schwadronierten Kulturkampfes, der bei labilen und gefährdeten Extremisten auf fruchtbaren Boden fällt.