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Lasst die Türken nicht länger zappeln

Kolumne beim „Opinion Club“ (Erschienen am 30.10.2013)

 

Von Martin Benninghoff

Zum 90. Geburtstag der Türkischen Republik wird eine U-Bahn zwischen Europa und Asien eingeweiht – und die EU-Beitrittsverhandlungen wieder aufgenommen. So weit, so symbolisch. Nur, an einen Beitritt glaubt doch keiner mehr wirklich. Oder? Dabei schadet die Ungewissheit beiden Partnern

Es ist schon erstaunlich: Da wird diese Woche die erste U-Bahn eröffnet, die nicht nur, sagen wir, das Berliner Olympiastadion mit dem Theodor-Heuss-Platz verbindet, sondern gleich ganz Europa mit ganz Asien. Und was passiert? Nichts, rein gar nichts. Keine Reden über Brücken, die geschlagen, oder in diesem Fall Tunnel, die gebohrt werden, kein Pathos über die Verständigung der Kontinente, und die neue Nähe zwischen Europa und Asien, die sich in ihrem Brückenkopf, der Türkei, manifestiert. Es fährt eine Bahn nach irgendwo, und keiner steigt ein in den Metapherreigen. Schade eigentlich.

Stattdessen peinliche Stille. Die nur unterbrochen wird durch das nationalistische Getöse des türkischen Premierministers Recep Tayyip Erdogan, der die neue U-Bahn in Istanbul, die Europa mit Asien unter dem Wasser des Bosporus verbindet, zum 90. Geburtstag der Türkischen Republik unbedingt fertig haben wollte. Als Zeichen der wirtschaftlichen Stärke und des Aufbruchs seines Landes, das Europa nun wahrlich nicht brauche, um weiter aufzusteigen. Wer es unbedingt metaphorisch schätzt, kann da allenfalls herauslesen, dass Erdogans Zug nun endgültig den Kurs Richtung Asien nimmt. Zumindest weg von Europa.

Geschickt lässt der Premierminister seinen Popanz auf einem Feld los, das Europa ihm überlässt, weil es sich nicht klar äußert für oder wider einen EU-Beitritt der Türkei. Übrig bleibt ein Gefühl bei den Türken, ein „die-wollen-uns-eben-nicht-Gefühl“, und der populistische Premier nutzt diese Leerstelle geschickt, auch wenn die jungen, gut ausgebildeten Türken in den Großstädten sich nicht so einfangen lassen, wie es Erdogan gern hätte. Er beschwört die türkische Nation, die einzige Konstante in diesem ewigen Hin- und Her der Europäer mit ihrem merkwürdigen Gebilde, der EU. Das macht er einigermaßen erfolgreich.

Der EU-Beitritt der Türkei ist ja ein alter Hut: Das Land führt seit 2005 Gespräche mit Brüssel. Von den 35 Verhandlungsthemen wurde bislang nur ein einziges – das Kapitel über Forschung und Wissenschaft – vorläufig abgehandelt. Alle anderen Problemfelder, vor allem Menschenrechte und Grundrechte, wurden meist außen vorgelassen oder, wie in der vergangenen Woche, zurück auf den Verhandlungstisch gezerrt, um irgendwie weiterzumachen, weil man ja angefangen hat. Das zumindest war der Tenor, als die EU am Dienstag vergangener Woche das 22. Beitrittskapitel – Regionalpolitik – offiziell eröffnete. Leidenschaft sieht anders aus.

Es wird also wieder verhandelt, und die supranationale Schaltzentrale der EU, die Kommission, scheint dieses Mal aufs Gas zu drücken, damit auch die Kapitel Grundrechte und Justiz endlich angepackt werden. Doch was nutzt es, wenn vorne Dampf im Kessel ist, hinten aber keine Waggons mitziehen? Ein EU-Beitritt der Türkei war nie unwahrscheinlicher als heute, weil eine solche Erweiterungsrunde sowohl bei einigen Staats- und Regierungschefs als auch bei vielen Bürgern derzeit sehr unpopulär ist und kaum durchzusetzen wäre.

Und das hat nur vordergründig mit der Euro-Krise und einer Verunsicherung der Bürger zu tun. Längst schon hätte man klare Kriterien festlegen müssen, welche Länder sich eigentlich reale Hoffnungen auf eine Mitgliedschaft machen können. Marokko wurde mal abgelehnt. Gut, rein geografisch schon einleuchtend. Der Balkan gehört politisch und geografisch unzweifelhaft zu Europa, übrigens auch das mehrheitlich islamische Bosnien-Herzegowina. Europa ist alleine schon wegen dieses Beispiels kein exklusiver Christenklub. Dennoch muss die Frage lieber heute als morgen geklärt werden, ob die Türkei auch so selbstverständlich europäisch ist, dass sie ein weiteres Mitglied sein kann.

Die Frage kann hier nicht mal eben so beiläufig bejaht oder verneint werden. Fakt ist, geografisch gehört das Land zu Europa, wenn auch nur ein kleiner Teil. Fakt ist auch, dass die Türkei eine wichtige Brückenfunktion nach Asien und den Staaten des arabischen Raumes einnimmt, sie wirtschaftlich eine interessante Entwicklung bietet und zudem durch die kemalistische Prägung – mit einigen Fragezeichen – durchaus kompatibel mit den EU-Demokratien ist. Andererseits gibt es gute Gründe, die gegen einen Beitritt sprechen. Die Nahost-Orientierung der Erdogan-Regierung zum Beispiel oder der brutale Umgang mit der Gezi-Bewegung. Oder eben die Frage der Geografie.

Geht die Hinhalte-Taktik der EU so weiter wie bisher, dann wird sich weder die türkische Regierung klar zum Westen bekennen noch werden die EU-Staaten gezwungen sein, sich wirklich für oder gegen einen Beitritt des Landes zu entscheiden. Dass sich der zuständige Erweiterungskommissar Stefan Füle für einen weiteren Beitrittsprozess einsetzt, da nur so die Bürgerrechte in der Türkei zu stärken seien, ist da ein denkbar schwaches Argument. Etwas verhindern zu wollen – oder etwas im Ausland stärken zu wollen – zieht als Begründung nicht. Die Kernfrage muss doch lauten, was für ein Europa brauchen wir? Und wollen wir?

Die EU-Staaten müssen also ihren Bürgern erklären, was sie persönlich von einem Beitritt haben oder nicht haben. Nur so lassen sich Entscheidungen nachvollziehen, nur so lässt sich auch vermeiden, dass Politiker – wie Bundestagspräsident Lammert im vergangenen Jahr – einen generellen Erweiterungsstopp verlangen. Diese Forderung wird nämlich nur dann populär, wenn sich die Bürger überfordert fühlen und nicht mehr wissen, welches Ziel – in Größe, Mitgliederzahl und Ausgestaltung – diese EU eigentlich hat und haben soll. Derzeit ist das Bild mehr als konfus. Dabei wäre das eine Debatte, in die sich auch viele türkischstämmige Deutsche, die ihr Herkunftsland meist noch durch Verwandtschaft kennen, gut einbringen könnten. Wir müssen halt nur endlich darüber sprechen. Der Wahlkampf ist vorbei – warum nicht jetzt?

Martin Benninghoff, Journalist in Hamburg, ist Co-Autor des Buches „Aufstand der Kopftuchmädchen“, das sich mit der Reform des Islam und der Integration in Europa beschäftigt. Seine OC-Kolumne MyGration erscheint jeden Mittwoch.

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