Kolumne GRENZGÄNGER bei OPINION CLUB (18.02.2015)
Von Martin Benninghoff
Keiner muss die Band Scorpions lieben. Aber nach 50 Jahren auf der Bühne gebührt der notorisch missverstanden Combo zumindest Respekt. Eine Würdigung von Meine, Schenker und Co
Es ist noch gar nicht lange her, da veröffentlichte ich an dieser Stelle eine, wie ich fand, sehr moderate Helene-Fischer-Kritik. Einige erboste Zuschriften später war ich der Meinung, dass kritische Helene-Fischer-Artikel schon den Tatbestand von Mohammed-Karikaturen erfüllen. Zwar natürlich nicht mit derart üblen Folgen, aber der Erkenntnis: Jede Nation hütet ihre Heiligen – sei es, wie im Falle Fischers, auch nur eine Teilnation -, aber wehe dem, der nicht in den Chor der Bewunderer einstimmt.
Merkwürdigerweise kam dieser Gedanke erneut auf, als ich vor einigen Tagen ein Plakat der Rockband Scorpions sah: Erstaunliche 50 Jahre wird die Combo in diesem Jahr alt, auch wenn mit Gitarrist und Songwriter Rudolf Schenker nur noch ein Gründungsmitglied dabei ist (Sänger Klaus Meine kam aber bereits Ende der Sechziger hinzu). Sie geht zum Jubiläum, natürlich, bald in Deutschland wieder auf Tour. Und dem Rest der Welt. Eine Rock-Legende mit mehr als 100 Millionen verkauften Tonträgern weltweit – und großen Fangemeinden auf fast allen Kontinenten.
Und doch: Würde ich hier eine Kritik an Klaus Meine, Rudolf Schenker, Matthias Jabs (seit 1979 dabei) und den beiden „Neuzugängen“ James Kottak (1996) und Pawel Maciwoda (2003) schreiben, erhielte ich wohl keine Beschwerdebriefe, keine Mails erboster Fans. Die Scorpions lächerlich und nicht der Rede wert zu finden, das ist in Deutschland fast Usus, sowohl im musikalischen Feuilleton, unter befreundeten Musikern als auch den normalen Zuhörern. Es gehört wahrlich kein Mut dazu, die Scorpions zwischen Flensburg und Passau irgendwie scheiße zu finden.
Metallica im Vorprogramm
Wie kommt das? Ich bin kein Fan der Band. Mir ist da vieles zu sehr Klischee. Aber ich habe es immer befremdlich gefunden, warum ausgerechnet Deutschlands erfolgreichster Rockexport im eigenen Land stets weit unter Wert eingeordnet wurde und wird. Lächerlichkeit, Unbehagen, Herablassung: Keine andere Rockband zog so viel Spott auf sich wie die Band aus Hannover, in deren Vorprogramm Weltstars wie Metallica und Bon Jovi erst groß wurden. Nur äußerst selten habe ich in Deutschland jemanden getroffen, der die Band als musikalisches Vorbild sieht.
Undenkbar wäre das in den USA, Russland, Südamerika und Japan: System of a Down coverten den Scorpions-Klassiker „When the smoke is going down“, Billy Corgan von den Smashing Pumpkins bezeichnete die Band als seinen größten musikalischen Einfluss. In Amerika gelten die Ex-Gitarristen der Band, Uli John Roth und Michael Schenker, als absolute stilistische Koryphäen auf ihrem Gebiet, Vorbild selbst für solche Egomanen auf dem Griffbrett wie Yngwie Malmsteen oder Steve Vai. In chinesischen Hotelbars sind die Scorpions meistens mit von der Partie: mindestens als Konserve, öfters in Form einer philippinischen Coverband, die „Rock you like a hurricane“ schmettert, als sei der Song eine absolute Neuentdeckung.
Und in Deutschland? In der Heimat seien die Scorpions “dank des deutschen Feuilletons“, wie der im Alter selbstironische Klaus Meine kürzlich der “Süddeutschen Zeitung” sagte, von ihren Fans nie belagert worden. Vor Jahrzehnten hatte er das große Missverständnis zwischen seiner Band und den Deutschen so beschrieben: „Wenn Udo Lindenberg in Ostberlin einen Furz lässt, horcht hier jeder auf. Wenn wir aber zehn Konzerte in Leningrad vor insgesamt 350.000 Zuschauern geben, ist das hier keine Meldung wert.“ Das klang beleidigt, wobei das Meine damals eigentlich hätte schnuppe sein können. Lindenbergs Erfolg ist auf den deutschsprachigen Raum beschränkt, die Scorpions stehen international in einer Reihe mit AC/DC, Kiss, Aerosmith oder Bon Jovi. Nur will das hierzulande kaum einer wahr haben.
Neidgesellschaft Deutschland?
Bandgründer Rudolf Schenker erklärte sich die Probleme mit dem heimischen Publikum, mehr noch aber mit der heimischen Musikjournaille, mit dem großen Erfolg der Band. Misserfolg durch Erfolg sozusagen: „Du musst hier einen Spießrutenlauf hinter dich bringen, bei dem alle auf dich einknüppeln, und wenn du das am Ende unbeschadet überstehst, dann sagen sie: Ihr seid aber eine tolle Band.“ Bei Meine klingt das ebenfalls an. Er zitierte in der SZ den Jazztrompeter Till Brönner: In diesem Land folge auf Erfolg nur noch Häme. Da ist er also wieder, der Vorwurf der angeblichen Neidgesellschaft Deutschland.
Ein falscher Vorwurf, wie ich finde. Andere Beispiele zeigen doch, dass sich Erfolg und Bewunderung in Deutschland nicht zwangsläufig ausschließen müssen. Rammstein gelingt dieser Spagat weitestgehend, indem die Band um den kryptischen Charismatiker Till Lindemann mit Grenzen spielt und Extreme auslotet, ohne sich permanent zu erklären. Im Gegenteil: Lindemann gibt den scheuen Lyriker, der nur ab und an – naja, sehr selten – von seinem Olymp in die Niederungen der deutschen Interviewkultur herabsteigt. Das macht Rammstein teflonartig schlüpfrig, unnahbar und vor allem unbrauchbar für die stets schon etikettierten Schubladen in Teilen des Musikjournalismus.
Die Scorpions haben ihr Etikett dagegen weg: straighter Classic Rock mit den üblichen Inszenierungen und Stadionposen. Die Frage ist nur, kann man das einer Band vorwerfen, die das quasi miterfunden hat? Kann man nicht, und das haben eben kluge Musiker wie Billy Corgan erkannt: Wenn Rudolf Schenker die puckartige Sonnenbrille selbst nachts nicht auszieht und beim Spielen mit seiner Flying V rudert wie ein Olympionik, wenn Solist Matthias Jabs seine Poser-Klampfe in den Himmel reckt wie ein phallisches Schwert, dann mag das allenfalls peinlich sein für die vielen Imitatoren, aber nicht für das Original. Seien wir doch froh, dass eines der Originale tatsächlich aus Deutschland kommt.
Vielleicht liegt hierhin das Wahrnehmungsproblem viele Zeitgenossen in Bezug auf die Scorpions: Obwohl sie Trendsetter waren, wirkte manches gnadenlos abgekupfert. So als ob ein paar einfache Jungs aus Hannover sich aus Heften zusammenreimen, wie so ein großer Rockstar eigentlich sein muss. Amerikanisch natürlich. Nicht so piefig deutsch. Ein bisschen Madison Square Garden. Ein bisschen Las Vegas. Daraus mag sich die Hybris der Scorpions, dieses riesenhaft plakative Stadiongehabe – inklusive aufblasbarem Riesenskorpion auf der Bühne – von Schenker und Co speisen. Aber will man das den Pionieren auf diesem Gebiet wirklich vorwerfen? Zumal für viele von uns in Sachen Rockmusik Amerika mit seiner Livekultur immer noch das Maß aller Dinge ist und nicht – Entschuldigung – Berlin oder Hamburg. Und zwar nicht nur in Sachen Posing, sondern vor allem in Sachen Können und Professionalität.
Provokation durch Gesten
Die großen Gesten haben in Deutschland immer schon Skepsis und Verachtung provoziert. Vielleicht steckt dahinter historisch begründeter Zweifel gegenüber jeglichem Pathos. Und dann noch „Wind of change“, das war manchem zu viel! Vielleicht kommt dazu, dass Kunst Nische sein muss in den Augen vieler Betrachter. Dass sie sonst Befürchtungen hegen, Kunst rücke zu nah an die Mächtigen heran – oder anders: die Mächtigen rückten zu nah an die Kunst -, sobald sich Kunst auf die große Bühne begibt. Da ist ja auch was dran, wie man zu Zeiten Gerhard Schröders sehen konnte: Vor allem Klaus Meine pflegte die Kontakte zur Hannover-Connection. Man war Stadionrocker in fast schon öffentlich-rechtlichem Auftrag, gerne auf Empfängen mit dem Kanzler, der die Nähe zu Künstlern demonstrativ und öffentlichkeitswirksam suchte.
Das mögen natürlich die Nischenjünger nicht, die viel Selbstbewusstsein aus ihrem Anti-Establishment-Gehabe schöpfen. Eine Attitüde, die mitunter wie eine Monstranz vor sich hergetragen wird. Mainstream- und Kommerzverdacht kann sich da richtig geschäftsschädigend auswirken: Nicht nur diejenigen, die Genres gründen, leiden darunter, sondern zudem jene, die Genregrenzen einreißen: Als sich Jochen Distelmeyer, der Sänger von Blumfeld, als George-Michael-Fan outete, begannen einige ewige Schubladendenker der Hamburger Schule mit der Demontage des Künstlers. Der Schlager-Vorwurf war im Raum, dabei erinnert der großartige Song „Tausend Tränen tief“ nicht an einen Schlager, sondern an George Michaels „Jesus to a child“, was einige notorische Etikettierer noch nie unterscheiden konnten. Und überhaupt, wen interessiert’s? Wenn ein Song berührt, dann berührt er eben. Distelmeyer war da auf seine Art ein Grenzgänger, der Genregrenzen einreißen konnte – und dafür abgewatscht wurde.
Als die Scorpions ihrerseits Genregrenzen einreißen wollten – Ende der Neunziger mit ihrem betont elektronischem Album „Eye II Eye“ -, verschmähten die Fans den stilistischen Wandel. Und der Presse war es auch nicht Recht. Vielleicht war das der einzige Fehler der Scorpions, anders sein zu wollen, als sie sind: In Wahrheit erwartet niemand von den Scorpions, das Rock-Rad neu zu erfinden. Das erwartet man nicht von Pionieren, das ist Aufgabe ihrer Nachkommen, sobald sie sich mit ihren Vorgängern ausgesöhnt haben, so dass aus Vorgängern Vorbilder werden. Deutschlands Musikfans dürfen sich deshalb entspannen und mit den Scorpions aussöhnen. Der 50. Geburtstag der Band wäre da eine tolle Gelegenheit.
Martin Benninghoff, Journalist in Berlin und Redakteur bei „Günther Jauch“, hört gerne „Big city nights“ bei offenem Autofenster. Und singt natürlich lauthals mit. Mittlerweile steht er auch dazu. Seine OC-Kolumne „Grenzgänger” erscheint jeden zweiten Mittwoch.