Kolumne GRENZGÄNGER bei OPINION CLUB (09.09.2015)
Von Martin Benninghoff
Es ist richtig: Für die Erstunterbringung von Flüchtlingen sind Großstädte geeigneter. Kleinstädte und Dörfer aber können langfristig von denen profitieren, die jetzt zu uns kommen.
800.000 Flüchtlinge könnten bis Ende 2015 in Deutschland ankommen, schätzt die Bundesregierung. Schaut man sich die Fluchtgründe genauer an – Krieg in Syrien, Staatszerfall hüben wie drüben in Nordafrika und dem Jemen -, dann muss man kein hauptberuflicher Augur sein, um festzustellen: Die Zahl der Flüchtlinge, die nach Deutschland wollen, wird in den kommenden zwei bis drei Jahren kaum abflauen. Die Frage ist, wohin mit den vielen Menschen, die Ansprüche haben, in unserem reichen Land Schutz zu finden? Besser in die Großstädte oder aufs Land?
Der Politologe Aladin El-Mafaalani plädiert dafür, Flüchtlinge vor allem in den Großstädten unterzubringen. Seine Argumentation in einem Interview mit „Spiegel Online“: „Eine Rückkehr in die Heimat wird immer unrealistischer, je länger die Krisen in den Herkunftsländern andauern. Also muss man dafür sorgen, dass sich die Menschen hier zurechtfinden, integrieren und verwurzeln können. Und das klappt nun mal am besten in Regionen, die Erfahrung mit Migration haben. Das sind die Großstädte. Dort sind bessere Arbeitsmöglichkeiten, es gibt viele Schulen, die Infrastruktur stimmt, und die Bevölkerung hat eine höhere Stressbewältigungskultur.“
Diese Analyse ist erst einmal richtig. Großstädte bieten vorhandene Netzwerke und Beratungsangebote. Die Bewohner sind in aller Regel mit Fremdheit stärker vertraut als Dorfbewohner, sie schätzen den urbanen Pluralismus, und die Infrastruktur ist auf viele Menschen auf engem Raum ausgelegt. Allerdings stimmt auch: Die Städte platzen aus allen Nähten, der Wohnraum in Hamburg, München, Köln, Stuttgart und Berlin verteuert sich tendenziell. Warum also sollte man sämtliche Belastungen den Städten zuschustern?
Verödete Landstriche
Die Antwort sollte differenziert ausfallen. Städte sind in der Tat geeigneter für die Erstunterbringung. Behördenbesuche, die ärztliche Erstversorgung und Sprachkurse für Kinder und Jugendliche können in Städten wesentlich besser organisiert werden. Die Akzeptanz durch die Bevölkerung ist ohnehin in Ballungsgebieten stärker, was für traumatisierte Kriegsflüchtlinge besonders wichtig ist. Wer aus der syrischen Hölle kommt, sollte erst recht nicht mit Ablehnung, vielleicht sogar mit dem Hass geifernder „Nachbarn“ in der Provinz konfrontiert werden.
Allerdings sollten ländliche Kommunen im weiteren Prozess nicht aus ihrer Verantwortung entlassen werden. Nach einiger Zeit könnten Flüchtlinge dezentral auch in Dörfern untergebracht werden. Wohnraum ist hier günstig, und nach einigen Monaten dürfen Asylbewerber und geduldete Flüchtlinge arbeiten – zunächst mit Einschränkungen. An der Schnittstelle von Asylpolitik und dem Werben um ausländische Arbeitskräfte rücken Deutschlands entvölkerte Dörfer und Landstriche ins Sichtfeld.
Unsere Städtchen und Dörfer verlieren nach einer Schätzung des Berlin-Instituts für Demographie bis 2030 mehr als acht Prozent der Bevölkerung. Das hat natürlich mit der Alterung der Gesellschaft zu tun, vor allem aber auch mit den neuen Arbeitsplätzen, die in den Metropolregionen entstehen – und den verkehrstechnischen und kulturellen Möglichkeiten, die gut ausgebildete Menschen eben an den Städten schätzen.
Verödete Dörfer
Nicht alle, aber viele Dörfer und Kleinstädte an der Peripherie veröden derweil, und der Einnahmeschwund aus Steuern und Abgaben treibt die Kommen dazu, mehr und mehr Einrichtungen zu schließen und mehr und mehr Angebote zusammenzustreichen. In diesen Lücken bieten sich in Zukunft große Chancen für Einwanderer, die sich heute noch im Asylverfahren befinden und die eine Chance haben, sich langfristig anzusiedeln.
Sicher, das gilt vor allem für hochqualifizierte Fachkräfte wie Ärzte zum Beispiel, aber eben nicht nur. Der ländliche Raum benötigt ein flexibleres öffentliches Verkehrssystem, kommunale Anbieter könnten Versorgungslücken mit privaten Fahrdiensten ergänzen. Wo sich größere Supermärkte nicht mehr lohnen, könnten rollende Supermärkte die ländliche Versorgung sichern, was besonders wichtig für immobile ältere Leute wäre. Gleiches gilt für die Gastronomieszene, Kinder- und Altenbetreuung oder die Gesundheitswirtschaft.
Alleine deshalb wäre es falsch, Flüchtlinge per se zur Angelegenheit von Städten zu erklären. Ressentiments gegenüber „Fremden“ sind vor allem eine Folge von Unwissenheit. Es ist überall zu beobachten, dass derlei Ressentiments durch persönliche Kontakte abgebaut werden können. Wir würden den ländlichen Gebieten im Gegenteil keinen Gefallen tun, wenn wir sie vor den Anstrengungen, Zumutungen und eben mittelfristigen (nicht nur ökonomischen) Profiten der Flüchtlingspolitik weitgehend ausklammern würden. Im Gegenteil: Eine gesteuerte und maßvolle Zuwanderung in die Dorfgebiete verleiht den verödeten Landstrichen wieder neuen Schwung. Dann klappt es auch mit der „Stressbewältigungskultur“ der Dorfbevölkerung.
Martin Benninghoff, Journalist in Berlin und Redakteur bei „Günter Jauch“ (ARD), schreibt die OC-Kolumne „Grenzgänger“ jeden zweiten Mittwoch.