Kolumne GRENZGÄNGER bei OPINION CLUB (23.09.2015)
Von Martin Benninghoff
Nicht überall, wo Krise draufsteht, ist auch Krise drin. Im Gegenteil: Die derzeitige Flüchtlingssituation zeigt, wie sehr Europa schon zusammengewachsen ist. Das taugt zum Vorbild für die Welt
Krise, Krise, Krise. Wenn ich das schon lese, kommt mir, pardon, das kalte Kotzen. Flüchtlingskrise, Griechenlandkrise. Krisekrise. Wenn es stimmt, was Ludwig Wittgenstein formuliert hat – „die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ -, dann sagt die Art und Weise, wie über Flüchtlinge oder Griechenland gesprochen und geschrieben wird, mehr über den Zustand der Sprechenden und Schreibenden aus als über die Realität in der Welt.
Ein Beispiel: Es ist nachvollziehbar, dass die Zahl der Flüchtlinge, die nach Europa und hierbei vor allem Österreich und Deutschland drängt, manchen Menschen Angst macht. Aber eine Krise ist das nur bedingt – nur was die Bewältigung angeht -, ansonsten ist es eher ein Symptom für die Attraktivität Europas in den Augen der Menschen, die hoffen, hierzulande ein besseres Leben führen zu können. Trauen wir uns doch, halten wir einen Moment inne und freuen uns darüber, dass es uns gelingt, Europa ein Stück weit zum Beispiel für (vergleichsweise) gutes Regieren und (vergleichsweise) guten sozialen Ausgleich zu bauen. Man kann hier gut leben! Sagen wir es mal laut!
Jetzt werden die Kritiker von links sagen: Aber was ist mit Ungarn? Was ist mit Viktor Orbán, dem ungarischen Ministerpräsidenten, und den Rechtspopulisten von Fidesz? Ist das etwa Europa, wenn die ungarischen Behörden mit Wasserwerfern auf Flüchtlinge schießen lassen? Nein, natürlich nicht. Aber Ungarn verhält sich eben derzeit nicht so, wie sich ein europäischer Staat verhalten sollte. Ungarn tanzt aus der Reihe, verharrt im alten nationalen Denken. Die Idee Europas ist deshalb aber nicht tot, nur weil das noch nicht in Fleisch und Blut jeden Bürgers und jeder Regierung übergegangen ist. Im Gegenteil: An Ungarn wird deutlich, dass Europa noch im Aufbau begriffen ist, an allerlei Widersprüchen krankt, die aber – das ist die positive Nachricht – abzustellen sind. Aber: Das dauert, wie alle langfristigen Projekte. Und es kann immer sein, dass sich Mitglieder zumindest zeitweise aus dem Projekt verabschieden.
Durch die Flüchtlingssituation wird uns allen bewusst, dass es nicht genügen kann, die Grenzen Europas im Inneren abzubauen, und dass man es andererseits den Nationalstaaten überlässt, die gemeinsame Außengrenze der EU zu sichern. Hier braucht es mehr Europa, mehr Vergemeinschaftung an diesem Punkt, mehr Solidarität und Hilfe von Europa, aber die Hilfe muss eben auch angenommen werden. Wir müssen es endlich anpacken, neu zu definieren, welche Politikfelder europäische Gemeinschaftsaufgaben sein sollen und welche lokal bleiben oder werden. Dass Schengen ausgesetzt wurde, ist übrigens auch kein Zeichen für den Niedergang der Reisefreiheit in Europa; es ist ein Notmechanismus, der für solche Fälle wie jetzt vorgesehen ist. Dass er funktioniert, spricht eher für die Funktionsfähigkeit von Schengen als dagegen.
Erste europäische Öffentlichkeit
Es ist mir schon klar, dass die ewigen Nörgler von rechts jetzt sagen: Mensch, wie blauäugig ist das denn? Europa werde nie zusammenwachsen, der Mensch denke in nationalen Kategorien und so weiter. Das ist Quatsch! Solche Nörgler hätten es auch nicht für möglich gehalten, dass wir derzeit erstmals eine Art europäische Öffentlichkeit spüren. Ja, es war immer ein Argument der Gegner eines föderalen Bundesstaates namens Europa, dass der Kontinent eben keine gemeinsame Sprache spricht. Das stimmt, und doch sprießt in diesen Tagen erstmals ein zartes Pflänzchen einer europäischen Diskussionskultur: In deutschen Talkshows sitzen ungarische Minister und Botschafter, die sich mit luxemburgischen Ministern kabbeln, derweil sich ein deutscher Minister dezent zurückhält. Wann gab es so etwas schon einmal?
Natürlich, das ist noch viel zu wenig (wie immer), und das Problem der Sprache bleibt. Aber die Generation unter 40 spricht durch die Bank ein so vernünftiges Englisch als „lingua franca“, dass sie in der Lage ist, die Medien anderer europäischer Länder zu konsumieren. Die Tatsache, dass wir Europäer übereinander und miteinander schimpfen, kommt daher, dass wir uns näher gerückt sind, und dass wir die Politik in Ungarn mittlerweile eben locker als Innenpolitik Deutschlands begreifen. Das bereitet natürlich jenen Probleme, die nicht mitreden können, weil sie noch immer rein national denken, leben und Medien konsumieren. Verlierer gibt es in diesem Prozess. Die werden maulen, in den Kommentarspalten, bei den Pegida-Demos, am Wahltag ihr Kreuzchen bei der AfD machen. Sei’s drum.
Die vermeintlichen Krisen derzeit sind anstrengend, keine Frage. Wenn Ungarn auch deutsche Innenpolitik ist, dann gibt es mehr Baustellen als früher für den deutschen Nachrichtenzuschauer. Aber sie zeigen andererseits, wie der Kontinent mittlerweile miteinander verwachsen ist, dass es nur so kracht im Gebälk. Wer das für naiv hält oder für zu blauäugig oder für zu idealistisch, hätte nach dem Zweiten Weltkrieg wohl niemals daran geglaubt, dass Deutschland heute dank umsichtiger Politik nur noch von Partnern umgeben ist. Hätte wohl an der Wiedervereinigung gezweifelt. Hätte stattdessen immer noch dümmliche Polen-Witze gekloppt. Hätte nie begriffen, wie Integration funktioniert.
Europa ist ein Versuchslabor. Mit Versuch und Irrtum. Noch nie ist es jedoch einer Staatenregion gelungen, sich über wirtschaftliche Verknüpfungen hinaus eng aneinander zu binden. Afrika bekommt das nicht hin, Asien auch nicht. Aber Europa! Ökonomische Stärke plus gesellschaftlichen Liberalismus plus Rechtssicherheit – das ist eine Mischung, mit der Europa selbstbewusster auf Werbetour gehen sollte. Trotz oder gerade wegen der „Krisen“ des Kontinents. Die Alternative zu den demokratisch-säkularen Werten eines vereinigten Europas liegen ja auf der Hand: turbokapitalistischer Autoritarismus wie in China (selbst ökonomisch nicht mehr so erfolgreich), nationalistischer Revanchismus wie in Russland (ungefähr so attraktiv wie ein Plattenbau), Aktivierung und Reaktivierung von Konflikten entlang religiöser Grenzen wie im Nahen Osten und in Teilen Afrikas (rette sich, wer kann).
Die Attraktivität Europas allerdings ist fest gebunden an die Demografie des Kontinents. Alternde Gesellschaften lassen den frischen Geist vermissen, der Attraktivität ausstrahlt. Gerontokratien haben keine Chance auf den Weltmärkten, weil es an Ideen und Beweglichkeit im Denken fehlt. Deshalb sind Flüchtlinge eine große Chance (nicht nur im ökonomischen Sinne), und man muss alles dafür tun, dass viele von ihnen bleiben können. Allerdings dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren, dass Engstirnigkeit, religiöser Revanchismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und übersteigerter Nationalismus keine Krankheiten sind, an denen ausschließlich Deutsche oder Europäer leiden. Dieselben Maßstäbe in Sachen Demokratie, Gleichberechtigung, Umweltschutz und so weiter gelten natürlich auch für Menschen, die erst in Europa heimisch werden müssen.
Martin Benninghoff, Journalist in Berlin und Redakteur bei „Günther Jauch“, schreibt die OC-Kolumne „Grenzgänger“ jeden zweiten Mittwoch.