Erschienen bei FAZ.NET (03.06.2016)
Von Martin Benninghoff
In der Flüchtlingsdebatte haben sich manche Leser und Journalisten entfremdet. Im ersten Teil haben wir bei Lesern nachgefragt, warum das so ist. Im zweiten Teil nehmen wir Stellung – zu zwei besonders heiß diskutierten Aspekten.
Es ist die wahrscheinlich wichtigste Erkenntnis, die wir als Journalisten beherzigen sollten: Viele Leser wollen bei kontroversen Themen wie Einwanderung, Integration und Flüchtlingspolitik mitreden, ohne von oben herab belehrt zu werden. Und sie, die im Normalfall kaum Möglichkeiten haben, ihre Ansichten publikumswirksam einer breiteren Öffentlichkeit bekanntzumachen, brauchen dafür Plattformen, die eine größere Strahlkraft nach außen haben als der heimische Esstisch, das private Profil bei Facebook oder das eigene Internetblog.
Das zeigen auch die vielen Kommentare, die auf den Artikel „Jetzt reden die Leser“ bei FAZ.NET eingegangen sind. Darin ging es um die atmosphärischen Störungen zwischen manchen Lesern und Journalisten im Streit um eine angemessene Flüchtlings- und Integrationspolitik. Die Resonanz war groß: Mehr als 400 veröffentlichte Lesermeinungen gingen im Forum von FAZ.NET ein, dazu kommen weitere 150, die nach den Richtlinien der Forumsmoderation nicht freigeschaltet wurden. Zudem erreichten uns Dutzende Mails sowie Nachrichten via Facebook und Twitter. Und ein Brief. Auf echtem Papier.
Kurz zusammengefasst: Die Leser begrüßen es, wenn ihre Meinungen gelesen, kommentiert und beantwortet werden. Ein Leser, der für viele Einsendungen repräsentativ stehen könnte, bringt es auf den Punkt: „Man ist doch meist sehr frustriert, weil man selbst nicht wirklich vom Autor eine Art Reaktion erfahren kann. Man hat stets das Gefühl, einen Zettel in einen ‚Beschwerdekasten‘ für immer zu versenken.“
Es lohnt sich, zwei dieser „Beschwerden“ an der Berichterstattung von FAZ.NET und anderen Medien exemplarisch herauszugreifen und näher zu betrachten, weil sich darauf viele Leser im Forum (was allein noch nichts über die Meinungen der Bürger insgesamt aussagt) einigen können – mit dem Versuch einer Einordnung aus der Sicht eines zuständigen Redakteurs:
Streitpunkt 1: Sollen wir immer über Herkunft und Religion berichten? Oder nur in begründeten Fällen bei Sachbezug zum Thema?
Einige Leser wollen immer und in jedem Zusammenhang über die Herkunft von Menschen, die in unseren journalistischen Beiträgen vorkommen, unterrichtet werden. Einer schreibt: „Warum werden nicht generell Angaben zu Herkunft und Religion gemacht? So selbstverständlich wie über das Geschlecht und das Alter berichtet wird?“ Ein anderer bläst ins selbe Horn: „Ich lese Zeitung, weil ich detailliert informiert werden möchte. Dazu gehören Tatsachen, dass ein Inder Chef von SAP wird, welche Nationalität ein Straftäter hat oder welches Geschlecht jemand hat, der in den Aufsichtsrat gewählt wird.“
In der Tat, in einer perfekten Welt, in der weder Klischees noch tiefsitzende Ressentiments gegenüber einzelnen Menschengruppen existierten, in der die Menschen die Dinge gleichsam differenziert und neutral bewerteten, müsste man den beiden genannten Lesern vorbehaltlos zustimmen. Würde das Kriterium Herkunft nur halb so unschuldig daherkommen wie die beiden augenscheinlich meinen, wäre vieles leichter.
Leider ist dem nicht so, wie die Vielzahl von Kommentaren zeigt, die Journalisten – und wir auch – täglich in den Foren ihrer Artikel oder auf einschlägigen Blogs lesen. Ein dritter Kommentar eines Lesers macht das deutlich: „Da das Thema ‚Ausländerkriminalität‘ ja von höchstem Interesse ist, ist die Nennung des meist muslimischen Hintergrundes von großer Relevanz und hat sehr wohl mit den Taten etwas zu tun.“ Ein Satz mit gefühltem Ausrufezeichen, der als Feststellung daherkommt – und doch eine Behauptung ist.
Derzeit ist der Islam an fast allem schuld
Was sagt uns der behauptete Zusammenhang zwischen „muslimischem Hintergrund“ und „Ausländerkriminalität“ über die Ursachen von Kriminalität, über Milieus in deutschen Großstädten, in denen Gewalt gedeiht? Wer glaubt ernsthaft, dass solche Ursachen überwiegend in den religiösen Texten einer Weltreligion zu suchen sind, zumal jene gemeinten Täter möglicherweise herzlich wenig mit der Religion am Hut haben, mit der sie von außen in Verbindung gebracht werden (und die sie andersherum für sich möglicherweise selbst reklamieren)? So pauschal kann man das jedenfalls nicht behaupten. Derzeit ist der Islam an fast allem schuld – damit reduziert man zwar die Komplexität jedes Themas, nur in der Ursachenforschung kommt man keinen Schritt weiter.
Anders ist es, wenn der Sachbezug zur Herkunft und zur Religion klar gegeben ist: Wenn ein rachsüchtiger Bruder seine Schwester ermordet, weil diese ein „westliches“ Leben lebt, wenn Frauen im Namen einer patriarchalen Islaminterpretation unterdrückt oder belästigt und in der Küche oder im Keller versteckt werden, oder selbst ernannte Salafisten Jungs in Dinslaken für den IS in Syrien und Irak rekrutieren, dann sind Herkunft und Religion natürlich bedeutsame Details in der Berichterstattung.
Genau diese Abwägung schlägt der Deutsche Presserat in seiner Empfehlung vor: Auf die Herkunftsinformationen sollten Journalisten ja nur dann verzichten, „wenn die Diskriminierungsgefahr höher zu veranschlagen ist als die Information zum Verständnis des berichteten Vorgangs beiträgt“. Und das kann der Journalist nur im Einzelfall entscheiden.
Falsch und fatal wäre es, aus Angst vor falschen und pauschal-diskriminierenden Schlüssen einiger Leser Herkunft und Religion per se zu verschweigen.
Genauso falsch wäre es aber, in jedem Fall auf die Herkunft eines Straftäters oder die Religion abzuheben: Mag ein Ladendieb der Nachfahre marokkanischer Einwanderer sein, so erklärt weniger die Herkunft der Familie, warum er kriminell wurde, als vielmehr seine eigene Geschichte in einem – sagen wir – Kölner Problemviertel. Oder wollen wir Köln als Herkunft auch gelten lassen? Jeder kann eine Meinung haben, nur der Journalist hat die professionelle Aufgabe, an diesem Punkt genau hinzuschauen und zu differenzieren.
Raus aus den Kampfzonen
Auch Journalisten sind Menschen. Sie prägt die Erfahrung übler Zuschriften und regelrechter Shitstorms. Die Macher bestimmter Seiten im Netz sind nicht empfänglich für Dialogversuche, sie sind gar nicht an Gesprächen interessiert – sie wollen nur ihre manichäische Weltsicht von Gut und Böse aufrechterhalten und die Gesellschaft weiter bis über jegliche Schmerzgrenze hinaus polarisieren.
Aus der Erfahrung permanenter Angriffe heraus ziehen sich manche Journalisten aus den Kampfzonen heraus, und die gutmeinenden und an ernsten Gesprächen interessierten Leser wundern sich, dass ihre Kommentare ungehört verhallen. Diese Entwicklung wollen wir nicht, und deshalb moderieren wir die Lesermeinungen bei FAZ.NET – ein weiterer Aspekt, der die Leser in ihren Zuschriften stark umtreibt.
Streitpunkt 2: Sollen wir die Kommentare im Leserforum grundsätzlich freischalten, oder funktioniert Leserbeteiligung nur moderiert?
Ein Leser, stellvertretend für viele andere, schreibt: „Das kommentarlose Löschen eines Kommentars, in dem ja nicht nur eine persönliche Mitteilung steckt, sondern auch geistige Arbeit, das empfinde ich als…schmerzhaften Akt der Kränkung.“ Die Leserin Bärbel Schneider ergänzt: „Wie soll man ins Gespräch kommen, wenn man als Leserin quasi mundtot gemacht wird und nicht einmal die Gründe dafür erfährt? Kein Wunder, dass der Eindruck entsteht, eine echte Debatte sei nicht zugelassen.“
Sollte dieser Eindruck entstehen, so ist er nicht gewollt. Lesermeinungen sind heute wichtiger denn je, alleine schon deshalb, weil die Online-Welt viel mehr Platz für die Beiträge der Nutzer bietet. Viele Journalisten wollen in Kontakt mit den Lesern treten, sie moderieren in Foren oder antworten auf Leserzuschriften. Vergessen wir nicht: Als es ausschließlich Zeitungen auf Papier gab, konnten Bürger allenfalls Leserbriefe schreiben, von denen nur ein Bruchteil abgedruckt wurde. Wir sprechen doch heute über ganze andere, viel bessere Beteiligungsmöglichkeiten der Menschen.
Der Austausch mit den Lesern bietet den Journalisten „Input“: durch Ergänzungen und Korrekturen, Recherchehinweise und Quellen, mögliche Zeugen und Hintergrundinformationen. Ein Leser regt vor diesem Hintergrund an, aus der Fülle der Lesermeinungen mögliche Autoren von Gastbeiträgen zu akquirieren. Ein Konzept, das das soziale Netzwerk „Xing“ zumindest ansatzweise in seinem Debattenportal „Klartext“ aufgreift.
Wir wollen keine Schlachten schlagen
Wie weit kann man sich davon als Zeitung inspirieren lassen? Ein Leser macht den Vorschlag: „Viele Menschen haben was zu sagen, weil sie das Gefühl haben, nicht gehört zu werden. Dabei zu helfen, das organisatorisch zu kanalisieren, wäre mal wirklich zukunftsweisend.“ Genau das versuchen wir als Journalisten: Wir geben den Lesern die Möglichkeit zum Mitdiskutieren, indem wir kanalisieren und die Debatten moderieren.
Wir schauen dabei natürlich auf den Qualitätsanspruch der Marke. Nicht jede Nachricht, über die kaum Hintergründiges bekannt ist, muss deshalb zu kommentieren sein. Für Lesermeinungen offen sind hingegen die hintergründigen, analytischen und meinungsstarken Stücke mit Autorenzeile. Wir wollen keine Kriege und keine Schlachten schlagen, uns nicht gegenseitig abkanzeln und in Polemiken verlieren, sondern mit Sachargumenten streiten.
Nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre muss es leider ein paar Ausnahmen geben: Speziell bei den Themen Russland und Ukraine, Islam und Flüchtlinge sowie Israel und Palästina erreichen die Leserredaktion sehr häufig extremistische Hetzbeiträge, die darauf abzielen, Personen oder Personengruppen in ihrer Menschenwürde zu verletzen, herabzusetzen und frontal anzugreifen – das geht bis zu juristisch relevanten Äußerungen.
Dieser Hass treibt mitunter seltsame Blüten: Zum Beispiel beobachten wir, dass die Autoren wahllos von einem Thema zum nächsten springen. Handelt das Stück eigentlich von Vegetarismus, so ist der nächste Assoziationsritter nicht mehr weit, der scheinbar mühelos eine Verbindungsbrücke zum Islam schlägt (Anknüpfungspunkte: Schweinefleisch in Schulkantinen oder auch Schächten). Hinzukommen computergenerierte Hasskommentare, die im Sinne ihrer Auftraggeber das Meinungsbild in Foren einfärben sollen.
Ein Eindruck, den diese Leserin teilt: Einige „äußern sich zum Thema Syrien ganz einseitig, vor einigen Monaten war auch zum Thema Ukraine zu beobachten.“ In der Tat, die Diskussionsteilnehmer bleiben häufig unter sich, bestätigen und versichern sich gegenseitig, halten sich für eine (schweigende) Mehrheit.
Wer zum Beispiel in der Flüchtlingsfrage die durchaus nicht repräsentative Meinungsvielfalt in Leserforen für bare Münze nimmt, dem mag die vergleichsweise große Meinungsvielfalt zu diesem Thema in der Presse – von „taz“ bis „Junge Freiheit“ und die vielen verschiedenen Standpunkte und Argumente, die in der FAZ veröffentlicht werden – fast schon wie ein einziger Linksruck vorkommen. Dieser Eindruck ist jedoch eine Wahrnehmungsverzerrung.
Moderation für größtmögliche Ausgewogenheit
Auch deshalb ist es aus journalistischer Sicht sinnvoll, in einem Leserforum durch Moderation für größtmögliche Ausgewogenheit und Vielfalt der Meinungen zu sorgen. Dass wir damit nicht falsch liegen, zeigt die gewisse Bandbreite im Leserforum: Immerhin findet sich dort – neben der Kritik, dass die Bürger mit ihren Sorgen und Ängsten zu wenig von den Medien wahrgenommen würden – auch die Kritik, dass „in dieser Kolumne Leser“ vorgestellt werden, „die offensichtlich ein rechtes Weltbild aufweisen, als ob es ganz normale Leute wären“. Wer Feuer von beiden Seiten bekommt, ist vielleicht ganz gut auf dem Mittelweg unterwegs.
FAZ.NET geht den Weg der Moderation, also der Vorauswahl der Kommentare durch Moderatoren – das Team der Mitarbeiter wurde zuletzt verstärkt, damit die Diskussionen schneller und besser in Gang kommen. Die arbeiten nach festgelegten Richtlinien (nicht hetzerisch, nicht ehrverletzend, beim Thema bleibend) und haben dabei einen kleinen Ermessensspielraum – das ist bei nicht-mathematischen, unpräzisen Gleichungen auch gar nicht anders möglich. Wir Autoren gehen heute mehr ins Gespräch mit den Lesern als früher, indem wir im Forum mitdiskutieren und moderieren.
Wer „Zensur“ ruft, muss sich nach seinen Maßstäben fragen lassen
Dieses System ist beileibe nicht perfekt. Aber es hat den Charme, dass die Debatte ausgewogener und sachlicher in Gang kommt als bei Foren, die generell alles freischalten, um dann im Nachhinein kräftig zu filtern. Wer da „Zensur“ ruft, muss sich schon nach seinen Maßstäben fragen lassen: Es gibt zwar ein grundgesetzlich verankertes Recht der freien Meinungsäußerung, aber kein Recht, das einem erlaubt, alles überall zu sagen. Wer in einem Restaurant lautstark politisiert und über gesellschaftliche Gruppen herzieht, wird es vermutlich schnell mit dem Wirt zu tun bekommen, der von seinem Hausrecht Gebrauch macht. Nicht anders ist es bei einem Medium.
Bei all diesem Ärger sollten wir nicht vergessen: Es sind jene, die poltern, die über die Schmerzgrenze hinaus polarisieren und gegen ganze Bevölkerungsgruppen pauschal hetzen, die knochenharte, aber sachliche Tischgespräche unmöglich machen – bis die Störer des Ladens verwiesen werden. Stellen wir uns ruhig vor, wie viel besser es wäre, wenn wir Foren einfach unmoderiert öffnen könnten oder ohne Hintergedanken über mögliche Diskriminierungen die Herkunft einer Person thematisieren könnten. Das wäre eine wunderbare Welt. Leider ist die Realität komplizierter.