Von Martin Benninghoff
Die AfD will den „etablierten“ Parteien bei der heutigen Wahl zu Leibe rücken. Aber reicht es dafür aus, auf Merkels Flüchtlingspolitik zu schimpfen? Ein Besuch in zwei sehr unterschiedlichen Berliner Bezirken, in denen die AfD erfolgreich sein könnte.
Berlin-Steglitz, Bezirk Steglitz-Zehlendorf, ein Tag vor der Wahl
Die ersten zaghaften Sonnenstrahlen nach dem heftigen herbstlichen Regenguss lässt Cerstin Richter-Kotowski nicht ungenutzt: Die 54 Jahre Bezirksstadträtin im Berliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf blinzelt unter der Plastikplane des kleinen abgedeckten Wahlkampfstandes an der Steglitzer Schloßstraße gen Himmel, nimmt Blumen und Flyer in die Hand und eilt zurück auf den Bürgersteig zwischen die Menschen, die mit ihren Einkaufstaschen vorbeihuschen. Schnell noch mit ein paar Leuten sprechen, bevor es zum nächsten Stand nach Lichterfelde geht.
Es ist Samstag, der letzte Tag vor der Berliner Abgeordnetenhauswahl. Die meisten Passanten erledigen ihre Einkäufe, Richter-Kotowski hat dafür im Moment keine Zeit. Sie kämpft um jede Stimme im Endspurt, will die CDU abermals zur stärksten Fraktion in der Bezirksverordnetenversammlung machen und die Menschen auf der Straße überzeugen, dass es der Regierende SPD-Bürgermeister Michael Müller nicht kann. „Wir geben alles“, sagt sie, auch wenn sie weiß, dass es auf Landesebene nach einem klaren Sieg der SPD aussieht. Auf Bezirksebene hier in Steglitz-Zehlendorf ist die CDU Platzhirsch. Aber in Stein gemeißelt ist selbst hier nichts mehr.
Von den Piraten spricht keiner mehr
Die Sozialdemokraten sind ohnehin nicht mehr der alleinige Gegner der CDU-Politikerin. Schon vor fünf Jahren, bei der letzten Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus und zur Bezirksverordnetenversammlung, mischte eine damals noch frische politische Partei die Politik in Berlin und am westlichen Rand der Stadt kräftig auf: Die Piraten, Shootingstars der verkrusteten Hauptstadt-Politszene, konnten auf Anhieb Mandate erringen, auf Landesebene, aber auch drei in der Bezirksverordnetenversammlung. Doch von den Piraten spricht heute keiner mehr.
An die Stelle der Piraten – wenn auch von anderer politischer Richtung – ist die AfD gerückt, die nach allen Umfragen ziemlich sicher im nächsten Bezirksparlament und im Abgeordnetenhaus sitzen dürfte.
Steglitz-Zehlendorf ist ihre Hochburg im Westen Berlins, wie gemacht für das Profil der rechten Jungpartei: Die Einkommen sind zwar sehr unterschiedlich verteilt, unter dem Strich gehören die knapp 300.000 Einwohner aber zu den reichsten in Berlin. Sie haben etwas zu verlieren, sind ansprechbar für Themen wie Einbruchskriminalität und innere Sicherheit. Die Bewohner sind das, was man am ehesten als „gutbürgerlich“ bezeichnen könnte, interessiert an Sicherheit, Wohlstand und Ordnung, mehr als die Jungen und Kreativen, die es eher in die mittleren Kieze in Kreuzberg, Neukölln, Friedrichshain oder, wenn sie genügend Geld haben, nach Prenzlauer Berg zieht, wo die Stadt kosmopolitischer und weniger arriviert ist. Nicht das schlechteste Terrain also für die AfD, die sich Hoffnung auf einen Stadtratsposten macht.
Berlin-Lichterfelde, Bezirk Steglitz-Zehlendorf
Am Kranoldplatz, nur wenige Fußsekunden vom belebten S-Bahnhof Lichterfelde-Ost entfernt, schieben sich wie jeden Samstag die Bewohner über den Wochenmarkt. Auf dem engen Fußweg zwischen Straße und Geschäften reihen sich die Wahlkampfstände von CDU, SPD, Grüne aneinander, es werden Rosen verteilt und Aufkleber, Flyer und Infobroschüren. Die AfD hingegen muss man suchen: Ihr Stand steht an der gegenüberliegenden Seite des Platzes, abseits und direkt an einer vielbefahrenen Straße.
„Das ist genau der richtige Platz“, sagt Hans-Joachim Berg. „Jeder Autofahrer sieht unsere Fahne.“ Der großgewachsene und braungebrannte Mann, Jahrgang 1948, ist AfD-Bezirksvorsitzender in Steglitz-Zehlendorf, Landeswahlkampfleiter und – hinter Beatrix von Storch und dem Spitzenkandidaten Georg Pazderski – stellvertretender AfD-Vorsitzender in Berlin. Der Platz am Rande für die AfD, Berg hält das für eine gezielte Benachteiligung seiner Partei durch die städtische Verwaltung. Nachprüfen lässt sich das am Wochenende nicht.
„Kiezthemen spielen bei uns nur selten eine Rolle“
Schon im März hat er den Straßenwahlkampf eröffnet, noch vor den „Kartellparteien“, wie er die Parteien im Abgeordnetenhaus verächtlich nennt. „Am Anfang waren die Menschen auf der Straße zurückhaltend skeptisch“, sagt er, „aber das ist anders geworden. Wir bekommen mittlerweile viel Zustimmung, aber auch intensivere Ablehnung zu spüren.“ „Nazi“, „Menschenfeinde“, „Haut ab“ – solche Töne bekommen Berg und seine Mitstreiter häufig auf der Straße zu hören.
Der Ton ist deshalb rauher und die Polarisierung stärker geworden, weil die AfD größtenteils auf der Welle des Flüchtlingsthemas schwimmt – das sieht Berg zumindest so. „Bei uns spielen nur ganz selten wirkliche Kiezthemen eine Rolle“. Und wenn, so Berg, dann vor allem solche, die mit Flüchtlingen zu tun haben, etwa mit deren Unterbringung oder Integration. Berg spricht von „UAs“, von „unerwünschten Ausländern“, und es wird nicht ganz klar, nach welchen Kriterien er Ausländer in erwünscht und unerwünscht einteilt.
Ein Mitstreiter am Wahlkampfstand, der seinen Namen nicht in der Öffentlichkeit lesen will, wird deutlicher: „Ich habe Angst vor der Islamisierung.“ Der Mann ist um die 60 Jahre alt und war nach eigener Aussage niemals Mitglied einer Partei. Ein Nichtwähler. „Ich hätte niemals gedacht, dass mich die Umstände nochmal in die Arme einer Partei drängen würden“, sagt er. Die Einwanderungspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel sei eine Katastrophe. Er habe sich viel mit dem Islam beschäftigt – eine Gefahr für Deutschland, sagt er.
Überhaupt Merkel! Ein anderer Mann, im mittleren Alter, der seinen Namen ebenfalls nicht öffentlich lesen möchte, kommt hinzu. Er sei seit seinem 16. Lebensjahr CDU-Mitglied gewesen, aber vor vier, fünf Jahren ausgetreten. „Atom-Ausstieg, Abschaffung der Wehrpflicht, Einwanderungspolitik – das war nicht mehr meine CDU“, sagt er. Er kenne keinen in der AfD, der was gegen Homosexuelle habe, aber ihm lege die Politik der Kanzlerin zu wenig Wert auf traditionelle Familienwerte.
„Sie waren auch in der CDU“?
Der Bezirksvorsitzende sitzt schmunzelnd dabei, er bricht in Lachen aus: „Ich wusste gar nicht, dass Sie auch in der CDU waren.“ Berg hat einen ähnlichen Weg hinter sich: Er war nicht nur selbst Jahrzehnte CDU-Parteimitglied, er arbeitete knapp 40 Jahre in Bonn und später in Berlin für die Bundestagsverwaltung, ein paar Jahre davon nach seiner Aussage auch als persönlicher Referent des langjährigen Vorsitzenden der CDU-/CSU-Bundestagsfraktion, Alfred Dregger. Dregger ist bis heute – ohne dass sich der 2002 Verstorbene dagegen wehren könnte – für die Nationalkonservativen in der AfD so etwas wie Franz-Josef Strauß für die CSU: Vorbild und Nationalheiliger.
Für die CDU-Bastion Steglitz-Zehlendorf also wie bestellt: Berg möchte der CDU gerne weitere Wähler abspenstig machen und nicht nur bei den bisherigen Nichtwählern punkten: „Die AfD muss aufpassen, dass wir nicht nur Protestwählern ein Angebot machen.“ Ob das gelingt? Er ist skeptisch: „Es ist nicht so, dass hier permanent Unionsleute am Stand stehen. Die Parteibindung hier im Westen Berlins ist nach wie vor hoch.“
Berlin-Steglitz, Bezirk Steglitz-Zehlendorf
Cerstin Richter-Kotowski weiß das und gibt sich zumindest äußerlich und im Gespräch gelassen. Wir schaffen das, der Spruch gilt auch hier. Doch die erfahrene Kommunalpolitikerin, die 1979 in die CDU eingetreten und schon mit 23 Jahren Bezirksverordnete geworden war, gibt zu: „So viel Bundespolitik war noch nie im Wahlkampf.“ Sie wird von manchen als Vertreterin der „Merkel-Partei“ wahrgenommen, muss ihren Kopf hinhalten für eine in den Augen einiger völlig verfehlten Flüchtlingspolitik. Beschimpfungen am Wahlstand, das komme durchaus vor.
„In fünf Jahren hat sich die AfD entzaubert“
„Aber insgesamt ist die Stimmung im Wahlkampf gut“, sagt sie. Bezahlbarer Wohnraum, sanierungsbedürftige Schulen, kaputtreparierte Straßen – Berlin habe genügend Probleme, über die die Menschen mit ihr sprechen wollten, die Flüchtlings- und Integrationspolitik sei da nur ein Thema unter vielen. Außerdem habe sie die Erfahrung gemacht, dass die Menschen häufig verständnisvoller reagierten, wenn man ihnen Politik konkret erkläre.
Dann legt sie los: Wenn beispielsweise wieder jemand komme und sich über die langen Wartezeiten bei den Bürgerämtern beschwere – ein großes Aufregerthema im Berliner Wahlkampf-, dann „erkläre ich, dass wir acht befristete zusätzliche Stelle vom Senat bekommen haben, die wir entfristet haben, und zudem haben wir noch vier weitere Stellen eingerichtet“. Die müssten eingearbeitet werden, klar, zudem habe die langwährende Überlastung des Personals einen hohen Krankenstand verursacht. Die Botschaft ist klar: Wir kümmern uns, wir tun was.
Mit dem Klein-Klein der konkreten Kommunalpolitik will Richter-Kotowski der Oppositionspartei AfD mit ihrem Bundesgroßthema Flüchtlinge etwas Wirksames entgegensetzen. Und sie glaubt fest an den Erfolg dieser Taktik: „Das dauert fünf Jahre“, sagt sie, „dann hat sich die AfD entzaubert. So wie die Republikaner, die auch mal in der Bezirksverordnetenversammlung saßen.“
Berlin-Marzahn, Bezirk Marzahn-Hellersdorf
Ans andere Ende der Stadt, zu Berlins östlichem Rand, ein andere Welt als Steglitz-Zehlendorf: Hier im Bezirk Marzahn-Hellersdorf leben knapp 260.000 Menschen, es gibt Eigenheimsiedlungen, aber auch viele Großsiedlungen im DDR-Plattenbau-Stil. Der Wohnraum ist vergleichsweise günstig, die sozialen Probleme in einigen Kiezen groß, auch wenn es andernorts besser geworden ist. Was in Steglitz-Zehlendorf die CDU, ist hier die Linke: Volkspartei. Sie stellt die größte Fraktion in der Bezirksverordnetenversammlung, die Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau hat hier ihren Wahlkreis, und sie gewinnt ihn seit Jahren direkt.
Die Linke-Bezirksstadträtin Dagmar Pohle steht am Helene-Weigel-Platz, einem wenig schmucken Platz inmitten der monströsen Wohnquartiere in Marzahn. Es ist der Wahlkampfabschluss der Linkspartei in Marzahn-Hellersdorf, die Band hat gerade aufgehört zu spielen, und Petra Pau setzt zu ihrer kurzen Rede auf der kleinen Bühne an. Der Platz ist mäßig gefüllt. „Gehen wir da vorne hin, wo es ruhiger ist“, sagt Pohle lachen. „Ich weiß ja schon ungefähr, was sie erzählt“.
„Flüchtlingsthema ist Merkel-Thema“
Pohle, 63, zu DDR-Zeiten SED-Mitglied, war nach der Wende einige Jahre im Abgeordnetenhaus, und fungiert nun als Linke-Bezirksstadträtin und stellvertretende Bezirksbürgermeisterin. „Die Bundespolitik ist hier im Wahlkampf immer präsent“, sagt sie. „Vor allem das Flüchtlingsthema als Merkel-Thema. Leider. Als könne man das nur auf die Kanzlerin als Person beziehen.“ Sie findet, das Thema werde medial zu sehr auf Merkel hingeschrieben, und sie findet es kritisch, dass ihre Bundestagsfraktionschefin Sahra Wagenknecht gerne gegen Merkel schieße, aber zu wenig über die kommunale Dimension des Themas spreche.
Gegenwärtig gibt es acht Unterkünfte, davon zwei Gemeinschafts- und sechs Notunterkünfte in Marzahn-Hellersdorf. Wohncontainer sollen hinzukommen. Das Thema sorgt für Aufregung in Teilen der Bevölkerung, Überfremdungsängste sind hier keine Seltenheit, obwohl der Ausländeranteil im Bezirk im Vergleich zu anderen Bezirken eher gering ist. Oder entsteht die Angst hier aus Unwissenheit und mangelnder Erfahrung mit Ausländern?
Im Bezirk leben viele Russlanddeutsche, die die AfD als potentielle Wählergruppe erkannt hat: Ihr Wahlprogramm ist hier auf Russisch erhältlich. Aber nicht nur deshalb könnte die Partei hier mit der Linkspartei um den Wahlsieg konkurrieren. Wenn es ihr gelingt, die Unzufriedenen einzusammeln, wäre ein Stadtratsposten drin. Die Sorgen vor Konkurrenz auf dem Wohn- oder Arbeitsmarkt durch Flüchtlinge könnten ehemalige Linke-Wähler oder Nichtwähler in die Arme der AfD treiben. Dann geht es erstmals ums Mitregieren.
Dagmar Pohle rechnet damit: „Ich glaube, dass die Taktik der AfD hier im Bezirk durchaus verfängt.“ Ähnlich wie Richter-Kotowski am anderen Ende der Stadt versucht sie, der AfD durch Erklären und Argumente das Wasser abzugraben. Sie erklärt Bürgern, dass die Flüchtlinge zumindest derzeit noch keine Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt sein können, weil die Asyl-Verfahren noch laufen. Sie lädt zu Informationsveranstaltungen ein, erklärt an diesem Wahlkampfabschlusstag Bürgern, was der Bezirk mit den Flüchtlingen vor hat. „Das Problem ist dieses Angstschüren“, sagt sie, und „dass sich alles auf Merkel fokussiert, dabei ist die Flüchtlingspolitik eben auch eine ganz konkrete vor-Ort-Politik.“
Berlin-Lichterfelde, Bezirk Steglitz-Zehlendorf
Bleibt die Frage, ob sich die starken „etablierten“ Parteien – im Westen die CDU und SPD, im Osten die Linke und die SPD – auf diese Art erfolgreich gegen die Oppositionspartei AfD behaupten können am heutigen Wahlsonntag. Die Grünen mit ihrer Bastion in der hippen jungen und internationalen Mitte Berlins dürften vergleichsweise unbehelligt davonkommen.
Ob es ausreicht, den Bürgern Politik zu erklären, um sie für die eigene Partei zu gewinnen? Kann die Taktik der etablierten und erfahrenen Kommunalpolitiker im Kampf gegen die erstarkende AfD funktionieren? Oder ist das vergebene Liebesmühe, weil eine Protest- und Oppositionspartei wie die AfD davon lebt, die eher diffusen Gefühle von Wählern einzusammeln und ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen? Ist nicht etwas dran an dem Spruch, den der ehemalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber gesagt haben soll – in der Politik seien Gefühle Fakten? Dann dürfte es schwer werden, die AfD einzuhegen.
Hans-Joachim Berg, AfD-Politiker aus Steglitz-Zehlendorf, macht keinen Hehl daraus, dass ihm vor allem die großen Bundesthemen Flüchtlinge und Islam die Wähler verschaffen könnten. Und eine diffuse Veränderung der Gesellschaft, hervorgerufen durch einen wie immer gearteten rot-grün geprägten liberalen Mainstream in Politik und Medien. Warum man nicht mehr „Neger“ sagen dürfe, beschwert er sich zum Beispiel, er habe das doch immer gesagt. Da sei die Folge einer Sprachdiktatur, auch wenn er bei diesem Thema mit seinen beiden Kindern, die internationalistischer aufgewachsen seien, in Streit gerate, wie er sagt. Sie sähen solche Themen manchmal nicht.
Bleibt die Frage, ob solche diffusen Gefühle der Marginalisierung ein drängendes politisches Thema für potentielle AfD-Wähler am heutigen Tage sind. Am Sonntagabend werden wir es wissen. Berg jedenfalls hat sich vorgenommen, sich das Wahlergebnis am Abend nicht schlechtreden zu reden: Alles über zehn Prozent aus dem Stand sei doch „historisch“.