Erschienen bei FAZ.NET (02.03.2017)
Von Martin Benninghoff
Will, Plasberg, Maischberger, Illner: Politische Talkshows im Fernsehen sind umstritten. Dabei kann das Format mehr als unterhaltend sein, es kann nützlich und erkenntnisfördernd sein. Oder einfach nur schädlich.
Eigentlich ist die Wahl Donald Trumps wie gemacht wie für eine politische Talkshow im Fernsehen. So aggressiv, so furchterregend und zugleich unterhaltsam dürfte noch kein amerikanischer Präsident aufgetreten sein. Die deutschen Polit-Talkrunden im öffentlich-rechtlichen Fernsehen setzen deshalb häufig auf den Trump-Faktor, was nicht ganz leicht ist: Offenbar finden sich nur wenige Trump-Jünger, die den Chef im Weißen Haus im Fernsehstudio verteidigen wollen. Einigkeit in der Runde kann aber für eine Sendung dieses Formats schwierig sein. Die politischen Talkshows leben von Kontroversen und manchmal zugespitzten Titeln. Den quotenträchtigsten Sendeplatz hat „Anne Will“ am Sonntagabend mit rund drei bis fünf Millionen Zuschauer, je nach Attraktivität des Themas, den Gästen und Vorlauf im Programm. Dahinter folgen die Sendungen auf den vergleichsweise schwächeren Plätzen – „Maischberger“, „Maybrit Illner“, „Hart aber fair“ –, die aber in erstaunlicher Konstanz ebenfalls ein Millionenpublikum erreichen. Die ZDF-Moderatorin Maybrit Illner ist sogar schon rund 17 Jahre auf dem Sender.
So beliebt sie sind, so umstritten sind politische Talks. Die Kritik entzündet sich meist nicht am Thema der Sendung, sondern an der Konzeption: Darf man die einladen, die Islamistin, den Rechtspopulisten, den propagandistischen Putin-Freund? Waren deren Redeanteile halbwegs ausgeglichen, die Moderatorin neutral und die Gästeauswahl fair? Oder war die Sendung kaum mehr als eine gebührenfinanzierte Schauveranstaltung, um Muslime, Putin oder eben Trump abzuwatschen? Zwar unterhaltsam, aber ansonsten ärgerlich?
Puppentheater mit verteilten Rollen?
So viel vorweg: Es gibt keine eindeutigen Belege, wie wirksam oder bedeutend Talkshows in der Politik sind. Einst bescheinigte der CDU-Politiker Friedrich Merz der Sendung „Sabine Christiansen“ einen größeren Einfluss auf die politische Agenda als die Reden im Bundestag. Das war 2003. Für den Politik-Berater Michael Spreng, selbst ein häufiger Talkshowgast (in 2015 vier Auftritte), klingt das auch heute plausibel: „Talks sind ein Ort der kontroversen Debatte“, sagt er. „Wer verfolgt schon den Bundestag?“ Für den Medienforscher Bernd Gäbler, der 2011 im Auftrag der Otto-Brenner-Stiftung eine Studie über Talkshows erarbeitet hat, sind die Sendungen eher Beispiele für „die nach wie vor bestehende Differenz zwischen Darstellungs- und Entscheidungs-Politik“. Ist Talk also vor allem Show, ein Puppentheater mit festen Rollen oder auch „scripted reality“, wie es in Gäblers Studie heißt?
Es ist plausibel, dass dieses Format Wirkungen auf die politischen Debatten im Land ausübt – abseits der reinen Unterhaltung seiner Zuschauer. Es kann interessante Einblicke in bestimmte gesellschaftliche Gruppen ermöglichen, oder es kann vorhandene Klischees verstärken und Sündenböcke ausmachen. Es kann politische Tabu-Grenzen in sinnvoller Weise verschieben helfen, oder es kann extremistische Positionen salonfähig machen. Es kann richtige Informationen liefern oder falsche Tatsachenbehauptungen verbreiten. All das ist möglich – das ist Teil der Gratwanderung Talkshow.
Talkshow-Themen haben Konjunkturen, und spätestens mit dem Aufkommen der Flüchtlingskrise sind Islam und Islamismus Talkshow-Dauerbrenner. Den meisten älteren Zuschauern (das Durchschnittsalter liegt, je nach Sendung, bei 60 bis 65 Jahren) sind die Lebenswelten muslimischer Einwanderer eher fremd, Talkshows könnten hier interessante Einblicke bieten und Gespräche zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen öffentlich organisieren.
Die ARD-Talkmoderatorin Sandra Maischberger hat das in einer ihrer Sendungen im vergangenen Jahr versucht: Sie ließ statt der gewohnten Verbands- und Politikvertreter mehrheitlich nicht prominente Muslime und Nicht-Muslime über den Islam diskutieren und bot damit Einblicke in die gesellschaftlichen Debattengräben dieses brisanten Themas. Dabei verzichtete die Redaktion auf extreme Vertreter, die sich unversöhnlich bekämpfen, sie hatte weder einen Rechtspopulisten noch eine vollverschleierte Islamistin eingeladen. Anders die Moderatorin Anne Will in ihrem gleichnamigen Talk: Die Redaktion lud 2016 die vollverschleierte Schweizer Islamistin und Konvertitin Nora Illi ein. Im Gespräch verteidigte diese ihre orthodox-fundamentalistische Islam-Interpretation und behauptete, der Niqab, also die Vollverschleierung, biete ihr als Frau „Selbstbestimmung und Freiheit“. Die Sendung wurde von der Politik und vielen Zuschauern harsch kritisiert, manche sahen darin gar Propaganda für den „Islamischen Staat“, und das zur besten Sendezeit am Sonntagabend.
Freak-Show mit schrägen Vögeln
Doch ganz so einfach ist es nicht: In der Talk-Runde saß auch der Psychologe und Autor Ahmad Mansour, selbst ein Muslim, der Illi gemeinsam mit dem Talkshowdauergast Wolfgang Bosbach (CDU) vehement widersprach. Ein durchaus interessanter Schlagabtausch mit Einblicken in die innerislamische Debatte zwischen liberalem und fundamentalistischem Islam. Doch alleine das extreme Erscheinungsbild der vollverschleierten Frau drückte der Sendung einen unguten Stempel auf: Was beim Zuschauer letztlich hängengeblieben sein dürfte, ist ein einseitig-verzerrtes und fundamentalistisches Islambild, repräsentiert durch eine randständige Vertreterin der Religion, einer Fundamentalistin. Eine Freak-Show mit einem „schrägen Vogel“, wie Medienforscher Gäbler sagt, mit dem sich die anderen Gäste balgen.
Dabei hatte die Redaktion von „Anne Will“ ihre Hausaufgaben gemacht und der Schweizer Konvertitin starke Debattengegner in die Runde gesetzt – und zugleich viel Glück gehabt: Mansour bliebt standhaft an dem Abend, er war gut aufgelegt und ein verlässlicher Pol im Pro- und Kontrasetting der Sendung. Wäre er als Ankergast ausgefallen, was in der Livesituation einer Sendung immer passieren kann, wäre die Runde möglicherweise in absolute Einseitigkeit gekippt. Wie es dem Moderator Günther Jauch, Wills Vorgänger auf dem Sendeplatz am Sonntagabend, 2014 beim selben Thema ergangen war. Damals war der islamische Prediger Abdul Adhim Kamouss („Quassel-Imam“) eingeladen, der zu dem Zeitpunkt nur wenigen bekannt und vor allem bei jungen Muslimen ein Star im Netz gewesen war. Sein Redeanteil geriet zu groß, mit immer lauterer Stimme und ausladenden Gesten kaperte er, der sich als Muslim offenbar in die Ecke gedrängt fühlte, die Sendung.
Der als Widerpart eingeladene Heinz Buschkowsky, damaliger Bezirksbürgermeister in Berlin-Neukölln, fiel als starker Debattenkontrahent weitgehend aus. Die Sendung geriet zur Kamouss-Show und teilweise zur befürchteten Propaganda-Plattform – obwohl die Redaktion Kontrahenten in die Runde gesetzt hatte (Wolfgang Bosbach war auch hier dabei, er ist einer der meist eingeladenen Talkgäste der vergangenen Jahre).
Verschobene Tabugrenzen oder verstärkte Ressentiments
Ein Problem, das keineswegs nur dem Islamismus-Thema vorbehalten ist. Der Umgang mit Rechtspopulisten ist genauso kompliziert, wie die AfD zeigt: Noch bis vor wenigen Jahren taten sich die Talkshowredaktionen schwer, einen vergleichsweise moderaten Politiker wie den AfD-Gründer Bernd Lucke einzuladen. Noch am Abend der Bundestagswahl 2013 durfte der sich bei Jauch nicht in die Hauptrunde setzen, sondern musste mit dem Publikumsraum und einem Kurzinterview Vorlieb nehmen – seine Partei war knapp an der Fünfprozenthürde gescheitert. Zu groß war die Sorge, die schon damals umstrittene Partei und ihren Chef aufzuwerten und durch einen Fernsehauftritt zu adeln.
Längst sind solche Berührungsängste passé. Heute sitzen wesentlich radikalere AfD-Politiker wie Beatrix von Storch, Frauke Petry und Alexander Gauland (alle jeweils fünf Mal in 2016) in den Talkstudios, nicht nur, weil die Talkshowredaktionen, sondern Politik und Medien insgesamt erkannt haben: Die Strategie, die AfD kleinzuhalten, indem man sie totschweigt und ignoriert, ist gescheitert. Im Gegenteil, die Partei konnte in ihrer Paria-Zeit den Mythos kreieren, eine Art Anti-Establishment-Kraft zu sein, die von den „etablierten“ Parteien und Medien geschnitten würde. Das machte sie zum Opfer, zum Außenseiter – und damit interessant. Seit sich AfD-Politiker auf Augenhöhe mit den Politikern anderer Parteien in den Talkarenen (und den Print- und Onlinemedien) streiten, ist die Partei „gewöhnlich“ geworden. Talks haben ihren Anteil daran, dass sich ihr Paria-Mythos abgenutzt hat – allerdings auch dafür gesorgt, dass die AfD heute wesentlich bekannter ist als noch vor zwei, drei Jahren.
Talkshows helfen bei der Standortbestimmung, ziehen politische Grenzen und verändern Tabus. Darf ein Politiker etwa von „Lawine“ sprechen, wenn er eigentlich Flüchtlinge, also Menschen, meint? Darf ein CDU-Politiker Dinge sagen, für die ein AfD-Politiker öffentlich gescholten würde? Steckt in einer neuen Partei wirklich ein gemäßigt-bürgerlicher Kern, wie der Vorsitzende stets beteuert, oder bestimmen die Agenda längst die Radikalen des Rechtsaußen-Flügels?
Höckes Moment der Selbstentlarvung bei Jauch
Der skurrile Auftritt von Björn Höcke bei „Günther Jauch“ im Oktober 2015 war ein Moment der Selbstentlarvung. Der Thüringer AfD-Politiker des rechten Parteiflügels, den die Parteivorsitzende Frauke Petry wegen dessen Äußerungen zum Berliner Holocaust-Mahnmal am liebsten loswerden würde, entrollte ein Deutschland-Fähnchen im Studio und überdrehte im Interview derart, dass sich die Petry damals schon von dessen Auftreten distanzierte.
Für Michael Spreng war es dennoch ein Fehler, jemanden wie Höcke einzuladen: Der Politik-Berater zieht eine Grenze zwischen rechtskonservativen Politikern wie Alexander Gauland, deren Ansichten „gesellschaftliche Realität“ seien, mit denen man sich argumentativ auseinandersetzen müsse, und Leuten wie Höcke, denen es einzig und allein um das Ressentiment gegen Ausländer und „Sündenböcke“ gehe. Bei solchen Grenzziehungen kann eine Talkshow durchaus hilfreich sein – allerdings zu dem Preis, dass sie einen radikalen Politiker wie Höcke einem Millionenpublikum bekannt macht. Die Frage bleibt unbeantwortet, ob dieser Preis nicht zu hoch ist. Für Spreng ist die Antwort klar: „Das sollte man besser sein lassen.“
Talks können Informationen liefern – oder Lügen verbreiten
Bei Gästen wie Höcke oder gar Ivan Rodionov, der während der Krim-Krise als Chef von „RT Deutsch“ die Sicht des Kremls und Wladimir Putins in die deutschen Talkstudios brachte, dürfte den meisten Zuschauern klar sein, dass sie knallharte Propagandisten ihrer eigenen Sache sind. Nur: Wie ist das bei Gästen, die durch ihr Amt oder ihre Partei weniger exponiert sind? Sylke Tempel, Chefredakteurin der Zeitschrift „Internationale Politik“, kritisierte vor einiger Zeit, dass sich Propagandisten in Talkshows als „Experten“ tarnen dürften – ihre Beispiele: Harald Kujat, ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr, und der frühere CDU-Bundestagsabgeordnete und Publizist Jürgen Todenhöfer. Für Michael Spreng ist das ein Missverständnis: „Auch ein Mann wie der bayerische Finanzminister Markus Söder ist nicht interessiert, eine echte Diskussion einzugehen“, sagt er. „Er will seine Statements setzen.“ Den Zuschauern müsse deshalb klar sein: „Die meisten Talkgäste sind ausschließlich Vertreter der eigenen Sache.“ Deswegen sei es notwendig, parteipolitisch unabhängige Journalisten einzuladen, die der Runde mehr Neutralität verliehen.
Der Medienforscher Bernd Gäbler zweifelt an echtem Expertentum in Talkshows: „Ein tatsächlicher Experte verkörpert eher Tugenden, die in der Talkshow hinderlich sind“, sagt er. „Er ist nicht jedermann bekannt, er schätzt empirische Belege, benutzt Nebensätze, drückt sich kompliziert aus, lässt Einwände gelten, kennt den Zweifel, revidiert vielleicht sogar gefällte Urteile.“ Frei nach dem verstorbenen Publizisten Roger Willemsen, der einmal rhetorisch gefragt haben soll: „Haben Sie schon mal erlebt, dass jemand in der Talkshow seine Meinung geändert hat?“ Tatsächlich sitzen solche Experten eher seltener in den Talkrunden, die auf Kontroverse und Zuspitzung ausgelegt sind und nur selten auf Abwägung. In 2016 waren Sahra Wagenknecht (Linke) und Markus Söder (CSU) mit neun beziehungsweise acht Auftritten die Spitzenreiter in den Talksendungen von ARD und ZDF – beide beherrschen das Spiel aus selbstbewusster Zuspitzung und Lust an der Provokation perfekt.
Umstrittene Solo-Auftritte von Spitzenpolitikern
Dennoch gibt es erklärende und sachliche Anteile: „Hart aber fair“ bietet beispielsweise einen „Faktencheck“ auf seiner Homepage an, um unbewiesene Behauptungen aus der Sendung nachträglich zu bestätigen oder als Falschaussagen zu entlarven. Die Redaktionen der Talksendungen bemühen sich zudem, während der Sendung strittige Fragen zu recherchieren und die Ergebnisse dem Moderator ins Studio zu reichen. In einer perfekten Talkshowwelt können Einspielfilme die sachlichen Hintergründe liefern und falsche Aussagen oder gar Lügen aufdecken. Wahr ist auch: Das gelingt nicht immer.
Das ist vor allem dann schwierig, wenn die Redaktionen einen besonders hochrangigen Gast zum Einzelgespräch laden (weil dieser sich einer Debatte mit mehreren Gästen verweigert). Wiederholt ging Bundeskanzlerin Angela Merkel zu „Anne Will“, um ihre Flüchtlingspolitik und ihre politische Zukunft im Kanzleramt zu erklären. Eine „win-win-Situation“, sagt Medienforscher Gäbler. „Merkel hat ein Forum gefunden, in dem sie sich direkt und ungestört an das Volk wenden kann, ohne journalistische Instanzen zu umgehen. Und Anne Will hat sich einen Sonderstatus erarbeitet, ohne allzu offensichtlich journalistische Standards zu verraten.“ Das Kalkül beider ist klar: Die Kanzlerin geht nur in eine solche Sendung, wenn sie recht sicher sein kann, eine überzeugende Figur abzugeben. Ein zu kontrovers-kritisches Interview könnte Will um den nächsten Merkel-Auftritt bringen – und damit um die gute Quote und Reputation als wichtigster politischer Talk im Fernsehen. Für Gäbler haben solche Runden – zuletzt auch mit dem SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz bei „Anne Will“ – den „Hauch des Höfischen“. Statt solcher Runden plädiert er für neue Formen: „mehr konkrete Themen, Jugendforen, entscheidungsnahe Diskurse, unorthodoxe Konstellationen oder sogar open-end-Debatten“. Das würde die „Bedeutung des Fernsehens für die politische Willensbildung unterstreichen“. Bleibt nur die Frage: Wie viele Zuschauer würden da einschalten?