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Herr Stader will endlich Berufspolitiker werden

Feature erschienen bei FAZ.NET (09.03.2017)

Von Martin Benninghoff, Wittenberg

Politiker haben kein gutes Image. Stefan Stader will trotzdem in den Bundestag, nachdem er lange anderen Politikern zugearbeitet hat. Wie will er das schaffen – und: Warum tut er sich das an, erst recht in einer AfD-Hochburg?

Mehr als 40 Jahre hat Stefan Stader für andere Politiker geackert. Er hat sich die Beine an Wahlkampfständen in den Bauch gestanden, bei Wind und Regen Plakate an lauten Ausfallstraßen geklebt, hat Kneipenbesuche organisiert und ist durch Wohngebiete gezogen, um Wahlkampfzeitungen in Briefkästen zu stopfen, hat an Samstagen schüchternen Kandidaten beigebracht, wie sie beherzt mit einer Blume und einem Flyer in der Hand auf mögliche Wähler zugehen. Alles für den Erfolg der Kandidaten und der Partei. Er selbst blieb stets im Hintergrund. Loyale Zuarbeit, die ihm gedankt wird? Stader sagt nicht viel dazu, nur: „Ich werde in diesem Jahr 60, und jetzt will ich es selbst wissen.“

Im September 2017 ist Bundestagswahl, und Stader tritt zum ersten Mal in seinem Leben selbst an – als Direktkandidat der SPD in Sachsen-Anhalt. Das Bundesland ist für seine Partei derzeit schwieriges Pflaster, sein Wahlkreis Dessau-Wittenberg ist da keine Ausnahme: Bei der letzten Landtagswahl schafften die Sozialdemokraten nur knapp ein zweistelliges Ergebnis, ein Desaster. Die AfD kam aus dem Stand auf mehr als 23 Prozent und holte etliche Direktmandate – auch auf Kosten der SPD.

Politiker haben einen schlechten Ruf

Ein Grund: Politiker, sofern sie zum „Establishment“ zählen, haben einen schlechten Ruf. Manche werden beschimpft, andere sogar körperlich angegriffen. In Sachsen-Anhalt sind für 2016 57 Fälle bekannt, bei denen Politiker oder deren Mitarbeiter bedroht oder attackiert wurden, beschädigte Wahlkreisbüros nicht eingerechnet. Umfragen zeigen, dass das Image von Bundespolitikern meist noch negativer ausfällt als das lokaler Amts- und Mandatsträger. Wer will sich das freiwillig antun? Den Stress, den Ärger und die Kosten für den Wahlkampf? Und dann für eine Partei, die in Sachsen-Anhalt trotz Schulz kaum ein Bein auf den Boden bekommt? Wer hier antritt, mag das Risiko, hat nichts zu verlieren, hätte woanders keine Chance bekommen – oder folgt ganz anderen Motiven.

Bei Stader dürfte alles anteilig zutreffen. Seine Biografie wirkt sehr sozialdemokratisch, aber auf den ersten Blick ist sie nicht gerade geeignet für diesen Landstrich. Aufgewachsen ist er in Mönchengladbach. Nach dem Hauptschulabschluss, einer Lehre als Elektroinstallateur und nachgeholtem Abitur studierte er in Bonn Katholische Theologie, ohne Abschluss. Für die evangelische Hochburg Wittenberg, Ausgangsort der Reformation, eine illustre Mischung. „Meine Herkunft aus dem Westen hat mir hier nicht geschadet“, sagt Stader, der sich bei der Kandidatenkür gegen einen Bewerber aus der Region durchsetzte. Dass er kein Einheimischer ist, spielt aber dennoch eine Rolle im Wahlkampf.

Der Politikerjob kann auch Anerkennung bringen

Stader hat sich Urlaub genommen. Er arbeitet als Büroleiter eines Bundestagsabgeordneten in Berlin. Seit 2002 macht er den Job, der nicht einfach ist: Erfolge werden meist dem Mandatsträger zugerechnet, Misserfolge den Angestellten. Sonderurlaub bekommt er nicht. Der Wahlkampf findet in seiner Freizeit statt, die Fahrten mit dem Zug zwischen seinem Berliner Heimatkiez Wilmersdorf und dem Wahlkreis bezahlt er aus eigener Tasche. Kosten und Nutzen rechnet er aber nicht auf. Nach Jahren der treuen Zuarbeit in einem Bundestagsbüro hofft er auf eine andere Währung – auf Anerkennung. Er will endlich sichtbar sein.

Sein Wahlkampf beginnt an diesem Tag im Nachbarschaftstreff Wittenberg. Am Eingang parken Rollatoren, langsam füllt sich der Raum mit Frauen jenseits der 75, die zum Brettspielen und Klönen kommen, nur ein Mann hockt zwischendrin. Der Kaffee duftet, ein Praktikant hat Kuchen gebacken. Birgit Maßny, die Leiterin des Treffs, nimmt sich Zeit für Stader, er ist nicht der erste Direktkandidat einer Partei, der vorbeikommt. Als Stader erzählt, dass er schon als Student in Bonn Obdachlosenfrühstücke mitorganisiert habe, horcht sie auf und fragt, wie es ihn da nach Wittenberg verschlagen habe. Bonn, die ehemalige Hauptstadt, das klingt weit weg.

Auf die Frage ist er vorbereitet. Routiniert erzählt er die Geschichte, die er an diesem Wahlkampftag mehrmals erzählen wird: Dass er seit 2001 in Berlin lebe, und als Berliner wolle man in seiner Freizeit ja gelegentlich aus der lauten Stadt ins Grüne, und was liege da näher als das wunderschöne Wittenberg, gerade einmal eine Autostunde von Berlin entfernt, mit der sanierten Altstadt und der schönen Natur? Die Einrichtungsleiterin lächelt, das Thema Herkunft ist schnell abgehakt, ob er sich nicht kurz den Leutchen vorstellen wolle?

„Nicht mit großen Themen punkten“

In der Zwischenzeit ist der Kuchen verteilt, der Begleiter aus dem Ortsverein hat kräftig mitgeholfen. Stader ruft in den Raum, er wolle die Menschen im Bundestag „politisch betreuen“, wenn sie ihn wählten. Die älteren Damen schauen noch etwas ratlos drein, bis sich herumgesprochen hat, dass der Mann Bundestagsabgeordneter für die SPD werden will. Stimmung kommt erst auf, als Stader sagt: „Hätte ich das gewusst, hätte ich Kuchen mitgebracht. Ich backe nämlich gerne.“ Die Damen applaudieren, ein paar johlen wie in der Südkurve. Zur Singstunde wolle er demnächst auch vorbeischauen, verspricht er. Nur eine Frau wird sich wenig später für seine Partei interessieren. Sie findet es gut, dass Martin Schulz Kanzlerkandidat der SPD werden soll und nicht Sigmar Gabriel.

Stader überrascht nicht, dass vor allem sein Kuchen-Versprechen gut ankommt: „Es geht ja nicht darum, mit großen politischen Themen zu punkten“, sagt er später im Taxi. „Die Menschen sollen mich kennenlernen und hoffentlich sympathisch finden. Ich halte deshalb keine großen Referate.“ Er ist zufrieden mit sich und mit dem Termin: „Das war erfolgreich.“ Ein Auftakt zum Kennenlernen von potentiellen Wählern und von Multiplikatoren wie der Leiterin der sozialen Einrichtung. Während „die große Politik“ über den Einsatz umstrittener Bots im Wahlkampf debattiert, nutzt Stader – mit Ausnahme seiner Facebookseite und Twitter – kaum digitale Werkzeuge. Er setzt ganz auf traditionelle Wähleransprache: Gespräche, Stammtische, Wahlkampfstände und, wenn es sich eben anbietet, auf gebackene Argumente.

Schwieriger Wahlkampf in AfD-Hochburg

Reicht das angesichts der AfD-Erfolge in Sachsen-Anhalt? Die Partei unter Landeschef André Poggenburg nutzt virtuos das Netz und setzt dabei voll auf die großen bundespolitischen Kontroversen – Sicherheit, Asylpolitik, Europa, Islam –, ohne viel Rücksicht auf lokale Besonderheiten zu nehmen. Ein Mann wie Stader muss dagegen einen wahren Spagat hinlegen – die wichtigsten Großthemen muss er abrufen können, Rente, Arbeitsmarkt, Populismus, Brexit, Trump, und wie sie alle heißen; aber auch das Parkplatzproblem um die Ecke.

Wenigstens das Thema Sicherheit, das CDU und AfD gerne für sich reklamieren, kommt dann doch noch auf den Kaffeetisch beim Nachmittagstreff. Eine Frau beklagt sich über ihr zunehmendes Unsicherheitsgefühl auf der Straße, spricht über Einbrüche und Überfälle. Stader hört geduldig zu, wiegt den Kopf, nickt. Später wird er sagen, dass er an diesem Punkt des Gesprächs ein Grundsatzreferat hätte halten können über die geringe Wahrscheinlichkeit, in Wittenberg Opfer eines Raubüberfalls zu werden. Oder darüber, dass es wahrscheinlicher sei, sich bei Glatteis auf dem Bürgersteig den Hals zu brechen. „Aber das bringt nichts“, sagt Stader. „Es mag sein, dass dieses Unsicherheitsgefühl ‚postfaktisch‘ ist und einer Überprüfung nicht standhält. Andererseits: Das Gefühl ist da, und damit ist es Realität für diese Menschen.“

Ein Patentrezept für mehr Sicherheit habe er nicht, und er finde es sehr unsinnig, wenn Politiker glaubten, alles zu wissen, beruhigt er die Frau. Dann erzählt er, dass er selbst vor einigen Jahren gleich zwei Mal Opfer brutaler Raubüberfälle geworden sei, und zwar in seinem früheren Berliner Wohnort, Neukölln. Er sei jeweils von einer Gruppe junger Männer zusammengeschlagen, auf dem Boden festgehalten und ausgeraubt worden. „Danach hatte ich längere Zeit Angst auf der Straße – und bis heute bin ich vorsichtig, zum Beispiel auf Bahnsteigen.“ Die Frauen am Tisch nicken, sie fühlen sich verstanden. Trotzdem, das ist Stader wichtig zu betonen, habe er gerne in Neukölln gelebt. Stader liebt die persönliche Anekdote. „Deswegen mache ich Politik, ich mache gerne etwas mit Menschen.“

Auch mit AfD-Wählern? Ein Kneipenwirt hat Stader auf seiner Tour auf einen AfD-Stammtisch aufmerksam gemacht. Stader stellt sich vor und steigt gleich ein in die Diskussion. Schnell ist klar, beim Thema Flüchtlinge gehen die Meinungen so weit auseinander, das hat keinen Zweck. Anders sieht es bei der Sozialpolitik aus, beim Thema Rente. Stader versucht es mit dem Hinweis auf das AfD-Programm, „das nicht gerade für kleinen Leute gemacht ist“, wie er sagt. „Da seid ihr bei uns besser aufgehoben.“ Immerhin, es entwickelt sich das zarte Pflänzchen eines Gesprächs. „Man kann mit ihnen ja reden. Ich halte das für falsch, solche Leute als ‚Pack’ zu beschimpfen“, sagt Stader später – eine Anspielung auf Noch-SPD-Chef Sigmar Gabriel, der das Wort einmal verwendet hat.

Stader schränkt aber auch ein: „Mit manchen kann man nicht mehr sprechen.“ Dafür verschwende er keine Zeit. Der Wind im Wahlkampf sei rauher geworden, der Ton schärfer und die Polarisierung stärker seit den Tagen, als er als Student für die Bonner Juso-Hochschulgruppe Wahlkampfstände auf der Straße organisierte. Der Fall der Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker, die 2015, kurz vor ihrer Wahl, beim Straßenwahlkampf fast getötet worden wäre, liegt ihm schwer im Magen. „Davor habe ich auch Angst“, sagt er. „Aber man kann sich gegen so was nicht schützen. Nur wachsamer sein.“

Stader sucht aber geradezu den Kontakt zu denen, die von seiner Partei oder Politikern insgesamt nichts hören wollen, die vielleicht sogar aggressiv auf Politiker reagieren. Schon vor Jahren habe es welche gegeben, sagt Stader, die ohne Vorwarnung einen Wahlkampfstand umgeworfen oder Plakate abgerissen hätten. Er habe das selbst erlebt. Es sei deshalb besser, sich eine Woche mit einem Stand auf die Einkaufsmeile zu stellen als nur einmal am Samstag vor den Supermarkt. „Am zweiten oder dritten Tag bin ich mit den Leuten ins Gespräch gekommen, die täglich von der Arbeit nach Hause da vorbeigekommen sind“, erzählt er. „Da haben sich richtig gute Gespräche entwickelt.“

Die AfD punktet mit Selbstläuferthemen

Warum wird Politikern wie ihm trotzdem der Vorwurf gemacht, er wisse doch gar nicht, wie es dem Volk gehe? Warum nicht der AfD, die gar nicht vorkommt im Alltag der Leute? Stader behilft sich mit der Erklärung, dass deren Themen einfach Selbstläufer seien, die sich hervorragend im Netz transportieren lassen. Und dass es so sei, habe natürlich schon auch mit „den“ Politikern zu tun. „Viel zu selten geht es darum, wer der Beste ist, sondern um Regionalproporz oder irgendwelche anderen Dinge.“

Er kennt die Ränkespiele in der SPD seit Jahrzehnten, das Postengeschacher, die Eitelkeiten und Animositäten – auch das gehört schließlich dazu, wenn man etwas „mit Menschen“ machen will. Es gehe vielen vor allem um das eigene Fortkommen, und deshalb befolgten viele Abgeordnete die „Anordnungen der Fraktionschefs“, ohne „nach ihrem Gewissen zu handeln“. Er selbst nimmt sich vor, anders zu sein: „Mir ist die Karriere egal, ich werde ohnehin kein Minister oder Staatssekretär mehr, ich muss keine Rücksichten nehmen.“ Um etwas in der Politik durchzusetzen, sind allerdings Mehrheiten, Absprachen und Loyalitäten innerhalb einer Partei und Fraktion nötig.

Das weiß Stader, andererseits will er sich jetzt erst einmal hier im Wahlkreis durchsetzen: als Einzelkämpfer, der wenig zu tun hat mit dem Berliner Politikbetrieb, obwohl er selbst darin tief verwurzelt ist. Ob das Erfolg verspricht? Falls nicht, hofft Stader auf andere Chancen im Wahlkreis. Vielleicht kandidiert er für andere Ämter: Landrat, Bürgermeister – oder für den Landtag? So wie sein Vorgänger als Direktkandidat, Arne Lietz, der 2013 die Wahl verlor – und heute als Abgeordneter im Europäischen Parlament sitzt. Irgendein Weg aus dem Büro findet sich wohl immer.

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