Artikel erschienen in der F.A.Z. und als Storytelling bei FAZ.NET (jeweils am 20.04.2018)
Von Martin Benninghoff
An Musik scheiden sich überall auf der Welt die Geister, auf der koreanischen Halbinsel aber sogar zwei politisch-ideologische Systeme. So groß die Kluft aber auch ist, Nord- und Südkorea nähern sich einander an. Ein bisschen zumindest.
Zu Beginn gleich die freundliche Warnung an die Gäste aus Südkorea: „Ihre Ankunft in Pjöngjang bringt große Erwartungen mit sich.“ Sie kam von Hyon Song-wol, der Chefin der regimetreuen nordkoreanischen Frauenband Moranbong, die auf Wunsch von Machthaber Kim Jong-un gleich nach dessen Amtsantritt vor knapp sieben Jahren gegründet worden war. Die 41-Jährige ist im stalinistisch regierten Nordkorea so etwas wie eine Mischung aus Helene Fischer und Andrea Nahles, machtvoll in Kultur und Politik. Seit 2017 ist sie sogar Mitglied im Zentralkomitee der Arbeiterpartei, in diesem Jahr nahm sie an den Vorbereitungsgesprächen für die Olympischen Winterspiele in Südkorea teil. Während sich überall in der Welt an Musik die Geister scheiden, so scheiden sich an der Bedeutung von Musik auf der koreanischen Halbinsel gleich zwei politisch-ideologische Systeme. Im Süden der weltweit erfolgreiche K-Pop, der für die Individualität der Jugend, aber auch für ihren Narzissmus steht, im Norden die staatlich dirigierte Propagandamusik, die ausschließlich im Dienste des Regimes und der Glorifizierung der quasi-erbmonarchischen Kim-Dynastie steht. In Pjöngjang ist jede Liedzeile politisch – und damit Chefsache.
Keine einfache Aufgabe für die politisch oft unerfahrenen Pop- und Rocksänger, die vergangene Woche zum ersten Mal nach zehn Jahren wieder in der nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang auftreten durften. Ein Minenfeld unter internationaler Beobachtung. Zahlreiche Popstars folgten der Einladung, darunter solche aus der K-Pop-Szene – wie die Girl-Band Red Velvet oder Seohyun, ehemaliges Mitglied von Girls‘ Generation – und Musikveteranen wie Cho Yong-pil, eine Art südkoreanischer Westernhagen oder Grönemeyer, und Yoon Do-hyun, der bereits 2002 in Pjöngjang aufgetreten war. Das Gastspiel ist Teil der Entspannungsbemühungen im Vorfeld der Verhandlungen über eine mögliche Denuklearisierung Koreas und passt in die Zeit, in der Kim Jong-un versucht, der Welt ein freundlicheres Gesicht seines Regimes zu zeigen. Zum Konzert ließ er sich persönlich blicken, lachte mit den jungen Sängerinnen von Red Velvet und sorgte so für die gewünschten Bilder eines menschelnden Diktators. Das 19-jährige Red-Velvet-Mitglied Yeri ließ sich sogar dazu hinreißen, den Handshake mit Kim als „Ehre“ zu bezeichnen, was in der konservativen Presse in Südkorea nicht gut ankam. Kim dürfte es eher gefallen haben – PR-Auftritt gelungen.
Das Konzert reiht sich trotz der langen Pause in die seit gut 30 Jahren eingeübte Kulturdiplomatie zwischen den beiden verfeindeten Bruderstaaten ein, auch wenn die „Atmosphäre dieses Mal besonders freundlich schien“, wie Kang Dong-wan es beschreibt, Politikwissenschaftler an der Dong-A-University im südkoreanischen Busan. Michael Fuhr, Musikethnologe am Center for World Music an der Universität Hildesheim, sagt: „Solche Treffen sind der Seismograph für die politische Atmosphäre beider Länder.“ Nicht nur Seismograph, sondern auch ein EEG für das unterschiedliche kulturelle Bewusstsein, das den Norden und Süden jeweils nach knapp 70 Jahren Trennung prägt. „Die Kluft ist mittlerweile riesig“, attestiert Fuhr. Trotz dieser Unterschiede gibt es jedoch immer noch Gemeinsamkeiten, und die werden derzeit wieder stärker betont, wie der Korea-Forscher Hannes Mosler von der FU Berlin feststellt. „Der Austausch ist ein gutes Zeichen.“
Die heimlichen Stars in Nordkorea
Aber wofür? Im streng abgeriegelten Nordkorea wird K-Pop offiziell unter Verschluss gehalten, zumal das südkoreanische Militär es für eine gute Idee hält, den Norden an der Demilitarisierten Zone über Lautsprecher mit der Musik zu beschallen. Obwohl die Texte meist belanglos und unpolitisch sind, politisch unschuldig ist K-Pop damit nicht mehr. Längst sind seine Protagonisten auch heimliche Stars in Nordkorea. Ihre Musik gelangt auf USB-Sticks oder auf DVDs und Videos über die undichte Grenze von China ins Land. Der Reiz des Verbotenen liegt auf der Hand, zudem spielen die Musiker mit westlichen Klischees etwa aus der Euro-Dance-Ära, die auch im Norden beliebt sind. Selbst Pjöngjangs ehemalige oberste Regierungsband Pochonbo Electric Ensemble coverte den deutschen Modern-Talking-Klassiker „Brother Louie“. Die musikalische Grundierung passt also.Zu verdienen ist für die südkoreanische Musikindustrie im Norden nichts, der Verkauf erfolgt ausschließlich über Schwarzmärkte. Aber als PR-Aktion, von der nicht nur Kim Jong-un profitiert, lohnt sich der Auftritt in Pjöngjang dennoch. Denn der K-Pop, vor allem die Boy- und Girl-Gruppen, die auf die Attraktivität ihrer gecasteten Mitglieder bauen und fast rundum in TV-Soaps und in sozialen Netzwerken vermarktet werden, ist Teil einer umfassenden Globalisierungsstrategie. Eine Antwort der Musikindustrie auf die Asienkrise, die 1997 auch Südkorea erfasste. Fast schlimmer noch als die wachsende Arbeitslosigkeit war damals der psychologische Effekt für das Land, dessen Wohlstandskurve bis dato jahrelang nach oben gezeigt hatte. Der Musikabsatz brach ein, also überlegten die Musikmanager, wie sie vom heimischen Markt loskommen und neue Märkte vor allem in China, Japan und seit Ende der 2000er-Jahre auch in Amerika erschließen könnten.
Mit Erfolg: K-Pop ist heute eine weltweit bekannte Marke, die die drei großen Talentschmieden SM Entertainment, JYP und YG prägen. Sie verpflichten die künftigen Stars oft in sehr jungen Jahren, bilden sie nicht nur in Choreografie und Gesang aus, sondern auch in Japanisch, Chinesisch und Englisch. Das letzte Album der Boyband BTS erschien auf Japanisch. Vor allem für die westlichen Musikmärkte in Amerika, Großbritannien oder Deutschland setzen sie auf soziale Medien wie Youtube. Prominentestes Beispiel ist der Rapper Park Jae-sang, als Psy bekanntgeworden, der es mit seiner Single „Gangnam Style“ auf milliardenfache (!) Klicks und somit auf mehrere Nummer-Eins-Positionierungen in den Charts gebracht hat. Auch in Deutschland.
Am Fall Psy zeigt sich aber auch, wo Nordkorea die Grenzen zieht: Der exzentrische Rapper fuhr nicht mit zur Konzertreise nach Pjöngjang. Die südkoreanische Regierung teilte das nur offiziell mit, gab aber keine Begründung ab, weshalb Südkoreas erfolgreichster Pop-Export für den Norden nicht gut genug sein sollte. Musikethnologe Michael Fuhr vermutet, die „Sexualisierung“ in den Musikvideos und die „gefeierte Individualität“ des Sängers könnten der Grund für eine Ablehnung durch die nordkoreanischen Kulturdiplomaten sein, vielleicht auch sein immenser Erfolg beim Klassenfeind Amerika. Spekulieren kann man zudem über Psys entfernte Ähnlichkeit mit Kim Jong-un, der Rapper wäre bei entsprechender Maskerade durchaus als Diktator-Parodie denkbar. Nordkorea selbst äußerte sich nicht dazu: Die staatliche Nachrichtenagentur betonte nur die „Dankbarkeit“ der Südkoreaner für die „warme Gastfreundschaft“ im Norden. Dass Kim Jong-un nur die ihm genehmen Popgruppen zuließ, überrascht nicht, war der konservativen Presse in Südkorea allerdings Anlass genug, Kritik an der „Showveranstaltung“ zu äußern, die nur dem Diktator nutze.
Trotz Eiszeit und Wiederannäherung: Kultur ist in Nordkorea streng zweckgebunden und oberstes Propagandainstrument, was die Volksrepublik sogar in ihrer Verfassung festgeschrieben hat: „Der Staat sorgt dafür, dass die Schöpfer und Künstler mehr Werke mit hohem ideologischen und künstlerischen Gehalt schaffen und die Massen an der literarisch-künstlerischen Tätigkeit teilnehmen“, heißt es im dritten Abschnitt, Artikel 52. Und: „Der Staat bewahrt unsere Sprache vor jeglichen Formen der Überfremdung.“ Kim Jong-un soll bei dem gemeinsamen Konzert in Pjöngjang etwas verwundert gefragt haben, was die Anglizismen bedeuten, die die K-Pop-Stars in ihre koreanischen Texte einstreuten. Wobei auch das Koreanisch im Norden mittlerweile nicht mehr frei von Anglizismen ist. Zumindest berichtet Korea-Forscher Mosler von Gesprächen mit Studierenden in Nordkorea, deren Sprache deutliche Einflüsse von außen aufweise.
NK-Pop als Antwort auf den K-Pop
Das zeigt, dass sich in Nordkorea zwar Freiräume für Veränderungen öffnen, aber noch immer steht die Gruppe, in ihrer höchsten Form als Volksgemeinschaft stilisiert, über dem Individuum. Eindrucksvoll zeigt sich das bei den Arirang Mass Games, einer Massenveranstaltung im Pjöngjanger Erster-Mai-Stadion, die nach einem alten koreanischen Volkslied benannt ist. Bei dem Spektakel kreieren unüberschaubar viele Menschen in einer perfekt einstudierten Choreografie Bilder und Symbole, die nur ein Ziel haben: zu zeigen, dass alle an einem Strang ziehen. Zuletzt pausierten die Festspiele, nach Angaben des Reiseunternehmens Young Pioneer Tours sollen sie in diesem Jahr aber wiederaufgenommen werden.
Diese ästhetische Botschaft steckt auch in den nordkoreanischen Musikgruppen, Kims NK-Pop als Antwort auf den K-Pop. Die bekannteste ist die bereits erwähnte Moranbong Band, die ein großes Programm von altehrwürdigen Volks- und Revolutionsliedern bis hin zu Mozart und Modern Talking im Repertoire hat. Auch wenn die Anmutung im Sound und der Bühnenperformance für westliche und südkoreanische Beobachter altbacken wirkt, die Gruppe ist ein Gewächs der Kim-Jong-un-Ära und hebt sich deutlich von Vorgänger-Bands wie dem Pochonbo Electric Ensemble („Lied vom Panzermann“) oder dem Samjiyon Orchestra ab, das auf vertraute Instrumente wie das Akkordeon setzt. Die Frisuren kürzer und die Röcke auch – die wechselnden Musikerinnen von Moranbong spielen auf modernen E-Gitarren und -Bässen, auf E-Drumsets, Synthesizern und E-Geigen. Dass die Band nicht bloß irgendeine ist, zeigte sich Ende 2015, als Kim sie auf Tournee nach China schickte. Kurz vor dem ersten Auftritt allerdings flog die Band wieder zurück, ohne offizielle Begründung. Gerüchte machten die Runde, es habe „Kommunikationsprobleme“ mit den chinesischen Gastgebern gegeben, möglicherweise wegen der Liedtexte, die den Chinesen zu amerikafeindlich waren. Aber das ist nicht bestätigt. Möglich ist auch, dass Kims Ehefrau Ri Sol-ju in Sachen Musik großen Einfluss auf ihren Mann hat: Sie war Sängerin des ehemals sehr populären Unhasu Orchestra.
Am schwierigsten ist es für westliche Bands, in Nordkorea aufzutreten. Der slowenischen Avantgarde-Gruppe Laibach gelang es 2015, in Pjöngjang vor einem Publikum aus Diplomaten und Ausländern aufzutreten, gemeines Volk war eher wenig zu sehen. Die Band, die mit stilistisch-ästhetischen Klischees aus totalitären Kontexten agiert (und damit zu einer Art Vorreiter für Industrial-Metal-Bands wie Rammstein wurde), dürfte in ihrer Ironie als Künstlerkollektiv in Pjöngjang kaum verstanden worden sein. Im Vorfeld wurde natürlich erwartbar zensiert, Nummern aus dem Programm gestrichen, dennoch blieb es bei den Auftritten. Bislang hat es keine Nachahmer gegeben, Nordkorea ist für westliche Pop- und Rockmusiker schwieriges Terrain.
Das kann sich nur ändern, wenn sich das Land für den chinesischen Weg entscheiden sollte. Während der Öffnungsphase unter Deng Xiaoping durften die ersten westlichen Bands nach China reisen: Die britische Popband Wham! mit Sänger George Michael soll die erste gewesen sein, aus Deutschland kam relativ früh die Kölner Rockband BAP. Die dänische Gruppe Michael learns to rock feierte jahrelang große Erfolge in China. Frei von Schwierigkeiten ist das auch heute nicht: Als der Autor dieser Zeilen mit seiner Band The Smu mehrfach in China auf Tour war, mussten die Liedtexte durch die Zensur der chinesischen Behörden. Bei Konzerten in Shanghai und Hangzhou saßen Mitarbeiter der örtlichen Stadtverwaltungen bei der Generalprobe in der ersten Reihe, um sicherzustellen, dass die chinesische Flagge, die Teil der Bühnenshow war, sorgsam behandelt wurde und nicht auf den Boden fiel. Das war dann aber auch schon alles. Denkbar, dass Nordkorea eines Tages ein ähnlich unproblematisches Terrain für Pop- und Rockmusiker aus dem Westen und Südkorea wird. Bleibt nur die Frage: Wann?