Artikel erschienen bei FAZ.NET (24.05.2018)
Von Martin Benninghoff
Fernpendeln mit Kind – klingt verrückt, machen aber etliche Arbeitnehmer. Was mit einem Säugling noch funktionieren mag, wird umso schwieriger, je größer das Kind wird.
Als Elias noch nicht geboren war und meine Frau und ich nicht wussten, ob unser Sohn seinem pränatalen Ultraschallbild wirklich ähnlich sieht oder nicht (er tat es schließlich ziemlich haargenau), stellten wir uns die bange Frage: Wird der Kleine nun in Frankfurt am Main geboren oder doch eher in Berlin, unserer damaligen Heimatstadt? Oder gar in Fulda, Göttingen, Wolfsburg, Erfurt, Eisenach oder Halle an der Saale, wo der ICE-Sprinter durchfuhr, je nachdem, ob wir die West- oder Ostzugverbindung wählten?
Zu der Zeit pendelten wir zwischen Berlin und Frankfurt. Meine Frau, die bereits im Mutterschutz war, und ich fuhren fast wöchentlich zwischen unserer Wohnung im Berliner Stadtteil Charlottenburg und meiner Arbeitsstelle als Redakteur der F.A.Z. im Frankfurter Gallusviertel beziehungsweise der kleinen Zweitwohnung in einem Vorort hin und her. Selbst drei Tage vor der unerwartet frühen Geburt im Herbst 2016 hockten wir beide – oder auch zweieinhalb – mit dickem Bauch (meine Frau, in diesem Fall darf man das sagen!) und ohne dicken Bauch (ich) zwischen Koffern und Currywurst verspeisenden Mallorca-Urlaubern im Bordbistro auf schmalen Sitzen eingepfercht, auf denen der Hintern nur zur Hälfte Platz findet. Mit einem Ungeborenen traut man sich noch nicht in die rettende Geräumigkeit des Kinderabteils.
Dabei hätten die Wehen jederzeit losschlagen können. Wir hatten uns vorbereitet, zumindest partiell. Also, nicht auf den schlimmsten aller Fälle, die Sturzgeburt bei Tempo 280 zwischen Bitterfeld und Lutherstadt Wittenberg, wohl aber auf Frankfurt und Berlin, wo wir uns jeweils eine Geburtsstation in einem Krankenhaus ausgeguckt hatten. Zu der Zeit hätte ich allerdings mein Jahresgehalt dafür verpfändet, damit uns das Schicksal des Geburtstermins, das ja trotz allen technischen Schnickschnacks noch immer weitgehend unplanbar ist, unbedingt in Berlin und nicht in Frankfurt erwischt. Warum? Weil man doch in diesen sensibel-privaten Tagen dort sein möchte, wo man zuhause ist. Wo man nach den Tagen im Krankenhaus gemeinsam nach Hause fahren kann, dieses Mal mit „maxi cosi“, aus dem der kleine neue Mitbewohner erwartungsfroh in die Welt lugt, die ihm die Eltern bieten.
Wir hatten Glück im Unglück: In der Nacht von einem Samstag auf Sonntag ging es plötzlich los, als wir im Berliner Bett lagen, gut 20 Stunden bevor ich wieder nach Frankfurt in den Zug gestiegen wäre. In solchen Momenten glaubt man an eine Art Vorsehung oder Schicksal, zumindest solange der Hormonspiegel auch beim Vater anhält. Also Krankenhaus in Berlin-Westend. Und die ersten Tage des Mutterschutzes und der Elternzeit konnten wir zuhause verbringen, im kalten Berlin, das sich für uns aber unglaublich warm anfühlte.
Heute ist Elias 18 Monate alt. Von den bangen Pendelgeschichten seiner Geburt weiß er nichts, es sei denn, man fragt sich, ob auch ein ungeborenes Kind den Stress und die Hetze eines Pendlerlebens mitbekommt. Dann weiß er es eher unbewusst. Mobil ist er jedenfalls geblieben, so mobil, wie meine Großeltern in ihrem ganzen Leben nicht waren. Bis vor kurzem ist Elias häufig mitgependelt, bis wir von Berlin ins Rhein-Main-Gebiet gezogen sind, um ihm den Stress und uns die Kosten künftig zu ersparen. In den vielen Bahnhöfen, die er kennenlernen musste, ist er aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen, so viele Züge, was er mit ausgestrecktem Zeigefinger und einem lauten „Ba, Ba, Ba“ (für Bahn) quittierte. In verschiedenen Betten hat er geschlafen; ob ihm die häufige Umstellung geschadet oder sogar gutgetan hat, auch darum wird es in einem der nächsten Texte gehen.
Bei allen künstlichen Diskussionen über die Notwendigkeit eines Eltern-Führerscheins oder irgendeiner Art von Qualitätskontrolle: Nicht nur pauschal das Elternsein ist beim ersten Kind Neuland, sondern auch das Elternsein in einer Umgebung, die das ziemlich erschwert. Pendeln ist da nur ein Faktor, mangelnde Betreuungsmöglichkeiten bei berufstätigen Paaren ein anderes. Oder aber die gar nicht so leichte Rollenfindung in der neuen Kleinfamilie. Was es bedeutet, eine Familie zusammenzuhalten in einem Zustand der mindestens gelegentlichen Zerrissenheit, kann nachempfinden, wer zweieinhalb Jahre einen Städte-Spagat hinter sich hat. Empfehlenswert ist das aber nicht, wie diesem Text zumindest zwischen den Zeilen zu entnehmen sein sollte.