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Als sie für Honecker und Kim Il-sung übersetzte

Artikel erschienen in der F.A.Z. und bei FAZ.NET (am 28.05.2018)

Als Dolmetscherin war die Koreanistin Helga Picht hautnah dabei, wenn sich Erich Honecker und Nordkoreas Machthaber Kim Il-sung getroffen haben. Wer ist die Zeitzeugin, die gleich in drei Ländern und Systemen angeeckt ist?

Von Martin Benninghoff

Als die Fernsehbilder vom Gipfeltreffen der beiden koreanischen Staatsführer im April die Runde machen, sitzt Helga Picht im fernen Bernau bei Berlin besonders aufmerksam vor dem Fernseher. Vor allem, als die graue Eminenz der nordkoreanischen Außenpolitik, Kim Yong-nam, neben dem Diktator Kim Jong-un auftaucht. „Der ist immer noch dabei“, sagt Picht, „mein alter Freund, auch wenn wir uns Jahrzehnte nicht mehr gesehen haben“.

Die 84 Jahre alte ehemalige Koreanistik-Professorin und der 90 Jahre alte Chefdiplomat kennen sich noch aus Zeiten, als Picht die sozialistischen Brüder und Schwestern aus Nordkorea übersetzte. Sie war jahrzehntelang die Chefdolmetscherin der DDR-Staatsführung, wann immer es um Korea ging. Sie war dabei, wenn Erich Honecker mit Nordkoreas Staatsgründer Kim Il-sung zusammentraf, sie schüttelte dessen Sohn Kim Jong-il die Hand. Ihr Schüler Rüdiger Frank, heute Professor und Nordkorea-Fachmann, schreibt über sie: „Sie kannte Nordkorea bis hin in die oberste Führung aus eigener Anschauung. Sie hat ihren Studenten ein Verständnis Nordkoreas nahegebracht, wie man es in dieser Tiefe nur selten findet.“

Ein Verständnis, das auch Kim Yong-nam an ihr geschätzt haben dürfte. Doch beide trennen mittlerweile Welten. Kim kann sich seit Jahrzehnten im inneren Machtzirkel Pjöngjangs halten, er überstand etliche „Säuberungswellen“, die enge Familienangehörige wie Jang Song-thaek nicht überlebten. Als nominelles Staatsoberhaupt ist er heute so etwas wie das, was Andrei Gromyko in der Sowjetunion war – der hart verhandelnde, aber freundliche Diplomat, gebildet, erfahren, polyglott. Er konnte seiner Ideologie und seinem System treu bleiben. Selbst im hohen Alter offenbar unverzichtbar für den jungen Diktator Kim Jong-un, der gerade seine ersten Laufversuche auf internationaler Bühne hinter sich hat.

Über Helga Picht hingegen fegt die Geschichte bereits zur Wendezeit 1989/90 hinweg, als ihr die politische Heimat, die DDR, abhandenkommt. Und etwas später dazu das Land, das ihre Begeisterung für die koreanische Kultur und ihre Menschen entfacht hat: Nordkorea. Bitter ist die betagte Koreanistin deshalb nicht. Sie ist eine Frau geblieben, die nicht nur als Dolmetscherin häufig zwischen den Stühlen sitzt. Sie strahlt Lebenslust aus, die Milde des Alters, aber auch den Willen, von ihrer Sozialisation, ihren Idolen aus der zum größten Teil untergegangenen sozialistischen Welt nicht vollends lassen zu wollen.

1955 fliegt Picht zum ersten Mal nach Nordkorea. Was sie dort sieht, prägt sie fürs ganze Leben: Menschen, die in Erdlöchern wohnen oder sich in Bombenkratern einrichten, zerlumpte Kinder, ausgemergelte Alte. Der Korea-Krieg hat die Hauptstadt Pjöngjang fast vollständig in Schutt und Asche gelegt, Erinnerungen werden wach an die eigenen Kriegserlebnisse, als Picht als Elfjährige aus ihrer Heimatstadt Schwedt an der Oder, das an der heutigen deutsch-polnischen Grenze liegt, ins westlichere Prenzlau fliehen musste. Das, was sie in Korea sieht, politisiert die Jungsozialistin weiter. „Nie wieder Krieg, das war und ist meine zentrale Devise“, sagt sie. Das Dolmetscherpraktikum absolviert sie in der neu eingerichteten DDR-Botschaft in Pjöngjang, die in einem hölzernen Provisorium untergebracht ist.

Kim Il-sung beeindruckt sie

In der noch jungen DDR macht Picht Karriere. Ihre Koreanisch-Kenntnisse, die sie an der Universität und in Sprachkursen vertieft, macht sie interessant für den Staat, der international Verbündete sucht und im sozialistischen Teil Koreas auch findet. Ab 1956 dolmetscht sie nordkoreanische Delegationen, die nach Ost-Berlin kommen, 1960 geht sie zum Studium nach Pjöngjang auf die elitäre Kaderschmiede der Kim-Il-sung-Universität. Später wird sie Diplomatin. Sie lernt die Mächtigen der DDR kennen, Walter Ulbricht zum Beispiel, und den ehemaligen Partisanenkämpfer und Staatsgründer Nordkoreas, Kim Il-sung.

Der Charismatiker, um den auch 24 Jahre nach dem Tod in seiner Heimat ein aufwändiger Personenkult betrieben wird, beeindruckt Picht – bis heute. Was denkt die lange Zeit überzeugte DDR-Bürgerin über die Diktatur als Staatsform? „Kim hat an der Spitze einer Entwicklungsdiktatur den Nordkoreanern einen bescheidenen, aber wachsenden Wohlstand beschert, zumindest eine Zeitlang“, sagt sie. Darüber, dass Kim Dissidenten und die Opposition selbst in der eigenen Partei gnadenlos verfolgen lässt, und seine Nachfolger es ihm bis heute gleichtun, spricht Picht nicht so gerne. „Ich rede nur über die Dinge, die ich mit eigenen Augen gesehen habe.“

Rund zehn Mal dolmetscht sie Kim Il-sung, der sie eines Tages fragt, ob sie nicht einen Koreaner heiraten will, um die Menschen und nicht nur die Sprache noch besser kennenzulernen. Picht winkt ab: „ Tut mir leid, ich bin verheiratet, habe zwei Kinder, das ist zu spät.“ Kim sagt nur: „Schade.“ Picht lacht, als sie das erzählt, aber selbst in dieser privaten Anekdote erkennt sie die „Klugheit“ des Diktators: „Er wusste instinktiv, was meine Schwäche ist. Ich habe nie unter Koreanern gelebt.“ Kim, der menschelnde Despot?

In Erinnerung geblieben ist ihr ein Vier-Augen-Gespräch zwischen Ulbrichts Nachfolger Erich Honecker und Kim Il-sung: Nach dem üblichen „Protokoll-Geplänkel“ habe Kim zu Honecker gesagt, man sei sich in allem einig, bis auf die Frage der Wiedervereinigung. Honecker betont zu dieser Zeit die Eigenständigkeit der DDR, derweil Kim am Ziel der Wiedervereinigung mit Südkorea festhält. Das Protokoll, das Picht schreibt, verschwindet – und taucht nie wieder auf, die Risse im sozialistischen Lager sollen offenbar verdeckt bleiben.

Dass der real existierende Sozialismus schon längst im Inneren fault, merkt Picht auch bei anderer Gelegenheit: Als sie 1986 Honecker nach Nordkorea begleitet, sitzen beide auf der Rückfahrt ins Hotel alleine im Auto, vorne nur der Fahrer und die Sicherheitsbeamten. Honecker schaut aus dem Fenster und sagt sinngemäß, dass es auf dem Land viel ärmlicher aussehe, als es die Genossen Nordkoreaner darstellen möchten. „Genosse“, entgegnet Picht wie aus der Pistole geschossen, „wann warst Du zum letzten Mal in Mecklenburg?“ Honecker spricht mit ihr auf dem weiteren Rückweg kein Wort mehr.

Teil der intellektuellen Elite der DDR

Zu dem Zeitpunkt ist Picht angesehene Koreanistik-Professorin und Teil der intellektuellen DDR-Elite. Im Flur ihres Hauses in Bernau, das auf dem Grundstück steht, auf dem früher zu DDR-Zeiten das Wochenendhaus für sie, ihren mittlerweile verstorbenen Mann und die beiden Söhne stand, hängt eine Zeichnung des abgerissenen Palastes der Republik in Berlin. „Eine Schande, dass der weg ist“, sagt sie, „da waren früher oft Veranstaltungen oder Tanzbälle, wo wir hingegangen sind“. Für das Außenministerium schreibt Picht zehn Jahre lang interne Analysen über Nordkorea, die „Juche“-Ideologie der Eigenständigkeit, die kulturellen und politischen Verhältnisse. Auch zur Staatssicherheit Erich Mielkes bestehen Kontakte: „Denen habe ich gesagt, ich mache keine Aussagen zu irgendwelchen Einzelpersonen, daran hat man sich gehalten.“

Trotz der engen Verquickung: Ihr Verhältnis zur DDR kühlt seit den späten siebziger Jahren ab: „Ich war der Meinung, dass Sozialismus ohne Demokratie nicht möglich ist“, sagt sie. „Die Partei war aber mehr und mehr verkommen, zum Schluss unerträglich und von Bürokraten geführt!“ Selbst die Spitzenleute, die sie einst schätzte, wie den langjährigen Vorsitzenden des Ministerrates, Willi Stoph, „hatten zum Schluss keinerlei Bezug mehr zur Realität“. Das Band bekommt einen weiteren Riss, als die SED-Bürokraten Picht 1988 die Reise zu den Olympischen Spielen in die südkoreanische Hauptstadt Seoul verbieten. Die Dolmetscherin, die Honecker und anderen sehr nahegekommen war, soll nicht im Land des Klassenfeindes ins Plaudern kommen. „Ich war stinksauer.“

Kim Jong-il, der Playboy

Noch einmal nach Nordkorea darf sie kurz vor der Wende 1989: Honeckers Kronprinz Egon Krenz, als Politbüromitglied unter anderem zuständig für die sozialistische Jugend des Landes, führt eine Delegation zu den Weltfestspielen nach Pjöngjang an. Bei einem Treffen mit Kim Il-sung bietet sich die Gelegenheit, dessen Sohn und späteren Nachfolger Kim Jong-il aus der Nähe zu betrachten. Für Picht eine Enttäuschung: „Ein Playboy“, sagt sie, im Umgang schüchtern wohl auch wegen seiner Sprachbehinderung, wortkarg und längst nicht so charismatisch wie sein Vater. Sie schüttelt seine Hand, das war es.

Mit dem Personenkult rund um die Kims kann sie ohnehin nicht so viel anfangen, auch wenn sie die Gründe dafür zu kennen meint – das Streben nach einem eigenen Weg in Abgrenzung zu Moskau und Peking. Das Angebot, Propagandatexte der Kims mit solch vermessenen Titel wie “Kim Jong-il, der große Lehrer für Journalisten“ ins Deutsche zu übersetzen, lehnt sie ab. „Da habe ich mal gelogen“, sagt sie, „und gesagt, ich habe keine Zeit. Dabei hatte ich keine Lust, das war mir zu blöd.“ Ein Teil dieser Propagandamaschine wollte sie nicht sein.

Mit dem Mauerfall in Deutschland bricht für Picht die ohnehin längst nicht mehr heile sozialistische Welt zusammen. Sie fühlt sich missverstanden und als Teil der DDR-Elite mit Wohnung an der Berliner Oranienburger Straße, Freizeithäuschen in Bernau und Kontakten in die erste Führungsriege des untergegangenen Staates angefeindet. Im März 1992 gibt sie ihre Professur an der Humboldt-Universität Berlin auf, sie will sich nicht „kriminalisieren“ lassen, weigert sich, die DDR als „Verbrecherstaat“ anzusehen, womöglich auf einer Stufe mit der Nazi-Diktatur Hitlers, die sie so verabscheut.

Endlich Reisefreiheit, ab nach Südkorea

In den neunziger Jahren ist sie Mitglied der SED-Nachfolgepartei PDS, aber auch die Bande reißt, als deren Parteispitze Bundeswehreinsätze im Rahmen von UN-Mandaten für möglich hält. Picht, für die „Nie wieder Krieg“ noch immer gilt, gibt ihr Parteibuch ab. Paradoxerweise bietet ihr der Mauerfall die Reisefreiheit nach Südkorea, die sie früher nie hatte. Dort wird sie freundlich empfangen und in Medien als gefragter Interviewpartner herumgereicht, auch da sie, die Deutsche, per Herkunft als Fachfrau für Wiedervereinigungsfragen gilt. Dass ihr Rat an die Südkoreaner ausgerechnet vom im Süden verhassten Kim Il-sung stammt, verschweigt sie lieber: „’Jeder muss seinen eigenen Kopf benutzen und den eigenen Weg suchen.‘ Das hat er früher immer gesagt, leider später immer weniger.“

Picht fühlt sich wohl im boomenden Südkorea, in Nordkorea erkennt sie hingegen Parallelen zur späten DDR. Sie kritisiert, dass im Norden „jede noch so kleine Kleinigkeit von irgendeinem Bürokraten abgesegnet werden muss“. Und sagt öffentlich, dass die DDR deshalb implodiert sei, weil es ihr an Demokratie gemangelt habe. Als sei das noch nicht genug, setzt sie einen drauf: Der Osten Deutschlands sei im Vergleich zu Nordkorea allerdings ein „Hort demokratischer Verhältnisse“ gewesen. Unerhört, das ist zu viel für die koreanischen Sozialisten im Norden: Als Picht 2001 nach Nordkorea reisen möchte, wird ihr, der Freundin des Landes, das Visum verwehrt. Ihr Traum, einmal mit dem Zug von Berlin über Moskau nach Pjöngjang und Seoul zu fahren, muss ein Traum bleiben. Ihr Korea lebt in den Erinnerungen und den Büchern, die sie übersetzt hat. Und den Fernsehbildern von Gipfeltreffen. Wobei: „Ach, da hat sich nicht viel verändert. Die Chefs reden, und die anderen sitzen daneben und dürfen lächeln.“

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