Beitrag für den F.A.Z.-Blog „Schlaflos“ (erschienen am 26.07.2018)
Von Martin Benninghoff
Im August ist es soweit: Elias geht zur Tagesmutter. Die war gar nicht leicht zu finden. Und ist das überhaupt eine gute Idee? Worauf man achten sollte.
Elias weiß noch nicht, was ihn im nächsten Monat erwartet. Bisher drehte sich die Welt einzig und allein um ihn. Die Mama war nahezu Vollzeit für ihn da, unser Heim sein Kosmos, die Welt da draußen zwar ein Ausflugsziel, aber keines, wo es ihn nach festem Stundenplan hinzieht. Freundschaften mit anderen Kindern spielten für ihn eher eine untergeordnete Rolle, nur bei Besuchen und auf dem Spielplatz traf er auf Gleichaltrige. Die Welt muss für ihn so ausgesehen haben, als sei das ganze Leben so… schön, idyllisch.
Das wird sich ab August ändern, wenn unser 20 Monate alter Elias zur Tagesmutter und meine Frau wieder arbeiten geht. Aber weniger schön und weniger idyllisch wird es deswegen lange nicht. Es wird nur: anders.
Wir sind froh, dass der nächste Schritt in seiner und unserer Entwicklung endlich kommt, er wäre wohl schon früher eingetreten, hätten wir wegen Umzug nicht abwarten müssen. Und doch: Wenn das Kind aus dem Schutzraum zu Hause in die externe Betreuung wechselt (früher sagte man „Kindergartenkind“), dann ist das ein Schritt ins große Unbekannte. Wie wird das neue Familienleben funktionieren? Für Elias, der heute noch ein anderes Leben lebt als schon nächsten Monat? Für die Mutter, die sich auf den Job freut, aber auch ein Stück loslassen muss? Und für mich, da ich künftig in einem halbwegs starren Korsett eines geregelten Wochenablaufs stecke zwischen Kind hinbringen und Kind abholen – mit nur wenig Ausbruchsmöglichkeiten? Schon beim Schreiben dieser Zeilen wird mir ganz anders.
Aber kein Grund für Horrorgeschichten, Elias ist ja nur stundenweise in Betreuung: 20 Stunden wird er fürs erste zur Tagesmutter gehen, die wir nach einigem Suchen haben finden können. Das war nicht leicht, und an einen Kitaplatz war in der Rhein-Main-Region schon mal gar nicht zu denken. Also Tagesmutter, die möglichst eierlegende Wollmilchsau sein sollte. Eine, die zu bestimmten Zeiten kann. Zu der wir den Kleinen mal mittags bringen und an einem anderen Tag erst um 17 Uhr abholen können. Die sich darauf einlässt, dass die anderen Kinder morgens zum Frühstück gebracht werden, Elias aber erst am späteren Vormittag. Letztlich fand meine Frau eine geeignete Kandidatin, die zwar Wert auf ihre Tagesstrukturen und Rituale legt, aber auch offen für Sonderwünsche ist.
Geeignet – das muss ja keine Selbstverständlichkeit sein. In unserem Land, in dem man kein Moped ohne Versicherungskennzeichen fahren darf, ist das Tagesmuttergeschäft noch immer relativ ungeregelt, wobei sich manches verbessert hat und es mittlerweile auch gesetzliche Vorschriften gibt. Immerhin ist die Bindung ans Jugendamt gestärkt. Tagesmütter, die ganztags betreuen, müssen eine amtliche Pflegeerlaubnis vorweisen sowie ein makelloses Führungszeugnis und einen Gesundheitsnachweis. Geschützt ist der Beruf aber nicht (Journalist darf sich auch jeder nennen!), und eine langjährige Ausbildung wie Erzieher- und Erzieherinnen in Kitas genießen sie in der Regel auch nicht. Unsere hatte mal ein italienisches Restaurant. Auch nicht schlecht, dann schmeckt die Pasta bestimmt gut und nicht wie aus der Packung. Aber reicht das? (Übrigens: Es gibt auch Tagesväter, allerdings noch viel weniger als Tagesmütter.)
Wir haben uns persönlich ein Bild von ihr gemacht. Meine Frau war bei ihr, Tage später saß auch ich auf ihrem Wohnzimmersofa. Wir haben zwei Stunden geplaudert, uns ihre Räumlichkeiten angesehen, geschaut, ob die Chemie stimmt. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass wichtig sein soll, ob die Tagesmutter bei dem Termin Kaffee kocht. Das hat sie dann wohl versäumt, aber wenn das alles ist? Wichtiger war für mich zu sehen, wie sie mit dem Kleinen umgeht, der im Hintergrund gespielt hat. Ob sie duldsam oder cholerisch reagiert? Souverän oder hektisch? Wir sind keine Hardcore-Alles-Muss-Perfekt-Sein-Eltern, die sofort klagen, wenn uns was krumm kommt. Aber wo weder Ausbildungsstandards noch Erfahrungsberichte Auskunft geben, braucht es andere vertrauensbildende Maßnahmen. Zumal es unter Tagesmüttern eine Reihe „schräge Vögel“ gibt, wie sich meine Frau auszudrücken pflegt – als Kinder- und Psychotherapeutin speist sich ihr Urteil aus der Berufspraxis.
Es ist ja nicht nur die Bastelstunde am Donnerstag, sondern ein großer Teil der Woche, die Elias künftig bei ihr im Haushalt verbringt, gemeinsam mit drei oder vier ihm noch fremden Kindern. Die Tagesmutter hat uns überzeugt im Umgang mit ihm, und gefallen hat uns ihre Motivation, sich in Kursen weiterzubilden, was sie einmal die Woche macht. Sie, die gar nicht mehr so jung ist, ist neugierig geblieben, nicht abgestumpft und lernbegierig – eine sympathische Einstellungsvoraussetzung. Der Rest, nun gut, da sind wir Anfänger und unerfahren, das werden wir sehen, wenn Elias erst einmal bei ihr ist.
Fragen, die uns bei der Auswahl geholfen haben:
Örtlichkeit
Ist die Wohnung geräumig, freundlich und sauber?
Gibt es genügend Spielzeug und Orte des Rückzugs für die Kinder?
Wo kann das Kind mittags schlafen?
Garten? Spielplatz in der Nähe?
Persönlichkeit
Ist die Tagesmutter offen und reagiert sie adäquat auf Nachfragen?
Welche Aus- und Weiterbildungen hat sie absolviert?
Kann man mit ihr eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen?
Wie ist das Umfeld? Eigene Familie, eigene Kinder?
Als erstes kommt die Eingewöhnung. Elias und meine Frau besuchen die Tagesmutter bereits in diesem Monat auf einem nahegelegenen Spielplatz, damit sich der Kleine an seine zukünftige Auch-Bezugsperson und die anderen Kleinkinder gewöhnen kann. Anfang August folgt die eigentliche Eingewöhnung, die ich ein paar Tage übernehme. Es ist sinnvoll, dass dies eine Person tut oder maximal zwei Personen, um das Kind nicht weiter zu verwirren. Für Elias wie für alle Kinder ist die Umstellung ein tiefer Einschnitt in den gewohnten Tagesrhythmus.
Kleinstkinder, die nur wenige Monate alt sind, gewöhnen sich am schnellsten ein, bei Älteren ist es schwieriger. Wir stellen uns das folgendermaßen vor: Am Anfang wollen wir den Kleinen für ein, zwei, drei Stunden in die Betreuung geben. Ich bleibe dabei, auch wenn ich mich im Hintergrund halte, im Zweifelsfall bin ich aber als Backup-Bezugsperson da – das soll Elias wissen. Vielleicht können wir die Dauer am dritten Tag steigern. Am vierten Tag sollte dann der erste Trennungsversuch folgen: Weint das Kind, und die Tagesmutter kann es auch nach einer angemessenen Zeit nicht beruhigen, kann man nochmal in den Raum gehen. Grundsätzlich ist es nicht unser Ding, aus allem den großen Abschied zu zelebrieren, das verunsichert das Kind nur. Aber natürlich sind nicht wir die, die das bestimmen, sondern Elias, dessen Reaktion ich beim besten Willen nicht vorhersehen kann. Da hat jedes Kind seine individuellen Eigenarten.
Nicht alles behagt: Es tritt neben den Eltern und der Familie eine weitere Bezugsperson in das Leben des Kindes, die – zeitlich gesehen – mehr vom Kind hat als zum Beispiel die Großeltern, die wegen der geografischen Distanz nicht immer zur Stelle sein können. Selbst die krude Vorstellung, dass sich Elias irgendwann mehr zur Tagesmutter hingezogen fühlen könnte als zu uns Eltern, keimt gelegentlich auf, auch wenn das ein wenig realistisches psychologisch bedingtes Mätzchen zu sein scheint. Die Schraubpresse, in die unser Alltag alleine durch die festen Zeiten der Tagesmutter gezurrt wird, gefällt mir nicht. Andererseits bringt eine Tagesmutter ein Mindestmaß an Flexibilität mit. Sie hat auch andere Vorteile im Vergleich zur größeren Kita: Das Kind ist in einer Kleingruppe untergebracht, der Betreuungsschlüssel ist im Vergleich zur Kita gut. Darin spiegelt sich auch so etwas wie ein Familienleben wider, inklusive Essens- und Schlafenszeiten im privateren Umfeld. Zudem ist die Tagesmutter eine konstante Bezugsperson, in der Kita wechseln die Erzieher und Erzieherinnen hingegen.
Aber es gibt auch Nachteile: Was passiert, wenn die Tagesmutter krank wird? Manche sind Netzwerken angeschlossen, so dass eine Kollegin einspringt, andere Einzelkämpferinnen. Ist sie ihrer Aufgabe gewachsen? Körperlich und mental? Und ist ihr Erziehungsstil und ihre Persönlichkeit wirklich das, was wir für den Kleinen erwarten? Das ist schwierig zu beurteilen, theoretisch könnten die ersten Eindrücke täuschen. Sollte es allerdings wirklich Probleme geben, kann man immer noch reagieren – aber von vorneherein das Schlimmste anzunehmen, wäre unrealistisch und ressentimentgeladen. Und: Eine Tagesmutter kostet natürlich. In unserem Fall wahrscheinlich um die 300 Euro im Monat, inklusive Verpflegung. Das Jugendamt hält durch Zuschüsse die Kosten insgesamt auf erträglichem Niveau.
Ob das in unserer grenzenlosen Naivität angedachte Arrangement klappt? Keine Ahnung, das werden wir schon sehen. Nicht alles wird perfekt funktionieren. Und wahrscheinlich wird Elias auch mal eine Träne weinen, andererseits wird es Zeit, dass er seinen Radius langsam aber sicher erweitert und ein wenig vom Rockzipfel vor allem der Mutter lässt und endlich mehr mit Gleichaltrigen zu tun bekommt. Und sollten sich Probleme auftun, hilft die alte Regel: Schätzungsweise 100 Milliarden Menschen lebten und starben bereits auf der Erde, mehr als sieben Milliarden bevölkern sie aktuell. Wir sind mit diesem Thema also nicht allein, auch wenn sich die Betreuungssituation in der, sagen wir mal, Jungsteinzeit doch ein wenig von der heutigen unterschied. Dafür lagen Wohnhütten und -höhlen näher am Arbeitsplatz. Aber das ist ein anderes Thema.