Artikel erschienen bei FAZ.NET am 26.07.2018
Nur wenige Staaten pflegen so enge Kontakte mit Nordkorea wie Deutschland. Doch Fachleute bemängeln die Zurückhaltung im Auswärtigen Amt.
Von Martin Benninghoff
Wenn Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) seinen Fuß in die entmilitarisierte Zone an der streng bewachten Grenze zwischen Nord- und Südkorea setzt, an diesen symbolisch aufgeladenen Ort der zementierten koreanischen Teilung, dann reist die Frage der Wiedervereinigung mit. Das ist immer so, wenn deutsche Spitzenpolitiker nach Korea reisen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier überreichte dem südkoreanischen Präsidenten Moon Jae-in vor einiger Zeit ein Porträt Willy Brandts, der „mit seiner mutigen Ostpolitik den Weg der deutschen Wiedervereinigung gebahnt“ habe. Und auch der Außenminister wird sich Fragen anhören müssen zum deutschen Vorbild für die geteilte koreanische Halbinsel – und nach der Rolle der Deutschen im gegenwärtigen Wiederannäherungsprozess zwischen dem Westen und Nordkorea. Vermutlich auch kritische.
In den Entspannungsbemühungen zwischen dem amerikanischen Präsidenten Donald Trump und dem nordkoreanischen Machthaber Kim Jong-un spielt Deutschland keine Rolle. Die beiden Staatsführer dominieren die Wahrnehmung und die Berichterstattung, im Hintergrund ziehen ihre Diplomaten sowie die Südkoreas, Chinas und Japans die Fäden. Dabei ist Deutschland für Nordkorea mehr als nur ein weit entfernter europäischer Staat: Wie sonst vielleicht nur Schweden verfügt Deutschland über hervorragende Kontakte in die nordkoreanische Politik und Zivilgesellschaft, vor allem im humanitären und kulturellen Bereich.
Der Bundestagsabgeordnete und Korea-Fachpolitiker Hartmut Koschyk (CSU) fordert daher eine stärkere Rolle Deutschlands: „Ich würde das sehr begrüßen.“ Korea-Forscher sekundieren: „Ich halte es für richtig, den Dialog und Austausch auf möglichst vielen – sowohl politischen als auch unpolitischen Ebenen – aufrecht zu erhalten und auszubauen“, sagt Hannes Mosler von der FU Berlin. Rüdiger Frank von der Universität Wien, der sich gerade in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul aufhält, schlägt Deutschland als „neutralen Vermittler und Mediator“ im Atomkonflikt zwischen Pjöngjang und Washington vor. Deutschland sei „anerkannt und respektiert, aber ohne mit China oder Amerika vergleichbare unmittelbare politische Interessen auf der Halbinsel“ zu verfolgen.
Die wichtigsten Gesprächskanäle laufen über die deutsche Botschaft in Pjöngjang und die nordkoreanische in Berlin. Nur wenige westliche Länder verfügen überhaupt über offizielle diplomatische Beziehungen mit Nordkorea, Deutschland ist eines davon. Der frühere Außenminister Joseph Fischer (Grüne) belebte die Beziehungen 2001 wieder, nachdem sie jahrelang nur noch auf der niedrigeren diplomatischen Stufe einer Ständigen Vertretung Deutschlands in der nordkoreanischen Hauptstadt betrieben worden waren. Botschafter Thomas Schäfer wurde kürzlich pensioniert, sein Nachfolger Pit Heltmann tritt in diesen Tagen sein Amt in Pjöngjang an.
Die enge Verbundenheit zwischen Deutschland und Nordkorea geht noch auf alte DDR-Verbindungen zurück. Nach 1949 gehörte die DDR zu den engsten Partnern Nordkoreas im Ostblock. Schon früh besuchte man sich, Staatsgründer Kim Il-sung reiste nach Ost-Berlin und in andere Städte, Erich Honecker und später Egon Krenz besuchten die Genossen in Asien. Die DDR beteiligte sich mit Krediten und Arbeitskräften am Wiederaufbau des Landes, das nach dem Korea-Krieg 1950 bis 1953 in Schutt und Asche lag. Noch heute erinnern sich ältere Nordkoreaner in der Hafenstadt Hamhŭng wehmütig und mit Dankbarkeit an die Architekten und Handwerker aus Deutschland, die die zerstörte Stadt neu aufbauen halfen.
Aber was ist von den positiven Beziehungen im wiedervereinigten Deutschland geblieben? Auf diplomatischer Ebene nicht viel, kritisieren Nordkorea-Fachleute, und sie nehmen dabei das Außenministerium in Berlin in den Blick. „Das Auswärtige Amt scheint der Ansicht zu sein, dass man Nordkorea isolieren sollte“, sagt Mosler. „Ich habe den Eindruck, Nordkorea soll diplomatisch ausgehungert werden, damit man sie in die Knie zwingt, weil man davon ausgeht, dass das Land kurz vor dem Zusammenbruch steht.“
Vor dem innerkoreanischen Gipfel zwischen Nordkoreas Machthaber Kim Jong-un und dem südkoreanischen Präsidenten Moon Jae-in im April sollte offenbar ein ranghoher nordkoreanischer Diplomat, der Leiter der internationalen Abteilung der Arbeiterpartei, nach Europa und auch nach Deutschland reisen. Das Auswärtige Amt lehnte nach Darstellung mehrerer Quellen ein Treffen ab, im Bundeskanzleramt sei man hingegen einem Gesprächstermin zumindest auf einer mittleren oder unteren Ebene nicht abgeneigt gewesen. Das Auswärtige Amt hat sich bisher auf Anfrage dazu nicht geäußert. Letztlich sagten die Nordkoreaner den Besuch des Diplomaten aus unbekannten Gründen ab. Spätestens seitdem sitzt das Misstrauen der Nordkoreaner gegenüber der deutschen Diplomatie tief, kein leichter Auftakt für den neuen Botschafter, der am Anfang vor allem eines tun muss: Vertrauen schaffen.
Nach Ansicht von CSU-Politiker Koschyk liegt die Zurückhaltung im Auswärtigen Amt darin begründet, dass man dort ohne Not keine weiteren Konfliktherde mit der amerikanischen Regierung schaffen möchte. Andere schildern Fälle von Nordkoreanern, die in Deutschland studieren sollten, die aber letztlich kein Visum bekommen hätten, weil die Bearbeitungszeit herausgezögert worden sei. Woran es auch immer liegen mag, die diplomatische Zurückhaltung trifft auch die Aktivitäten der deutschen Vereine und Initiativen, die seit Jahren und teilweise seit Jahrzehnten enge Kontakte mit Nordkorea pflegen. Das Goethe-Institut war mit einem Lesesaal in Pjöngjang vor Ort, der schon vor etlichen Jahren allerdings wieder geschlossen wurde. In Gesprächen mit Entwicklungshelfern fallen Begriffe wie „Spannungsfeld“, in dem sich Organisationen in Nordkorea bewegten – vor dem Hintergrund unterschiedlicher Strömungen und Ansichten im Auswärtigen Amt, wie mit Nordkorea umzugehen sei. Zitiert werden möchte keiner.
In Nordkorea engagieren sich deutsche Organisationen oft humanitär, in zweiter Instanz betreiben sie immer eine Art „Wandel durch Annäherung“. Das „Interesse in beiden Koreas an den deutschen Teilungserfahrungen ist nach wie vor groß“, sagt Koschyk, freilich unter verschiedenen Prämissen: In Nordkorea wird offiziell ein föderales Korea, also ein Land mit zwei Systemen auf Augenhöhe, propagiert. In Südkorea fürchtet man vor allem den Kollaps des verarmten Nordens, verbunden mit einem möglicherweise unsicheren Verbleib der Atomwaffen und einer orientierungslosen Bevölkerung auf der Flucht. Und die wirtschaftlichen Folgen, die den deutschen Aufbau Ost um ein Vielfaches an Dramatik übersteigen dürften.
Südkorea gehört zu den 20 wichtigsten Wirtschaftsnationen der Welt: Das Land war 2017 die sechstgrößte Exportnation, es hatte das neuntgrößte Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf; beim Wirtschaftswachstum lag es im ersten Quartal 2018 auf Platz sechs. In Nordkorea verschlechtert sich hingegen die ohnehin schon schlechte Situation: Das BIP sei im vergangenen Jahr um 3,5 Prozent zurückgegangen, schätzt die südkoreanische Zentralbank. Den Rückgang begründen die Notenbanker mit den internationalen Sanktionen, die die nordkoreanische Wirtschaft weitgehend im Zangengriff halten, sowie den Dürren in diesem Jahr.
Mindestens genau so groß sind die kulturellen Unterschiede zwischen den beiden Ländern, in Sprache, Musik, Lifestyle. Anders als in weiten Teilen der früheren DDR lassen sich in Nordkorea heute keine ausländischen Sender empfangen, Internet gibt es nur direkt an den Grenzen und unter großen Gefahren – und die Teilung dauert nun schon knapp 30 Jahre länger als die deutsche. Wie würde Korea wohl dastehen, wäre es analog zu Deutschland schon 1990 wiedervereinigt worden? Die ökonomische Teilung wäre damals schon enorm gewesen, die kulturelle und mentale jedoch geringer als heute.
Nordkoreaner, die als Flüchtlinge in den Süden kommen, kämpfen bisweilen mit massiven Integrationsproblemen, auch weil sie sich als Bürger zweiter Klasse diskriminiert fühlen und im Land der hypermodernen Technik kaum zurechtfinden. Deshalb seien Kontakte mit der Außenwelt umso wichtiger, sagt Mosler. Eine „Art Isolationsbelagerung, wie es einige befürworten, ist eine primitive Methode aus dem Mittelalter und zuvor, die Konfrontation und Aggression provoziert – und dessen Folgen nicht abzuschätzen sind“. Oder wie es Frank sagt: „Eine Lösung kann Deutschland nicht bieten, aber auf dem Weg dorthin helfen.“ Bleibt die Frage, ob sich Außenminister Maas des Themas annimmt.