F.A.Z.-Blog „Schlaflos“ (erschienen bei FAZ.NET, 21.08.2018)
Wenn das Kind erst zögerlich sprechen lernt, nicht verzagen: Es kommt schon noch. Und dann werden Sie sich nach den Zeiten zurücksehnen, in denen es keine Familiengeheimnisse ausplauderte.
Von Martin Benninghoff
Wann sollte mein Kind sprechen können? Pädagogen halten den Ball flach und sagen meist, bis zum zweiten Lebensjahr sei fast jedes Tempo in der Entwicklung normal. Einzelne Wörter oder Zwei-Wort-Sätze, je nach der Zeit, die sich ein Kind lässt, je nach Geschlecht. Jungs brauchen nach landläufiger Meinung und wohl auch nach wissenschaftlicher Ansicht etwas länger als Mädchen (hier gibt es allerdings verschiedene Ansichten, wie gravierend die Unterschiede sind). Ruhig Blut also! Bei Elias habe ich mir irgendwann schon ein paar kritische Gedanken gemacht, ob sein Tempo stimmt. Junge hin, Junge her. Wir sprachen viel mit ihm, lasen ihm vor. Er hatte zwar für sein Alter ein umfangreiches passives Wortverständnis: Wenn man ihn bat, holte er einem den Spielzeughammer. Oder er schaltete die Stereoanlage alle dreißig Sekunden aus, worum ich ihn allerdings nie gebeten hatte, wirklich nicht. Aber aktiv sprechen? Das wollte er nur sparsam und mit wenigen Wörtern.
In der Lall-Phase der ersten Lebensmonate bezeichnete er seine Umgebung mit speziellen Wortkreationen, die bis heute nicht im Duden stehen, aber trotzdem von den Eingeweihten, also von uns, verstanden wurden. Als wir beispielsweise auf Reisen mit Wohnmobil waren, weckten uns morgens gelegentlich irgendwelche Krähen, die vor dem Autofenster einen unglaublichen Tumult veranstalteten. Elias war sofort fit und wach – und begrüßte uns und die schwarzen Vögel mit seinem eigens adaptierten Krähensound. Zurück in Deutschland zeigte er großes Interesse an den stets zur Unzeit gurrenden Tauben, die bräsig auf dem Dach hockten, „gurr-gurr“. In einem Anflug geistiger Umnachtung imitierte ich damals die Fluggeräusche der von mir ungeliebten Tauben, etwa so: „faffaffaffaffaffaffaffaffaffa“. Zu meinem Glück intoniert Elias diese Geräusche auch heute noch bei jedem Vogel, der im Tornado-Tiefflug über die Veranda stürzt.
Aus den Zwei-Silben-Lauten entwickelte Elias danach das obligatorische „Mama“. Wie der Name schon sagt, bezeichnet er damit in erster Linie die Mama. Allerdings in zweiter Linie und in stoischer Unbeirrbarkeit bis heute auch mich. Wenn der Kleine auf Mamas Arm ist und ich den Raum verlasse, ruft er mir „Mama, Mama“ hinterher, was in meiner positiven Interpretation so viel heißt wie „Papa, bleib hier“. Hoffentlich heißt es nicht: „Gut, dass Du gehst.“ Wie auch immer, manchmal nennt er mich „Mama“ und schüttelt dabei den Kopf, sozusagen als Nemesis der Mama oder auch: „Nicht die Mama“. Ist das frühkindliche Dialektik? Ganz so schmeichelhaft finde ich das nicht, und daran ist die amerikanische Disney-Serie „Die Dinos“ aus den neunziger Jahren schuld. Das notorisch aufsässige Baby Sinclair bezeichnet darin seinen vertrottelten Vater Earl, einen Baumschubser, eine Art Homer Simpson der Kreide- und Jurazeit, mit hinreißender Konsequenz als „Nicht die Mama“, im amerikanischen Original „not the mama“, um ihn größtmöglich ins Abseits der Familie zu stellen, wo er dank der Schwiegermutter sowieso schon steht.
Wirklich persönlich nehme ich das natürlich nicht, im Gegenteil: Wie mir meine Frau, gelernte Kinder- und Jugendpsychotherapeutin, versichert, zeigt sich darin nur die Tatsache, dass Elias uns als Einheit begreift, die zusammengehört und seine kleine Welt stabilisiert. Also doch Dialektik mit Mama-These und Papa-Antithese, die er in seine eigene, die Welt stabilisierende Synthese überführt. Die Ausdifferenzierung dieser kuscheligen kleinen Behaglichkeit ist ja in vollem Gange, und manchmal verplappert er sich jetzt und sagt „Papa“. Aber es wirkt jedes Mal so, als hätte er sich versprochen. Wenn ich ihm mit dem Wort „Papa“ komme, schaut er mich mit großen Augen an und nutzt die nächste Gelegenheit, vom Thema abzulenken, indem er nach draußen zeigt: „Faffaffaffaffaffaffaffaffa“.
Mittlerweile explodiert seine Sprachentwicklung. Alles und jedes wird bezeichnet, und sei es auch nur der schnöde Kamin am Nachbarhaus. „Min Min“, sagt er dann, und ich weiß kaum, was ich sagen soll, außer: „Ja, Min, äh Ka-Min. Genau, Kamin!“ In unserer Wohnung möchte er derzeit gefühlte hundert Mal am Tag die Treppe hochsteigen. Da ich meistens eher unwillig bin, schiebt er mich mit erstaunlicher Vehemenz vom Gartenstuhl und in Richtung der Treppe, während er im Brustton kleinkindlicher Überzeugungskraft „hoben, hoben“ sagt, eine Mischung aus „hoch“ und oben“. Meines Wissens nach auch ein Begriff, der es bislang nicht in den Duden geschafft hat.
Allerdings ist das eine gefährliche Zeit. Für meine Frau und mich. Nachdem wir neulich ein paar Tage im Urlaub waren, wo man eben abends nochmal irgendwo im Landgasthaus essen geht, sagt Elias zu jedem gefärbten Getränk, egal ob Cola, Apfelsaft oder Wein, „Bier“. Alles ist ihm „Bier“, selbst Bier ist „Bier“ bei ihm, was ja an sich beruhigend ist. Allerdings ließe der Fokus auf Alkohol tief in unsere privaten Gewohnheiten blicken, wenn es denn stimmen würde. Trotzdem fühlt man sich ertappt, wenn er das bei der Tagesmutter permanent zum Besten gibt. Schlimmer aber als das in unserer Kultur allseits anerkannte Rauschgetränk Bier sind die Begriffe, die einem zuhause mal eben herausrutschen, und die ich hier schriftlich nicht wiedergeben will. Die plappert Elias furchtbar gerne nach, so dass ich mich künftig dringend am Riemen reißen muss. Das dürfte allerdings ein auswegloses Unterfangen sein, und ich kapituliere schon in dem Moment, in dem ich diesen Satz hier aufschreibe.
Jedenfalls sind wir mittlerweile sehr entspannt, was die Sprachentwicklung angeht. Die Dinge, die man beherzigen sollte, um den Prozess zu unterstützen, tun wir meistens sowieso: viel sprechen mit dem Kind, auch beim Wickeln erzählen, benennen und erwidern, dem Kind zuhören, Bücher vorlesen und auch mal ein Lied vorsingen, denn mit Sprachmelodie geht vieles leichter. Der Rest kommt dann hoffentlich von selbst. Vielleicht sogar das Wort „Papa“. Eines Tages. Bald. Wenn ihn die Tauben nicht mehr interessieren. „Faffaffaffaffaffaffaffaffa“.