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Endlich wieder Solo!

Der breitbeinige Gitarrengott hat ausgedient, das Gitarrensolo als Egoshow hat es im Mainstream schwer. Doch das heißt nicht, dass es tot ist, im Gegenteil. Es kommt wieder, nur anders.

Eines Tages, es ist die Hochzeit seines Freundes, schlurft Saul Hudson durch den Mittelgang der Kathedrale in Richtung Ausgangspforte, während die Hochzeitsgäste gespannt nach vorne zum Altar schauen. Plötzlich, als er ins Freie tritt, schrumpft die ahnsehnliche Großkirche zur kleinen Kapelle, die verloren im Wüstensand steht. Niemand ist zu sehen, aber Hudson wächst, er wächst sogar über sich hinaus, wie er im Staub der Steppe posiert, breitbeinig, die schwarze Mähne wild im Wind, und wie er den Gitarrenhals seiner Gibson Les Paul in die Höhe reckt, um sein singendes Solo auf die Reise zu schicken, getragen durch die Böen der Windmaschine, die irgendwo im toten Winkel der Kameras wirbeln muss.

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Es ist die Welt, die für einen – recht langen – Moment zum bloßen Bühnenbild für den Star im Vordergrund schrumpft. Das Gitarrensolo, das Hudson spielt, dauert schlappe 50 Sekunden, es ist nur eines von mehreren im Song. Trotz oder gerade wegen seiner Länge ist es eines der bekanntesten und ikonischen Soli der Rockgeschichte. Das Musikvideo von „November Rain“ erschien Anfang der neunziger Jahre, also lange vor der Youtube-Ära, und ist heute doch mit mehr als einer Milliarde Klicks eines der meistgesehen Musikvideos aller Zeiten. Und es hat Hudson damals, den Rock’n-Roll-Gitarristen, der sich im wahren Rockstarleben Slash nennt, gemeinsam mit seiner Band Guns N’Roses endgültig in Stadiondimensionen katapultiert, auch dank dieses Solos. 

Spätestens seitdem ist Slash so etwas wie der Archetyp des Gitarrengottes. Mit Zylinder, früher mit Zigarette (angeblich sogar unter der Dusche), heute immerhin noch selbst zur Nachtstunde mit Sonnenbrille. Musikalisch ist der mittlerweile 53 Jahre alte Gitarrist mit seinem Markenzeichen, der Gibson Les Paul, zwar in der kompositorischen Varianz seiner Soli begrenzt, zumindest im Vergleich zu den wirklichen Virtuosen wie Guthrie Govan. Aber bei Slash stimmt eben das Gitarrengott-Gesamtpaket aus Coolness und einem unverwechselbaren singendenden Ton. So wie auch bei Jimmy Page von Led Zeppelin und natürlich Brian May von Queen, wobei Letzterer als der Akademiker unter den Rockstars vielleicht weniger cool, dafür aber sein Ton umso unverwechselbarer war – ein Mal die Saite angeschlagen, und man wusste Bescheid. Sie alle haben mit ihren Soli aus guten Songs noch bessere gemacht, weshalb sie, ohne herausragend singen zu können, in den Mainstreampophimmel aufstiegen.

Das war einmal. Mittlerweile ist das Gitarrensolo mehr oder minder aus der Mainstreammusik verschwunden: zu lang, zu egozentrisch, zu sehr was für die Ohren anderer Gitarristen, aber nichts für den breiten Musikgeschmack. Im Gegensatz zu den gesetzteren Herren Page und May ist Slash zwar noch das Küken in dieser Population musikalischer Brontosaurier, die mit ihren langen Gitarrenhälsen zu beeindrucken wussten, aber irgendwann vom Aussterben bedroht waren, weil sie nicht mehr recht in die Zeit zu passen schienen. Ob daran der langsame musikalische Klimawandel schuld war? Oder der Meteoriteneinschlag von Grunge und Singer-Songwriter-Pop in ihr Land vor unserer Zeit?

Der unangefochtene Star auf der Bühne

Jahrzehntelang war die E-Gitarre der unangefochtene Instrumentenstar auf den Rockbühnen. Leicht zu tragen, cool, fast universell einsetzbar als Rhythmus- und Melodieinstrument, mit wahlweise organischen Sounds oder Effektgewittern aus Delay, Chorus und Verzerrung, ein wahrer Tausendsassa für Bühne, Proberaum und für zuhause. Nichts gegen Keyboards, aber wer einmal einen verzerrten Akkord über eine amtliche PA, also eine Beschallungsanlage, in eine Halle hineinventiliert hat, kennt das Gefühl, wenn sich die Nackenhaare sträuben und sich die Muskelkontraktionen kaum noch lösen lassen. Unbeschreiblich! Nicht umsonst hat ein Nichtgitarrist wie Joe Cocker beim Woodstock-Festival 1969 aus Versehen die Luftgitarre erfunden, nur weil er es nicht aushielt, die Melodien seines Gitarristen beim Beatles-Cover „With a little help from my friends“ unbeteiligt über sich ergehen zu lassen. So viel Ikonografie muss man erst einmal schaffen: Seit mehr als 20 Jahren ringen nun schon Möchtegern-Cockers um den Titel des Luftgitarrenweltmeisters.

Aber ein solcher Wettbewerb wirkt wie der Nachhall längst vergangener glorreicher Zeiten. „Die Gitarre war auch schon mal in den achtziger Jahren totgesagt“, gibt Carl Carlton zwar zu bedenken, der als Gitarrist mit Robert Palmer, Udo Lindenberg und Marius Müller-Westernhagen auf der Bühne stand. Das Gitarrensolo aber geriet nach den großen Schredderkönigen der achtziger Jahre – Yngwie Malmsteen, Paul Gilbert oder Joe Satriani – tatsächlich in eine lebensbedrohliche Krise, von der es sich nur mühsam erholt. Rockvirtuosen wie Dream-Theater Gitarrist John Petrucci oder Steve Vai leben sich weiter erfolgreich in ihren Progressive-Rock-Nischen aus (und Leute wie Al Di Meola in ihren Weltmusik-, Jazz- und Jazzrocknischen), aber im Mainstream gilt das Gitarrensolo als verpönte Egoshow dumpfbackiger Saitenhexer, die sich solange an der eigenen Virtuosität aufgeilen, bis alle Mitmusiker genervt von der Bühne springen. Ein echter Abschalter, erst recht im radiotauglichen Hitformat.

Der Niedergang begann spätestens mit dem Grunge in den neunziger Jahren und mit Teilzeit-Gitarristen wie dem Nirvana-Frontmann Kurt Cobain, der zwar auch solierte, dies aber mehr im Stil eines Zimmermanns an der Kreissäge tat, oder John Frusciante von den Red Hot Chili Peppers, der seine begrenzte Virtuosität durch entgrenzte Ausdrucksstärke ausglich. Deutsche Popbands wie Blumfeld oder Tocotronic feierten ohnehin eher kollektive Bandgrundsätze statt virtuose Einzelleistungen, alleine auch deshalb, weil sie es gar nicht anders wollten und wohl auch nicht konnten.

Das Solo ist tot, es lebe das Solo!

Das könnte sich aber wieder ändern. Das Solo ist tot, es lebe das Solo! „Die Ehrlichkeit und die Emotion der Rockmusik ist nach wie vor lebendig“, sagt Jacob „Jake“ Kiszka, Gitarrist der gefeierten amerikanischen Rockband Greta Van Fleet, der – trotz seiner jungen Jahre mit Anfang zwanzig – Rock für „die Stimme einer neuen Generation“ hält. Für ihn ist die Gitarre eines der „spirituellsten Instrumente“ und ein „zentrales Symbol für ein ganzes Genre“, das Gefühle hervorruft und deshalb noch genauso wichtig wie zu früheren Zeiten sei. 2017 schrieb der Journalist Geoff Edgers in der „Washington Post“ über den angeblichen Tod der E-Gitarre und machte dafür den Mangel an echten Gitarrenhelden verantwortlich. Kiszka hält dagegen: „Es mag so aussehen, als ob es keine echten ‚Gitarrenhelden‘ mehr gibt“, sagt er, aber es stimme nicht, man müsse sie nur „gezielt finden“.

Die gute Nachricht: Gitarrenmusik ist also nicht tot, davon zeugen neben Greta Van Fleet auch andere kommerziell durchaus erfolgreiche Musiker jüngeren Alters wie Gary Clark junior oder Jake White, die bei ihren Bühnenshows der Gitarre und dem Solo wieder viel mehr Raum einräumen. Udo Dahmen, von Hause aus studierter Schlagzeuger und Künstlerischer Direktor der Popakademie Baden-Württemberg, bestätigt den Trend und beobachtet bei seinen Studierenden, dass sie sich wieder stärker „für Soli begeistern können“. Wenn es denn klug durchdachte Soli sind, die dem Song eine weitere kompositorische Komponente geben. Alle anderen bleibt ja noch immer ein Manowar-Konzert.

Jonathan Linde ist ein solcher junger Gitarrist, der sich fürs Solieren wieder begeistern kann. „Heute geht es allerdings weniger ums Virtuosentum“, sagt der 22-jährige Student, der kurz vorm Bachelor-Abschluss an der Popakademie steht. Mit neun Jahren fing er an zu lernen, ließ sich am Anfang durch die Plattensammlung der Eltern inspirieren, von Jimi Hendrix und Brian May, und schaffte sich später sein Wissen und Können mittels Youtube-Videos drauf. „Der Mut zu Songdienlichkeit ist beim Solo wichtig“, sagt er, „man muss auch mal einen Ton stehenlassen“, statt sich in Frickelorgien zu ergehen. So wie es Joe Bonamassa tue, der amerikanische Bluesgitarrist, der den Blues, die Musik der Eltern und mittlerweile Großeltern, die mit Chuck Berry und Eric Clapton aufgewachsen sind, auch den Jüngeren wieder nahebringt. Und das ziemlich erfolgreich, übrigens inklusive längerer Soli.

Andere tun es auch, wie der Gitarrist der erfolgreichen österreichischen Indierockband Bilderbuch, Michael Krammer, der vor allem live tief in die Rockstarklischeekiste greifen kann, die Gitarre hinterm Kopf spielt oder sie in die Höhe reckt, als sei sie das Schwert einer höheren Macht. Seit den ernstgemeinten Soloexzessen solcher unironischen Hairmetalbands wie Leatherwolf in den achtziger Jahren meldet sich im Geiste sofort die unerbittliche Musikerpolizei, sobald ein Gitarrist das Griffbrett in die Höhe reckt, aber Linde beruhigt: „Ich habe den Eindruck, dass er das ganze Guitarhero-Getue persifliert und ironisch sieht“, sagt er, „er zeigt doch bei seinem Spiel Humor und hat zudem einen außergewöhnlichen Sound.“ Ähnlich wie bei Tash Sultana: Die 24-jährige australische Multiinstrumentalistin, die zu Beginn ihrer Karriere auf den Straßen Melbournes spielte, nutzt die Gitarre als zentrales Soloinstrument bei ihren gefeierten Liveauftritten. Auch da übrigens inklusive demonstrativer Poser-Klampfe im Nacken und über dem Kopf. Ihre Youtube-Videos werden millionenfach geklickt und finden offenbar bei den Jüngeren Anklang, denn sie kombiniert Gitarre, Laptop und Beatboxing und loopt ihre Instrumente, bis ein Bandsound ohne Band entsteht.

Während bei Studioproduktionen das Gitarrensolo häufig immer noch herausgeschnitten wird, feiert es zumindest live und in den sozialen Medien ein Comeback, und das schon seit einigen Jahren, selbst im ganz großen Mainstream-Pop. Die R&B- und Popsängerin Rihanna holte sich bzeitweise den in der Gitarrenszene legendären Virtuosen Nuno Bettencourt als Tourgitarristen auf die Bühne, der mit seiner eigenen Band Extreme einst den großen Balladen-Hit „More than Words“ schrieb. Auch Pink oder Bruno Mars setzen live auf organische Sounds und Soli, um sich von ihren teils aalglatt produzierten Studioproduktionen abzusetzen und ihre Musik für ein breiteres, auch an Rock interessiertes Publikum attraktiver zu gestalten. Eine Strategie, die einst Michael Jackson perfektionierte, der in mehreren seiner Pophits als Farbtupfer ein zentrales Gitarrensolo einbaute, wie Eddie van Halens bei „Beat it“ oder Slashs bei „Give in to me“. Live sorgte seine langjährige Gitarristin Jennifer Batten mit ihrer blonden Mähne, bizarren Optik und der innovativen, an Van Halen angelehnten Tappingtechnik für die nötige Härte neben Jacksons butterweicher Popstimme.

Batten ist mittlerweile 61 Jahre alt. Sie gilt unter Gitarristen als Kultfigur, auch wenn die großen Erfolge mit dem King of Pop und Jeff Beck ein paar Jahre zurückliegen. Sie schwärmt von den „vielen jungen Innovativen“, die heutzutage allerdings eher in der Nische zu finden seien, vor allem bei Instagram und auf Youtube. „Mein Favorit ist Mateus Asato“, schreibt sie in einer Mail, ein Künstler, der auf Instagram populär ist, der habe einen „frischen Ton“. Batten war zu ihrer Zeit eine der wenigen weiblichen Gitarristinnen und insofern eine Art Rollenmodell, durchaus mit Erfolg: Laut einer Studie des Gitarrenherstellers Fender sollen angeblich mittlerweile die Hälfte der Gitarrenkäufer weiblich sein, zumindest gilt das für Britannien und die Vereinigten Staaten. Künstlerinnen wie Annie Clark, bekannt unter ihrem Künstlernamen St. Vincent, oder Orianthi, die übrigens Jennifer Batten bei Michael Jacksons geplanter, aber durch seinen frühen Tod nicht zustande gekommener Abschiedstour 2009 beerben sollte, sind heute die neuen weiblichen Rollenvorbilder. Der breitbeinge männliche Gitarrenhero hat in dieser Reihe ausgedient.

Ob diese neuen Vorbilder allerdings den Mainstream so erreichen wie es früher Slash, Eddie van Halen oder Jimmy Page getan haben, steht in den Sternen. Zwar sei die Gitarre seit rund 20 Jahren nach dem Klavier das zweitbeliebteste Instrument an deutschen Musikschulen, erklärt Dirk Mühlenhaus vom Verband deutscher Musikschulen. Trotzdem „scheint die Beliebtheit von E-Gitarre und E-Bass rückläufig“, ergänzt er. Das könnte daran liegen, dass die Welt heute reicher an hervorragenden Gitarristen ist als jemals zuvor, sie es aber seltener als früher aus ihren Nischen hinaus in den Mainstream schaffen. Dazu ist das Musikgeschäft zu verästelt geworden.

Fehlen also doch die großen Vorbilder? Vielleicht. Aber einem echtem Rockstar kann das tausendmal schnuppe sein: „Nimm die Klampfe, schreibe Songs für Dich, folge deiner Muse und schleime nicht dem Markt hinterher“, rät Carl Carlton jungen angehenden Gitarristen. Sonst hätte es nie einen „Robert Johnson, Muddy Waters, die Beatles, Stones und auch keinen Django Reinhardt gegeben.“ Und wohl auch keine Bilderbuch, Tash Sultana oder Jack White. Es gibt also wieder Hoffnung.

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