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Reden, nicht hassen!

Kommentar, erschienen bei FAZ.NET (27.03.2016)

Von Martin Benninghoff

Flüchtlingskrise und Islam: In diesem Jahr drängen politische Auseinandersetzungen ins Private wie lange nicht mehr. Gut so! Ein Kommentar.

Ostern, das ist ja vor allem ein Familienfest. Wenn am Ostersonntag die Verwandtschaft anrückt, im Keller die Torte kühlt steht und die Oma am Morgen noch schnell bunte Osterhasen hinterm Baum im Garten versteckt, damit die Enkel alsbald auf die Suche gehen können – dann riecht das alles nicht nur nach Frühling, sondern vor allem nach Harmonie.

In diesem Jahr allerdings drohen atmosphärische Störungen. Das Politische – die Flüchtlingsfrage und die islamistischen Anschläge von Brüssel –, drängt so stark ins Private wie schon lange nicht mehr. Die Frontlinien verlaufen quer durch die Kaffeetafeln und Wohnzimmer; selten war die Gesellschaft bis hinein in die Doppelhaushälften so polarisiert in der Frage, wie viel Einwanderung – und vor allem welche – gut für Europa sei.

Das hat etwas Gutes. Endlich besteht die Chance, die Unkultur des Verdrängens und der Sprachlosigkeit in der Debatte um Einwanderung und den Islam zu durchbrechen. Der Kloß, der manchen im Hals steckt, wann immer es um Zuwanderung geht, gehört geschluckt. Das könnte die Debatte versachlichen. Wo bislang die Emotionen regierten, könnte wieder Raum für Sachlichkeit und die Kraft der Argumente entstehen.

Die Sprachlosigkeit vieler bei der Frage, wie viel Einwanderung ein Land wie Deutschland verträgt, hat viel Schaden angerichtet: Der Sprachlose frisst Frust in sich hinein, was zu einer schleichenden Radikalisierung der Gedanken führen kann. Negative Gefühle und leidlich versteckte Aggression bestimmen das Denken und überdecken eine rationale Argumentation.

Die nötigen Differenzierungen gehen verloren

Mit üblen Folgen: Die Veränderung der Gesellschaft durch die Globalisierung und ihre immer massivere zeitliche Verdichtung werden pauschal „dem Fremden“ zur Last gelegt; den Einwanderern, den Muslimen, den Flüchtlingen. Die notwendige Unterscheidung zwischen problematischen Entwicklungen – der übersteigerten Religiosität mancher Muslime, den Problemen bei der Integration, der Gefahr der Radikalisierung bis hin zum Islamismus im Gegensatz zur positiven Entstehung eines modernen, europäisch geprägten Islam – geht in solchen Schwarz-Weiß-Debatten verloren.

Verantwortlich dafür ist ein Teufelskreis aus Sprachlosigkeit, dem Hang zum lauten Monologisieren bei gleichzeitigem Nichtzuhören, einem zunehmenden Fruststau und der steigenden Emotionalisierung der Debatte. Ergebnis: eine teils hassgeprägte Debattenunkultur, die uns in Deutschland seit einigen Jahren um die Ohren fliegt, und eine fortschreitende Polarisierung, die die Gesellschaft in zwei Teile zu reißen droht.

Dabei bahnt sich diese Entwicklung schon lange an. Nach meinem Studium 2006 arbeitete ich eine Weile für die damalige SPD-Bundestagsabgeordnete Lale Akgün. Das Besondere an ihr war nicht in erster Linie ihre europapolitische Arbeit im Parlament, sondern das, was sie war und wofür sie im Politikbetrieb stand. Akgün war eine der ersten türkischstämmigen Parlamentarierinnen im Bundestag und noch dazu  Muslimin, auch wenn sie selbst nicht praktizierend war und für eine strikte Trennung von Staat und Religion eintrat.

Trotzdem war die Kombination muslimisch und türkischstämmig für etliche Bürger schon eine pure Provokation. Manche schrieben hasserfüllte Mails und Briefe an das Bundestagsbüro, was weniger überraschte, weil derlei Beschimpfungen nicht erst seit Facebook immer häufiger werden. Viel bemerkenswerter waren die Klischees und die sprachlose Zurückweisung Akgüns in meinem Verwandten- und Bekanntenkreis. Selbst bei diesen – wie ich bis dahin dachte – aufgeklärten Mitmenschen dominierten negative Klischees über Einwanderer (selbst wenn diese, wie Akgün, schon seit Anfang der sechziger Jahre in Deutschland leben und selbst konservative Positionen wie Kritik am Kopftuch äußern).

Auf Schlagworte folgte Sprachlosigkeit

Nicht nur, dass manchen offenbar nicht mehr einfiel als „Ehrenmord“ oder „Parallelgesellschaft“, sobald die Rede auf Einwanderung kam. Schlimmer war die Sprachlosigkeit, die stets auf die Schlagworte folgte. Statt über die richtigen und falschen Ansätze in der Einwanderungspolitik zu debattieren, die Missstände klar zu benennen, aber auch die möglichen positiven Seiten der Migration für unsere Gesellschaft zu sehen, äußerten manche nur noch vage Mutmaßungen und Andeutungen – offenbar hatte ihnen der Kloß im Hals, den sie beim Thema Einwanderung verspürten, die Sprache verschlagen. Ich erinnere mich an einen Bekannten, der mir, nachdem zwei Bier die Zunge gelockert hatten, verschwörisch zuraunte: „Die Integration ist gescheitert.“ Triumphierender Blick. Ende der Diskussion.

Zu diesem Zeitpunkt war Deutschland de facto bereits ein Einwanderungsland und die Integration eben nicht auf ganzer Linie gescheitert, wie manche Schlagzeilen weismachen wollten. Viele im Land wollten das nur nicht wahrhaben, und manche in der Politik nutzten die Stimmen im Volk für ihre Zwecke. Im europäischen Ausland – in Frankreich, den Niederlanden, in Österreich und anderen Staaten – war der als Rechtspopulismus bemäntelte Rechtsextremismus schon längst im Parteienspektrum angekommen, alleine in Deutschland fehlte noch eine Partei, die solche Stimmen lautstark in die Debatte brachte. Die AfD war noch nicht geboren.

Aber auch ohne die AfD wurde das Thema Einwanderung, auf dem sich mit pragmatischen Weichenstellungen relativ viel erreichen lässt, weitgehend einer gefühlsgesteuerten Stimmungsmache überlassen, statt eine rationale, den Bedürfnissen von Einheimischen und Einwanderern zugewandte  Politik zu verfolgen. Migrationswissenschaftler waren merkwürdig still oder wurden nicht gehört. Mit dem Resultat, dass das Einwanderungsland Deutschland noch immer kein Einwanderungsland sein durfte, das die Dinge pragmatisch regelt – etwa mit einem sinnvollen Punktesystem zur Steuerung von Einwanderung oder einer klaren und unmissverständlichen Islampolitik, die zu unterscheiden wusste zwischen fortschrittlicher Theologie und dem vielerorts in Koranschulen verbreiteten Rückschrittislam, der den Nährboden für Extremismus bereitet.

Die Folgen waren kurios: Als die vom damaligen SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder eingesetzte und von der CDU-Politikerin Rita Süssmuth geleitete Kommission zur Steuerung von Zuwanderung 2001 ein Punktesystem zur Auswahl von Migranten nach ökonomischen Kriterien vorschlug, hielten die Konservativen in Politik und Gesellschaft dagegen, weil viele eine Punkteregelung für das Eingeständnis hielten, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei. Womit sie ja durchaus richtig lagen. Doch spätestens zu diesem Zeitpunkt hätten wir uns als Gesellschaft eingestehen müssen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Nur wer sich der Realität bewusst ist, kann die nötigen Weichenstellungen vornehmen.

Mit Sarrazin veränderte sich die Debatte

Doch die Debatte darüber blieb zunächst eine Debatte der politisch-publizistischen Eliten. Viele Normalbürger, die sich mit der real existierenden Einwanderungsgesellschaft und dem sich verändernden Status Quo nicht arrangieren konnten, fühlten sich nicht repräsentiert und blieben sprachlos – bis Thilo Sarrazin kam. 2010 avancierte der ehemalige Bundesbankvorstand und SPD-Politiker mit seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ zum Stichwortgeber und Stellvertreter-Aussprecher für die Sprachlosen im Land. Endlich einer, der die Probleme anspreche, dachten und äußerten sich viele. Sarrazins Buch wurde deshalb zum Bestseller, weil es für viele stellvertretend zum Ablassventil wurde, um den Frust zumindest kurzzeitig loszuwerden.

Die Einwanderungsdiskussion war nach Sarrazin eine andere, die Dämme des Schweigens erhielten erste Risse. Auch in meinem weiteren Bekanntenkreis trauten sich nun manche, bei Facebook oder anderswo Partei für Sarrazin zu ergreifen. Aber vorsichtig, denn noch immer herrschte die Angst, in eine rechte Ecke gestellt zu werden. Einige posteten den Vorabdruck von Sarrazins Buch, kommentierten diesen aber nur zurückhaltend oder gar nicht.

Mit der Flüchtlingspolitik, die die deutsche Einwanderungsdebatte seit 2015 dominiert, brachen dann endgültig die Dämme. Die Grenzen zwischen den berechtigten Sorgen über die Aufnahme- und Integrationskapazität der Kommunen und irrationalen Fremdenängsten verwischten. Mit den Vorfällen an Silvester in Köln kulturalisierte sich die Debatte zunehmend – hatten manche zu „Sarrazin-Zeiten“ noch die angeblich mangelnde Integrationsbereitschaft der Türken beklagt, rückten nun arabischstämmige Einwanderer aus Nordafrika in den Fokus der Diskussion.

Und ich überlegte erstmals, ob ich bei Facebook nicht dringend einige Bekannten „entfreunden“ müsste. Einer fing plötzlich an, tendenziöse Zeitungsartikel zu posten, verlinkte Hetzartikel über angebliche Verbote von Schweinefleisch in Schulkantinen, über Muslime, die blonde Frauen bedrängten oder Weihnachtsmärkte, die angeblich umbenannt werden sollten, weil sich Muslime gestört fühlten von christlichen Veranstaltungen.

„No go areas in deutschen Kleinstädten?“

Das war zwar alles erlogen oder hatte ganz andere Gründe,aber er nahm die Hetzgeschichten grundsätzlich für bare Münze. Anderen merkte man ihr neues Vokabular des Hasses an, das sie auf rechtsextremen Internetseiten wie „Politically Incorrect“ aufgesaugt hatten, „Kulturbereicherer“ für Muslime zum Beispiel. Einer behauptete, in seiner Kleinstadt nicht mehr sicher auf die Straße gehen zu können und Angst um seine Kinder zu haben. Auch das ein Märchen zwar, aber ein wirkmächtiges, das die Behauptungen der AfD fortführte, in deutschen Städten wie Bergkamen gebe es „no go areas“.

Durch die Flüchtlingsdebatte, die rechtspopulistische Stimmungsmache wie von der AfD und die sich häufenden islamistischen Anschläge wie zuletzt in Brüssel hat sich die Emotionalität der Debatte noch weiter aufgeheizt. Selbst eher analytische Typen argumentieren plötzlich völlig irrational, wenn es um Einwanderung geht – aber woher kommen diese Angst und diese Emotionalität? Der Kölner Psychoanalytiker Matthias Wellershoff hat neulich in der „Zeit“ berichtet, welche Motive ihm in seiner Praxis begegneten: Es seien eher die Ängstlichen und Depressiven, die sich in Abschottung und Sprachlosigkeit – und hinterher möglicherweise in Hass – flüchteten. Jene, die in der Unfähigkeit verharrten, „aus einem vorgefertigten Leben mit mutigen Entscheidungen“ ihr eigenes Leben zu machen. Deren Inseln der Abschottung – das Private, die Kleinstadt und die griechische Urlaubsinsel – werden in der Flüchtlingskrise erstmals direkt mit der Globalisierung und ihren Schattenseiten wie der Armuts- und Fluchtmigration konfrontiert. Für viele ist das eine Zumutung. Menschen, die sich in ihrem Leben ohnehin ohnmächtig und den Dingen ausgeliefert fühlen, neigen entsprechend stärker als andere dazu, sich angesichts der neuen Herausforderungen noch hilfloser und ungeschützter zu fühlen.

Das passt auch zu den Erkenntnissen über den durchschnittlichen Pegida-Demonstranten: Es sind ja nicht ausschließlich die real Abgehängten, die ihre Angstgefühle in einen Zorn auf „das Fremde“ projizieren; es sind Teile der Mittelschicht, die Angst vor dem Abstieg haben, die ihr Leben lang Erwartungen erfüllt, ihr Häuschen zusammengespart, aber stets auch das Risiko gescheut haben. Unternehmertypen, die Erfolg und Niederlage kennen, ohne in Depressivität und Passivität zu verharren, darauf macht auch der Psychoanalytiker Wellershoff aufmerksam, werden für die Angstparolen der AfD weniger anfällig sein.

Was die Frage nach den psychologischen Ursachen für Fremdenfeindlichkeit und den Gegenmaßnahmen aufwirft: Reicht es aus, Ungleichheit ökonomisch auszutarieren, um Konkurrenzgefühle der einheimischen Bevölkerung gegenüber Flüchtlingen zu vermeiden? Wohl kaum, da die ökonomische Sicherheit der Mittelschicht offenbar eben nicht ausreichend gegen Fremdenfeindlichkeit imprägniert. Im Gegenteil: Wer hat, der hat auch Angst – vor Verlust. Machen Flüchtlinge, die um ihr Leben kämpfen, auch deshalb Angst, weil die Arrivierten um nichts (mehr) kämpfen müssen? Macht der Islam auch deshalb Angst, weil die anderen mit Glauben nichts mehr am Hut haben?

Demokratie bietet nicht allen genügend Identität

Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama weist darauf hin, dass die liberale Demokratie zwar Wohlstand und Sicherheit biete, aber deshalb noch lange keine Identität stifte. Und um Identität geht es ja immer, wenn von Einwanderung die Rede ist. Die Nation bildet da für manchen einen Rettungsanker, der Stolz, Halt und ein Gemeinschaftsgefühl gibt; psychisch stabilisiert durch eine Abgrenzung gegen das Andere, das Fremde. So wie für andere – ob Migrant oder nicht – der Salafismus eine Flucht zur Selbstwertstabilisierung ist. Sie holen sich dort ihre Identität, wo wir es als Gesellschaft nicht vermögen, ihnen genügend Halt zu geben.

Die Frage bleibt, was tun? Zunächst einmal sollten wir die psychologischen Ursachen der zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft in den Blick nehmen – und eine ernsthafte Auseinandersetzung suchen, die sich nicht in Schlagworten, Monologen oder gar Sprachlosigkeit erschöpft. Bislang habe ich deshalb kaum jemanden bei Facebook entfreundet. Eine Verweigerungshaltung, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, verschärft nur die Polarisierung. Und sollte ich bei Partys künftig wieder fremdenfeindliche Sprüche hören, werde ich die Diskussion suchen. Für Oster-Harmonie bleibt in Zukunft noch genügend Zeit.

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