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Religionskritiker, kommt aus Euren Löchern!

Kolumne GRENZGÄNGER bei OPINION CLUB (08.07.2015)

Von Martin Benninghoff

Weltweit hauen sich die Religiösen und solche, die es vorgeben zu sein, die Köpfe ein. Trotzdem ist es um die Religionskritik merkwürdig ruhig geworden. Zeit, aus der Defensive zu kommen.

Es ist ja immer schwer vorauszusehen, wie die Historiker eines Tages auf unsere Epoche blicken werden. Wahrscheinlich werden sie sich verwundert die Augen reiben und fragen: Warum eigentlich waren die Religionskritiker so leise in einer Zeit, in der im Namen der Religion so viele Menschen umgebracht wurden? Ehrlich gesagt, das ist ja auch aus heutiger Sicht kaum zu verstehen.

Natürlich herrscht kurzzeitig Betroffenheit, wenn eine französische Satiremagazinredaktion zusammengeschossen wird. Wütet ein wildgewordener Attentäter an einem Urlauberstrand, dann hat das Nachrichtenwert, und vor allem die Reisekonzerne bangen um ihre Vorausbuchungen. Wenn „Boko Haram“ in Nigeria Hunderte Menschen niedermetzelt, ist das medial kaum noch der Rede wert, geschweige denn von lokalen Folterungen und Anschlägen von Fanatikern. Hier und da eine Meldung, eine Bilderstrecke. Danach kehrt wieder Ruhe ein.

Offenbar sind wir gelähmt und eingeschläfert, wenn es um Religion geht. Für die meisten Europäer spielt Religion keine nennenswerte Rolle mehr. Wir sind ohnehin so konsensorientiert und in Watte gepackt wie kaum eine andere Generation. Das ist ein positives Zeichen, weil es die natürliche Folge unseres ungemeinen Wohlstandes beschreibt. Aber die Lethargie, der Eskapismus ins Privatleben und Konsum, ist zugleich der falsche Gemütszustand, wenn es darum geht, Fanatismus zu bekämpfen. Fanatismus kann nur mit Entschlossenheit bekämpft werden!

Der Fanatismus ist keine ethnische Sache. Fanatismus entsteht durch Ideologie, und Religion, sollte sie nicht bloße private Beglückung sein, pervertiert häufig zu Ideologie. Das Christentum geriet über Jahrhunderte zu einer Ideologie der Unterdrückung, Kolonialisierung und Gewalt. In Afrika ist der christliche Fundamentalismus mit seiner Homophobie und seiner Menschenfeindlichkeit zurzeit ein wachsendes Problem. Er steht dort in blutiger Konkurrenz zu einem pervertierten Islam, der in Form der selbsternannten Gotteskrieger des „Islamischen Staates“ Angst und Schrecken verbreitet (das tut er vor allem im Nahen Osten).

Säkularisierte Lethargie
Wir in den säkularisierten, lethargischen und religionsmüden europäischen Staaten reagieren auf diese Bedrohung mit zwei untauglichen Mitteln: Abschottung und Abwehr können in einer globalisierten und migrierenden Welt nicht funktionieren, sind nicht wünschenswert. Natürlich bringen manche Flüchtlinge Wertvorstellungen eines radikalisierten Islam mit nach Mitteleuropa. Aber deshalb Flüchtlinge insgesamt abzulehnen, würde bedeuten, auf die vielen Vorzüge der jungen, kreativen und ehrgeizigen Migranten zu verzichten, um die anderen gar nicht erst ins Land zu lassen. Als Einwanderungsländer sind wir stärker und (kulturell und finanziell) wohlhabender geworden – Deutschland ist hierfür das beste Beispiel. Das dümmliche Muslime-Bashing trifft alle Muslime, am wenigsten aber Salafisten.

Das zweite untaugliche Mittel ist der Versuch, die Religionen der Einwanderer ins deutsche Modell zu pressen und gleichsam zu domestizieren. Der islamische Bekenntnisunterricht in Schulen ist ein konkretes Beispiel dafür, ein anderes Beispiel ist der Versuch, der Vielfalt an islamischen Strömungen einen möglichst einheitlichen Ansprechpartner zu verpassen, damit der Staat weiß, mit wem er redet, und die Muslime die gleichen Pflichten und Rechte wie die Kirchen bekommen – zum Beispiel zum Kirchensteuereinzug.

Der religionsfreundliche, vor allem auf die beiden großen christlichen Kirchen zugeschnittene deutsche Staat stößt damit jetzt schon erkennbar an die Grenzen. Der Islam kann von seiner Verfasstheit nicht wirksam in die Kirchenform gepresst werden. Für andere Religionen gilt das ebenso. Und der Versuch, Jugendliche mit theologischem Wissen vollzupumpen, um sie gegen die Perversionen der Radikalen zu imprägnieren, ist honorig, wird aber auch nicht das Problem der weltweit zunehmenden Fanatisierung lösen.

Religiöse glauben häufig, sie könnten dem religiösen Fanatismus mit noch mehr Religiosität wirksam begegnen. Zurück zu den Wurzeln und Traditionen. Das ist ein Irrglaube, wenn man bedenkt, dass Religion sehr leicht zu Ideologie mit einzigem Wahrheitsanspruch mutiert. Am selbst ernannten „Islamischen Staat“ sehen wir exemplarisch, dass eine angeblich religiöse Gruppe weitgehend inhaltsleer agieren kann – bei der Mördergruppe der „Boko Haram“ ist das noch deutlicher zu beobachten. Es wäre ein nicht annehmbares Risiko, gegen irrationale Ideologie einzig mit der Kraft der theologischen Überzeugung vorzugehen. Ideologie ist Emotion, und die lässt sich nicht nur mit Verstand und Wissenschaft konterkarieren.

Blanke Gewalt und Menschenverachtung maskieren sich als Frommheit, und es lassen sich im Koran Zitate finden, die Gewalt legitimieren können. Genauso finden sich allerdings auch Zitate, die Frieden und Gewaltlosigkeit predigen. Die Formel „Das hat nichts mit dem Islam“ zu tun ist insofern halb richtig und halb falsch: Die Ideologie der Gewalt kann sich aus dem Koran speisen, sie kann sich auch aus der Bibel speisen. Ebenso kann der Exeget jedoch auch Frieden aus beiden Schriften herauslesen. Insgesamt ist es ein intellektuell anspruchsvolles Unterfangen, Religion friedlich zu interpretieren. Würden wir Menschen dazu immer in der Lage sein, dann wäre Religion eine tolle Sache. Die Geschichte lehrt aber leider das Gegenteil.

Der Punkt ist, dass ein bisschen Religionsunterricht ein zu schwaches Mittel ist, um der vollen Wucht von Ideologie zu begegnen. Der „Islamische Staat“ ist viel eher mit einer globalen Rote-Armee-Fraktion, einer weltweiten maoistischen Rote-Khmer-Fraktion oder einer transnationalen SS zu vergleichen als mit einer frommen Gruppe. Heilsversprechen und eine Rhetorik des Klassenkampfes gehen zusammen mit einer für manche offenbar attraktiv erscheinenden Befreiungsideologie.

Pizzakurier oder Abenteurer?
Die Mischung verfängt auch bei manchem Jugendlichen in Deutschland: Mit schwarzer Fahne auf einem Panzer sitzen, jawohl, sich einmal im Leben wie ein „richtiger Mann“ fühlen – der „IS“ weiß, welche Propagandavideos bei jungen Männern wirken, die, sagen wir, in Dinslaken hocken und die Wahl haben zwischen einem langweiligen Leben als Pizzaausfahrer oder einem vermeintlichen Abenteuer als Kriegsheld im „Befreiungskampf“. Bei jungen Frauen verfängt diese Art der Propaganda ebenso. Die Enttäuschung folgt natürlich spätestens im Kriegsgebiet.

Es reicht nicht, eine Trennung von Staat und Religion in Europa zu fordern – das ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung. Wir müssen darauf achten, dass unsere wohlgenährten Friedensgesellschaften gerade für junge Leute genügend Sinn produzieren. Zweifellos ist das ein Vorzug und vielleicht sogar ein Verdienst von Religion: Sinnproduktion. Wenn Religion unwichtiger wird, dann muss das Sinn-Vakuum gefüllt werden. Mit Perspektiven und viel Futter für die Seelen. Der größte Fehler des laizistischen Frankreich ist deshalb, die ärmeren Jugendlichen in den Ghettos der Vorstädte versauern zu lassen, wo es keinerlei Perspektive gibt, keinerlei Sinn-Angebot.

An etwas zu glauben ist eine wichtige Grundkonstante im Leben. In der Vergangenheit rückten an die Stelle des Gottesglaubens häufig weltliche Götter, die sich erst recht als Barbaren entpuppt haben: Stalin, Mao, Pol Pot, Hitler. Religiöse Ideologie ersetzt man nicht durch weltliche Ideologie. An die Stelle sollten besser Humanismus, Demokratie und Menschenrechte treten. Wenn ein Historiker wie Heinrich-August Winkler von einem „Projekt des Westens“ spricht, wird ihm häufig Eurozentrismus vorgeworfen. Andererseits ist es genau das, was wir brauchen: eine normative Haltung zur Verteidigung und, mehr offensiv als defensiv, zur Bewerbung der in Europa entstandenen Werte von Demokratie und solidarischem Individualismus.

Das Problem ist nur, dass diese Werte in der Abstraktion natürlich nicht bei den Jugendlichen in Dinslaken verfangen. Sie müssen stärker runtergebrochen werden auf den Alltag der Menschen, sie müssen cool sein, sie sollten das Selbstbild aufbauen und stärken. Wenn junge Menschen etwas tun, mit dem sie die Welt verbessern können – sei es, sie kümmern sich um Flüchtlinge, bekämpfen Rassismus oder entwickeln ein Produkt, mit dem sich Umweltschäden beseitigen lassen -, dann werden die religiösen Fanatiker bei ihnen keine Chance mehr haben. Leichter gesagt als getan. Aber wenn’s der Schlüssel zum Erfolg ist, dann fangen wir lieber heute als morgen an.

Martin Benninghoff ist Journalist in Berlin und Redakteur bei „Günther Jauch“. Seine OC-Kolumne “Grenzgänger” erscheint normalerweise jeden zweiten Mittwoch. Ausnahmsweise erscheint die nächste Kolumne erst wieder Mitte August.

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